Jugendlichen fehlt Bezug zum Holocaust – Jude neues „Mode-Schimpfwort“

M ü n c h e n (PRO) - Bei dem Versuch, ihren Schülern das Grauen des Holocaust zu vermitteln, stoßen viele Lehrer an ihre Grenzen. Der fehlende Bezug vieler Jugendlicher zu Tätern und Opfern ist dabei noch das geringste Problem. Laut dem Magazin "Focus Schule" ist "Jude" mittlerweile wieder ein beliebtes Schimpfwort unter Kindern. Und in vielen europäischen Ländern werden Lehrer sogar von ihren muslimischen Schülern bedroht, wenn sie die NS-Zeit durchnehmen wollen.
Von PRO

In Ostdeutschland seien Rechtsradikalismus und Antisemitismus inzwischen so weit verbreitet, dass viele Kollegen das Thema Holocaust meiden, zitiert „Focus Schule“-Autorin Petra Thorbrietz eine Lehrerin aus Südthüringen. Und Gottfried Kößler vom Fritz-Bauer-Institut, dem deutschen Zentrum für Holocaust- Forschung, erklärte gegenüber der Journalistin: „Das Wort ‚Jude‘ ist in Ost und West wieder ein beliebtes Schimpfwort unter Kindern – genauso wie ‚Opfer‘.“

Die gleiche Beobachtung machten Experten bereits Ende 2006 nach verschieden antisemitischen Übergriffen von Schülern in Berlin und Sachsen-Anhalt. In einem der Fälle waren zwei jüdische Mädchen von Mitschülern über Monate hinweg beschimpft und geschlagen worden. Das Nachrichten-Portal „Spiegel Online“ zitierte damals einen Mitarbeiter des Berliner Projekts „Bildungsbausteine gegen Antisemitismus“ mit den Worten: „Das Wort ‚Jude‘ wird von Schülern zunehmend abfällig benutzt, und auf der Hitliste der Schimpfwörter ist es weit nach oben geklettert.“

Damit werde jedoch, anders als früher, keine antisemitische Gesinnung ausgedrückt, sagte Gottfried Kößler vom Fritz-Bauer-Institut gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur KNA. Das Wort „Jude“ werde vielmehr benutzt, um den Beschimpften als Opfer abzustempeln. Der Sprachgebrauch der Jugendlichen zeige symptomatisch die einseitige Wahrnehmung von Juden in der Gesellschaft, so Kößler. Juden würden fast ausschließlich als Opfer dargestellt.

Muslimische Schüler beschimpfen Lehrer

Völlig neue Probleme werfe auch die Tatsache auf, dass – je nach Schultyp und Region – jeder dritte bis fünfte Jugendliche aus eingewanderten Familien stamme, schreibt „Focus Schule“-Autorin Thorbrietz weiter. Viele dieser Kinder wüssten nur wenig über den Nationalsozialismus. Auch der aktuelle Israel-Palästina-Konflikt verzerre immer wieder die Perspektive: „In Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden“, so der Lehrer Robert Sigel gegenüber der Journalistin, „weigern sich bereits Lehrer, das NS-Reich durchzunehmen, weil sie sofort von den muslimischen Schülern bedroht oder beschimpft werden“. Sigel betreute eine noch unveröffentlichte Studie der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit zum Thema Holocaust im Unterricht.

„Migrantenkinder haben teilweise mehr Verständnis“

Die Studie habe jedoch auch ergeben, dass Migrantenkinder kein geringeres Interesse an dem Thema NS-Zeit hätten, sagt Sigel im Interview mit „Focus Online“. „Im Gegenteil. Manche von ihnen haben sogar mehr Verständnis, weil sie Rassendiskriminierung, religiöse Intoleranz, Völkermord und Vertreibung aus eigener Anschauung oder aus der Geschichte ihrer Familien kennen.“

Fehlender persönlicher Bezug

Die Experten sind sich darüber einig, dass Jugendliche trotz dieser Phänomene Interesse an dem Thema Holocaust hätten, schreibt Thorbrietz. Vielen Schülern falle es allerdings schwer, sich in die Vergangenheit zu versetzen. In der Studie der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit werde beispielsweise eine Lehrerin mit den Worten zitiert: „Da standen wir im KZ vor den Öfen des Krematoriums, und die Jugendlichen fragten, über welche Leitungen das Gas wieder ausgeleitet wurde“. Und ein 84-jähriger Holocaust-Überlebender sei in einer Dresdner Schulklasse höflich gefragt worden, ob er denn nicht im KZ „auch irgendwie Spaß hatte“, so Thorbrietz.

„Jugendliche haben einen eigenen Zugang zum Thema Holocaust“

Robert Sigel ist Lehrer an einem Dachauer Gymnasium und Gedenkstättenpädagoge. Er hat die Studie der Bayerischen Landeszentrale betreut. In einem Interview mit dem Nachrichten-Portal „Focus Online“ rät er Kollegen, nicht enttäuscht zu sein, wenn „ihre Schüler nicht schweigend und voller Anteilnahme durch eine Gedenkstätte laufen, wenn sie scheinbar die Dimension des Schreckens nicht sehen. Aber dass mal gelacht oder geschwätzt wird, heißt noch lange nicht, dass die Jugendlichen kein Interesse haben, dass sie nicht berührt sind. Sie haben einen eigenen Zugang, den muss man freilegen.“

„Frontale Überzeugungsarbeit ist der falsche Weg“

Das Grauen zu steigern sei dabei der falsche Weg, glaubt Susanne Urban von der Europäischen Sektion der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Dadurch würden Juden nur immer wieder als Opfer von Erniedrigung und Vernichtung dargestellt. Gegenüber „Focus Schule“ kritisiert sie zweifelhafte Experimente im Unterricht. So habe eine Lehrerin ihre Kinder dazu aufgefordert, sich eine halbe Stunde lang still in ein dunkles Zimmer zu setzen, erzählt Urban. Eine andere hatte ihre Schulklasse nach der Rassenlehre kategorisiert. Die Pädagogin wollte damit demonstrieren, wie leicht man auf Grund von äußerlichen Merkmalen diskriminiert werden könne.

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