Ist Christentum immer konservativ?

Bedeutet Christsein immer auch konservativ sein? Zu dieser Frage hat der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, im Magazin "Cicero" einen Aufsatz verfasst. 
Von PRO

"Soweit schon dies als konservativ gilt, zu dem zu stehen, was man als verbindlich anerkennt, eignet der Religion unweigerlich ein konservativer Zug", schreibt Huber in "Cicero". "Doch wenn das in einer Weise geschieht, in der Diversität nicht verurteilt, sondern respektiert wird, blitzt etwas Neues auf: pluralismusfähige Überzeugungstreue, Interesse am Streit um die Wahrheit."

Huber, der Professor für Systematische Theologie ist und von 2003 bis 2009 EKD-Ratsvorsitzender war, schreibt unter der Überschrift "Vernunft des Glaubens" zur Frage: "Wie konservativ ist gelebtes Christentum heute?". Er stellt fest: "Ein standfester und beherzter Christ, der dem Fremden und Andersgläubigen in einer pluralistischen Gesellschaft mit Achtung begegnet, lässt sich auch als ‚progressiv‘ bezeichnen."

Im Europa des 20. Jahrhunderts sei das Verschwinden von Religion auf zweierlei Weisen beschworen und erklärt worden. Zum einen mit den Mitteln einer marxistischen Religionskritik, zum anderen durch eine soziologische Säkularisierungstheorie. "Zum Bild des marxistischen neuen Menschen gehörte es, dass er der Religion nicht mehr bedürfe. (…) Doch die Voraussage vom Tod der Religion trat nicht so schnell ein wie erwartet." In der DDR sei die Feindschaft gegen die Religion gründlicher ausgeprägt gewesen als in manchem anderen Satellitenstaat der Sowjetunion. "Die Entkirchlichung weiter Bevölkerungsschichten gehörte zu den dauerhaftesten Ergebnissen kommunistischer Regime, des SED-Regimes allen voran."

Die soziologische Säkularisierungstheorie hingegen sei von der Vorstellung ausgegangen, dass Religion "in einem spezifischen Sinn konservativ, nämlich vormodern" sei. Deshalb sei der Prozess einer gesellschaftlichen Modernisierung auf unausweichliche Weise mit einer Säkularisierung verbunden. "Empirische Daten über ein verändertes kirchliches Verhalten und Schübe von massenhaften Kirchenaustritten schienen diese Vorstellung zu bestätigen." Es herrschte die Vorstellung, dass sich mit fortschreitender Modernisierung eine religiöse Erosion von selbst ergebe.

Huber stellt fest: "Beide Thesen sind inzwischen Geschichte." Die marxistische Religionskritik sei mit der friedlichen Revolution in Europa ans Ende gekommen, und die Säkularisierungstheorie habe sich überlebt, "weil sie nicht erklären kann, warum Religion auch in modernen Gesellschaften keineswegs verschwindet, sondern Bedeutung behält", schreibt Huber.

"Bekehrung" als Gegenteil von "Bewahrung"

Der Theologe betont: "Religion ist nicht vormodern, aber sie hat einen konservativen Zug. Nicht weil das Bekenntnis zu Gott und seiner Zuwendung zum Menschen in sich selbst konservativ wäre, wie manche meinen. Dieses Bekenntnis ist vielmehr von Glaubenden zu allen Zeiten als Unterbrechung des Vertrauten, als Befreiung aus verfestigten Verhaltensweisen, als Umkehr und Erneuerung verstanden und erlebt worden." Deshalb werde der Zugang zum Glauben immer wieder als "Bekehrung" beschrieben, und dies sei gerade das Gegenteil einer bloßen "Bewahrung" – einer bloßen "conservatio".

Huber erklärt, der christliche Glaube selbst lasse sich weder auf eine konservative noch auf eine "progressive" Haltung reduzieren. "Einen konservativen Zug hat Religion in einem ganz anderen Sinn – und zwar deshalb, weil sie auf die Weitergabe von Generation zu Generation angelegt ist." Darauf basiere bereits der jüdische Glaube nach der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten.

Gleichzeitig enthielten die Predigten Jesu Christi immer wieder Formeln, die dem entgegenstehen, etwa "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist… Ich aber sage euch…" (Matthäus 5, 21).

Huber schreibt weiter: "Die plausibelste sprachliche Erklärung des Wortes ‚Religion‘ besteht darin, es handle sich um die wiederholte, regelmäßige Einübung in die Gottesbeziehung. Das regelmäßige Gebet und der regelmäßige Gottesdienst sind die Grundformen von Religion. Nicht der Wandel religiöser Überzeugungen, sehr wohl aber der Abbruch religiöser Praxis hat Religion entscheidend infrage gestellt. Nicht die Modernisierung des Christentums an den Schwellen von Renaissance und Reformation, von Aufklärung und Idealismus, von wissenschaftlich-technischer wie demokratischer Revolution führt zur religiösen Erosion, sondern die Auflösung gelebter Frömmigkeit. Sie hat sich kaum irgendwo radikaler vollzogen als in Deutschland."

Auf den religiösen Pluralismus unserer Zeit bilde weder der religiöse Relativismus eines "anything goes" noch der religiöse Fundamentalismus eine zureichende Antwort. Eine solche Antworte könne nur den Respekt vor der gleichen Würde der Verschiedenen enthalten sein. Außerdem müsse jeder bereit sein, "inmitten dieser Pluralität selbst einen Standpunkt zu finden und diesen auch beherzt zu vertreten". (pro)

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