Jugend 2007: Zwischen Lebensangst und Konsumkoma

Gefühle der Ohnmacht und Sinnleere prägen den Alltag der heutigen Jugendlichen. Sie wissen nicht, wozu sie in unserer Gesellschaft gebraucht werden und schwanken zwischen digitalen Idealbildern und der Angst vor einem Abgleiten in ein Hartz IV-Schicksal. Zu diesen Erkenntnissen kam die Jugendstudie 2007, die der Axel-Springer-Verlag bei dem Institut Rheingold in Auftrag gegeben hatte. Das Kölner Institut erstellt psychologische Markt- und Medienanalysen. Pro-Redakteurin Ellen Nieswiodek-Martin sprach mit dem Psychologen und vierfachen Vater Stephan Grünewald, einem der Autoren der Studie und Mitbegründer des Rheingold Institutes.
Von PRO

Herr Grünewald, Sie sprechen in der Auswertung der Jugendstudie 2007 von alarmierenden Befunden. Danach stecken die 12- bis 17-Jährigen in einem Lebensdilemma ohne Zukunftsvisionen und Perspektive. Ihr Alltag sei geprägt durch Gefühle der Ohnmacht und des Alleinseins. Damit zeichnen Sie ein düsteres Bild.

Ja, tatsächlich ist es alarmierend, dass die Jugendlichen hin und her pendeln zwischen einem paradiesischen Versorgungsparadies, in dem ihnen die Eltern jeden Wunsch erfüllen. Der Umgang mit den Eltern ist partnerschaftlich, sie setzen wenig Grenzen. Ein typischer Traum der Altersgruppe ist es, einmal Superstar zu werden. Von diesem Traum kippen sie dann innerhalb weniger Minuten in einen Abgrund, in dem die Teenager Angst vor der Zukunft äußern und fürchten, ihnen blühe ein Hartz IV-Schicksal. Sie haben das Gefühl, ins Leere zu fallen und beschreiben, dass die Eltern ihnen nicht zuhören und sich nicht mit ihnen auseinander setzen.

Wie kommt es zu diesen extremen Positionen?

Die Jugendlichen leben in einer Gesellschaft, in der ihnen nicht zuletzt durch die Medien scheinbar viele Möglichkeiten geboten werden. Es geht ihnen gut, aber sie spüren, dass ihnen etwas fehlt. Sie merken, das die Kehrseite der Versorgtheit eine gigantische Gleichgültigkeit ist. Die pubertäre Revolte, die ihnen hilft, sich auf etwas Eigenes zu besinnen oder Zukunftsutopien zu entwickeln, haben sie überhaupt nicht. Sie wissen nicht, wofür sie in der Gesellschaft gebraucht werden und spüren ein Sinn-Vakuum.

Sie bezeichnen die 12- bis 17-Jährigen als „Generation Kuschel“.

Frühere Generationen haben Halt in einer Ideologie oder anderen Werten gefunden, dann kam die Spaßgesellschaft der 90er Jahre. Diese endete spätestens am 11. September 2001. Die Generation Anfang dieses Jahrtausends sucht den Halt in sozialen Bindungsgeflechten. Für die „Generation Kuschel“ sind Beziehungen das Wichtigste. Sie passen sich an, um mit allen gut auszukommen und versuchen, ihre Lebensangst mit Bindungsgeflechten zu beschwichtigen.

Das ist ja eigentlich nichts Schlechtes. Wie sieht das praktisch aus?

Das Handy gehört zu dieser Generation. Es sorgt für die Kontaktmaximierung und fungiert wie ein Babyphon für Heranwachsende. Wenn man sich einsam fühlt, kann man jederzeit Kontakt aufnehmen.

Kommt dadurch der Boom der Communities und Internet-Tagebücher?

Ja, das Internet ist ein Zufluchtsort der Jugendlichen. Netzwerk und Communities sind ganz wichtig in der virtuellen Gesellschaft. Für die jungen Leute ist das Gefühl unerträglich, auf sich alleine gestellt zu sein. Das macht ihnen Angst, sie könnten aus der Welt herausfallen.

Jede Generation hatte ihre eigene Themen. Warum finden Sie diese so beunruhigend?

Die Jugendlichen sind ständig auf der Suche nach Events, Süßigkeiten, Freunden und medialen Angeboten, die sie beruhigen und ausfüllen. Ein Kreuzzug gegen Langeweile mit Mp3-Playern als Ohrenschnullern und Messengersystemen als Nabelschnur zum Bindungsbiotop. Das ist Dauerbefütterung bis zum Konsumkoma ohne verbindliche Orientierung.

Ihre Erkenntnisse stammen aus morphologischen Tiefeninterviews mit den Jugendlichen und in Gruppengesprächen. Wie kann ich mir ein solches Tiefeninterview vorstellen?

Wir arbeiten nach einem tiefenpsychologischen Konzept: Dabei liegt ein Jugendlicher auf der Couch, und der Interviewpartner gibt ihm Stichworte vor, zu denen dieser aus seiner Erlebenswelt erzählt. Der Psychologe wertet dann später im Gesamtzusammenhang aus, was der Proband erzählt.

Sie sprechen davon, dass Computerspiele das Marihuana der heutigen Jugend sind. Wie meinen Sie das?

Computerspiele sind auch ein Mittel der kollektiven Ruhigstellung. Eltern haben ruhige Kinder, es entstehen keine Konflikte. Jeder bleibt für sich, drückt auf eine Taste und schwupp, verspürt er eine Reaktion. Aber es fehlt die Auseinandersetzung mit der Welt. Es ist ein narzisstisches Auf-sich-zurückgeworfen-Sein.

Flucht in digitale Lebensideale

Sie beschreiben Erwachsene, die sich tagsüber rastlos im Hamsterrad abplagen und abends in ein simuliertes Leben fliehen mit dem Fernsehen als „Stimmungsapotheke“. Woher kommt diese Einschätzung?

Auch die Erwachsenen verfolgen keine großen Ziele mehr – weder religiöser noch ideologischer Natur. Sie flüchten stattdessen in ein digitales Lebensideal. Dabei wollen sie Abnutzungserscheinungen wie Krankheit, Alter und Tod umgehen und lieber von Höhepunkt zu Höhepunkt springen. Die Leute haben das Gefühl, dass das normale Alltagsleben eine „Betriebsstörung“ ist, es enthält ihnen etwas vor, das ihnen zusteht. Den wundervollen Glanz, den ich mir ersehne, erreicht dieses Leben nicht. Im digitalen Paradies kann ich einen perfekten Körper herstellen, alles ist machbar, ich kann mich per Tastenklick in die Stimmung bringen, die ich gerade haben will. Dadurch wird meine Duldsamkeit gegenüber der Hinlänglichkeit des Lebens geringer. Ich habe das in meinem Buch „Deutschland auf der Couch“ genauer beschrieben.

Dieses Phänomen betrifft dann die Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Das könnte ja zu guten Beziehungen zwischen Jugendlichen und Eltern führen. Warum funktioniert das nicht?

Die Bereitschaft der Erwachsenen, sich auseinander zu setzen, um einen Sinn zu ringen, sich mit den eigenen Kindern abzumühen, ist viel geringer, als es noch vor 30 Jahren der Fall war. Also fehlt den Jugendlichen ein echter Partner zur Auseinandersetzung.

Also sind die Erwachsenen der Auslöser dieser Entwicklung, weil sie auf diese Art den Generationskonflikt verhindern?

Kinder und Teenager sind nur die Symptomträger einer Gesellschaft oder einer Familie, das erleben wir zumindest in der Familientherapie oft. Die Eltern sind von einem digitalen Virus befallen, der im Alltag eine Art Ersatzreligion darstellt. Den Jugendlichen fehlt die Reibung, die Auseinandersetzung um die richtige Art zu leben. Da lahmt es. Der produktive Generationskonflikt als Entwicklungsmotor ist abgewürgt worden. Was dadurch der Gesellschaft an kreativer und produktiver Kraft entzogen wird, fließt in die Medienwelten hinein.

Viele Erwachsene wollen selbst jugendlich sein und reagieren eher verständnisvoll und tolerant?

Das ist die „Forever Young Ideologie“: Beispielsweise werden Väter selten väterlich, sie bleiben lieber selber jung, begegnen Kindern auf der Kinderebene. Statt Orientierung zu geben, wird die Kumpelbeziehung als Ideal dargestellt. Die Mutter will lieber mit den Kindern in die Disco gehen, als mit ihnen zu diskutieren.

Was empfehlen Sie den Eltern: wie sollen sie mit den Jugendlichen umgehen?

Jugendliche fordern von Erwachsenen und Medien vor allem Klartext. Daher ist Dieter Bohlen so beliebt. Er sagt solche Sachen: wenn du etwas werden willst, musst du dich anstrengen. Er sagt auch: du hast kein Talent für diesen Job. Diese klaren Ansagen schaffen Entwicklungsräume. Eltern neigen dazu, zu trösten und zu beschwichtigen, dabei sollten sie einen klaren eigenen Standpunkt formulieren, der den Teenagern die Möglichkeit gibt, einen Gegenstandpunkt zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass die Zeit geschaffen wird, um sich auseinander zu setzen. Natürlich würde das dazu führen, dass der Medienkonsum limitiert wird. Das gibt automatisch Konflikte, die wir dann lösen müssen. Der Kampf um die Regeln ist das Wichtige, denn dadurch kommt es zur produktiven Auseinandersetzung statt einer kollektiven Stilllegung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitbegründer des Institutes Rheingold. Er ist Vater von vier Kindern. Das Institut Rheingold hat seinen Sitz in Köln und arbeitet nach dem Prinzip der morphologischen Psychologie. Etwa 40-50 Verbraucher in Tiefeninterviews und Gruppengesprächen ermuntert, mit eigenen Worten alles zu beschreiben, was ihnen im Zusammenhang mit dem Thema einfällt. Für die Jugendstudie des Axel-Springer-Verlages wurden 40 Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren befragt. Die gemeinsame Projektleitung hatten Stephan Grünewald, Martina Hugger und Daniel Salber.

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