Kommentar

Jeder bekommt den Kirchentag, den er sich macht

Der Evangelische Kirchentag in Hannover hat begonnen. Wer will, kann dort über „queere Tiere“ auf der Arche sinnieren oder polyamoröse Liebe segnen lassen. Darüber kann man lächeln oder sich aufregen – und trotzdem ist das Christentreffen wertvoll.
Von Anna Lutz

Zugegeben, wir Protestanten haben es manchmal nicht leicht. Vor allem dann nicht, wenn es wieder einmal auf den Deutschen Evangelischen Kirchentag zugeht. Nun ist er gestartet und ich lese meine nichtchristlichen Bekannten auf Twitter, manche nennen es X, lachen über Veranstaltungen wie „Queere Tiere auf der Arche – Ein interaktiver Gottesdienst unterm Regenbogen“ oder „Von Schnabeltieren und genderqueeren Heiligen – Geschlechtervielfalt in Bibel und Frömmigkeitsgeschichte“. 

Den konservativeren in meiner Bubble ist unterdessen das Lachen bereits im Halse stecken geblieben. Sie schimpfen über einen Gottesdienst mit angekündigter Segnung „für polyamore Menschen“ oder einen Kinderworkshop zum Empowerment, das ausschließlich für „Black, Inidgenous und Kinder of Colour“ zugelassen ist. „Spiegel“-Autor Hasnain Kazim etwa fragte in einem Post zynisch: „Könnte mein Kind, das eine weiße Mutter und mich als Vater hat, teilnehmen? Ist mein Sohn dunkel genug?“

Theologische Verrücktheiten und Technolobpreis

Soweit der Streit, soweit die theologischen Verrücktheiten. Es ist eben Kirchentagszeit. So wie alles seine Zeit hat, könnte eine wunderbar kirchentagstreue und heilvoll vorgetragene biblische Pseudoableitung lauten. Bunte Filzperlenketten, Kirchentagsschals, Pfadfinder- und Rangerkluft, das alles gehört so sicher dazu wie das Amen nach dem Technolobpreis oder dem Taylor Swift-Gottesdienst. 

Ich halte das meiste davon für übertrieben und auch ein bisschen peinlich. Trotzdem gehe ich gerne zum Kirchentag. Denn er bietet etwas, das selten geworden ist in diesen Tagen. Echte, ernst gemeinte Vielfalt in Frieden. 

Auch das klingt schon so getragen, als würde es von einer Kanzel gepredigt, doch es stimmt: Neben Klimaprotestlern, Vulven malenden Künstlern oder Che Guevara-Flaggenschwenkern (ja, alles schon oder immer wieder da gewesen) bietet der Kirchentag sogar den ganz frommen und gesetzten Christen unzählige Möglichkeiten, Gott zu erleben und ihm nachzugehen. 

Da gibt es etwa ein Martin-Pepper-Konzert für die Pop-Lobpreisbeseelten. Ein Abendmal der Herrnhuter Brüdergemeine für die Traditionellen. Eine Debatte über die Politisierung der evangelischen Kirche mit Julia Klöckner (CDU) für die politisch Konservativen, die ihren Raum in einer liberalen Kirche schwinden sehen. Die Nacht der Lichter für Taizé-Bewegte. Sogar eine stille Andacht nach Art der Quäker findet sich im Programm.

Ehrlich gemeinte, sich freundlich begegnende Vielfalt

Für den Kirchentag gilt der gute alte Spruch: Jeder bekommt, was er verdient, oder besser: Jeder bekommt den Kirchentag, den er sich aussucht. Natürlich ist es ein leichtes, sich zu empören, aber das können wir in diesen Zeiten doch auch an jeder anderen Straßenecke bekommen. 

Auf dem Kirchentag können wir uns aber auch dafür entscheiden, das Programm zu wählen, das uns entspricht. Die Veranstaltungen, die uns dabei helfen, uns Gott zu nähern. Nicht allein, sondern gemeinsam mit Tausenden anderer Christen, allein das ist schon etwas, das in einer Gesellschaft der schwindenden Kirchenmitgliedszahlen kaum noch zu haben ist. 

Und nicht zuletzt: Was könnte unsere Gesellschaft dieser Tage nicht mehr gebrauchen, als ehrlich gemeinte, sich freundlich begegnende Vielfalt trotz Andersartigkeit? So gesehen ist der Kirchentag auch ein Übungsfeld für etwas, das im täglichen Leben verloren gegangen zu sein scheint. Miteinander. Sich aushalten. Trotz Unterschiedlichkeit. Ich wünsche dem Kirchentag, dass er das – einmal mehr – hervorbringt und damit einen Unterschied macht zu den erbosten Debatten in Politik und Gesellschaft. 

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen