Jugendliche lassen sich vom TV täuschen

Jeder sechste Jugendliche hält Inhalte von Formaten wie „Berlin Tag und Nacht“ für echt. Deshalb hat der TV-Moderator Jörg Pilawa in Berlin eine Kennzeichnungspflicht für solche Scripted Reality-Formate gefordert.
Von PRO
Jörg Pilawa fordert: Wo Scripted Reality drin ist, muss auch Scripted Reality draufstehen
Pilawa nannte den Umgang mit modernen Medien die „größte Herausforderung“ der heutigen Zeit. Ihm selbst falle es oft schwer, zu verstehen, was seine Kinder da täten. Der vierfache Vater forderte eine Kennzeichnungspflicht für Scripted Reality-Formate, Sendungen also, die frei erfunden sind, aber den Anschein erwecken sollen, es handle sich um Dokumentationen. Die Produzenten sollten von vornherein klarstellen, dass es sich bei dem Gezeigten um Fiktion handele, forderte Pilawa. Der Moderator ist Botschafter der Initiative „Schau hin!“, die sich seit zehn Jahren für die Förderung von Medienkompetenz einsetzt. Am Dienstag hatte sie zu einer Tagung nach Berlin eingeladen. Die TV-Moderatorin Gundula Gause erklärte, das Erwachsenwerden habe sich in den vergangenen zwanzig Jahren massiv verändert. Sie sieht einen „großen Handlungsbedarf“. Gerade, wenn Medien in bestimmten Familien eine „Babysitterfunktion“ übernähmen, sei nur zu hoffen, dass die Kinder sich mit guten Inhalten beschäftigten. „In erster Linie sind die Eltern gefragt“, sagte sie.

Jeder sechste hält Inhalte von „Berlin Tag und Nacht“ für echt

Der Leiter der SWR-Medienforschung, Walter Klingler, stellte die aktuellsten Ergebnisse der repräsentativen JIM-Studie vor, die das Medienverhalten Jugendlicher untersucht. Demnach hält jeder sechste Mensch zwischen 12 und 19 Jahren die Inhalten und Protagonisten der Sendung „Berlin Tag und Nacht“ für real. Die Zahlen werden größer, je jünger die Befragten sind und je niedriger ihr angestrebter Schulabschluss ist. „Das macht nachdenklich“, kommentierte Klingler. Die Studie gibt auch Aufschluss darüber, wie junge Leute heute Medien nutzen. Demnach verfügen 88 Prozent der 12- bis 19-Jährigen über einen persönlichen Internetzugang. Entsprechend häufig wird dieser genutzt. So schauen junge Menschen heute etwas seltener TV als noch vor zehn Jahren, sind aber wesentlich häufiger online. 2003 nutzten noch knapp über die Hälfte der Jugendlichen das Netz, derzeit sind es fast 90 Prozent. Nach wie vor lesen aber auch rund 40 Prozent Bücher. Rasant angestiegen ist die Nutzung von Smartphones. 2006 gingen noch fünf Prozent der jungen Menschen über ein solches Gerät online, mittlerweile sind es 73 Prozent. In diesem Zeitraum hat sich die tägliche Zeit, die sie im Netz verbringen, auf drei Stunden verdoppelt. Wer online unterwegs ist, nutzt diese Zeit in der Hälfte aller Fälle zur Kommunikation via Chats oder Massenger. Jeder vierte Befragte hört Musik oder sieht sich Bilder und Videos an. Nur rund jeder Sechste spielt online.

„Es gibt ein Leben jenseits des Internets“

Auch wenn junge Menschen mehr Zeit im Internet verbringen, vernachlässigen sie Offline-Aktivitäten nicht. Konstant engagieren sich rund 20 Prozent in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, etwa 60 Prozent im Sportverein. Zeit mit der Familie verbringen die Befragten heute sogar mehr, jeder Dritte gibt an, regelmäßig mit den Angehörigen unterwegs zu sein. „Es gibt ein Leben jenseits des Internets“, stellte Klingler fest. Der Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Lutz Stroppe, betonte, das Netz biete Jugendlichen zu allererst die große Chance, sich fortzubilden. Es sei ein Fortschritt, dass die Politik heute nicht mehr über Netzregulierungen diskutiere, sondern dies den Erziehungsberechtigten selbst überlasse, etwa, indem sie Schutzprogramme auf den Rechnern ihrer Kinder installierten. Kritisch äußerte er sich zu TV-Formaten wie der „Super Nanny“ oder „Die strengsten Eltern der Welt“. Mehrmals habe das Ministerium wegen dieser Sendungen bereits Gespräche mit den Sendern geführt. Unter anderem zeigte er sich besorgt, was die Folgen für die Kinder, die in diesen Formaten auftauchen, angeht. „Die gehen ja auch wieder ganz normal zu Schule, nachdem sie im Fernsehen zu sehen waren“, erklärte er. Oft sei in solchen Fällen eine intensive Nachsorge notwendig.

„Berlin Tag und Nacht“ vermittelt Werte

Felix Wesseler, Sprecher der Film-Produktionsfirma „Filmpool Entertainment“, verteidigte die von seinem Haus produzierten Sendungen: „Berlin Tag und Nacht“ vermittle Werte wie Freundschaft. Zudem gehe aus dem Abspann klar hervor, dass die Handlung erfunden sei. Die meisten Jugendlichen könnten nachvollziehen, was real und was nicht real sei, ist er überzeugt. Vorbei seien die Zeiten, in denen nur „Reiche und Schöne“ im TV zu sehen gewesen seien. „Berlin Tag und Nacht“ zeige das Leben, wie es ist. Die Medienforscherin Petra Grimm kritisierte unter anderem die Fortführung der Sendung via Soziale Medien. So haben die Akteure der Sendung Facebook-Profile und posteten auf ihren Seiten Bilder und Statements im Namen der fiktiven Sendungscharaktere. Hier verschwimme die Grenze zwischen Realität und Fiktion einmal mehr. Jugendiche könnten oft nicht mehr zwischen beidem unterscheiden. Für kritikwürdig hält sie auch, dass gerade die weiblichen Protagonisten oft knapp bekleidet zu sehen seien und allzu häufig über Schönheitsoperationen und ähnliches sprächen. Grimm sieht darin eine latente Frauenfeindlichkeit. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/fernsehen/detailansicht/aktuell/emscripted-realityem-taeuschung-als-geschaeftsmodell/
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