Pornografie im Internet ist ein grenzenloser Markt mit ständig neuem Material, bei dem durch die interaktiven Möglichkeiten des Web 2.0 die Grenzen zwischen Konsument und Produzent verschwimmen. Seit es Breitband-Internetzugänge und Flatrates gibt, sind pornografische Angebote im WWW für jeden leicht zugänglich, anonym und dabei kostengünstig. „Eine Internetflatrate ist für einen sexuell Süchtigen etwa so, als ob man einem Alkoholiker einen kostenlosen Bierzapfhahn in der Wohnung installiert“, erklärte der Psychiater Andreas Hill. Er ist Oberarzt am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf.
Internet-Sexsucht gehöre zu den nicht-stofflichen Verhaltenssüchten, erklärte Hill. Während bei einer Alkoholkrankheit Alkohol das Suchtmittel sei, wirke eine Verhaltenssucht durch Bestätigung, Glücksgefühle und die damit verbundenen Hormonausschüttungen auf das Belohungssystem des Körpers. Der suchtartige Konsum werde begünstigt durch die virtuelle Identität, die weltweite Vernetzung und ein geringes Risiko, dass illegale Aktivitäten aufgedeckt würden.
„Wer sexsüchtig ist, kann trotz negativer Auswirkungen den Konsum von Pornografie nicht beenden. Dies hat negative Folgen für das soziale Umfeld und die Beziehungen, vor allem zur Partnerin oder Familie“, so Hill. Sexsüchtige setzten Sex vor allem als Bewältigungsstrategie für Probleme ein. Hill sieht es als erwiesen an, dass Internetpornografie gewalthaltiger sei als Pornofilme. Studien belegten außerdem, dass Hardcore-Pornos und gewalthaltige Pornos die Aggressivität der Nutzer steigern können.
Normaler Sex wird langweilig
Regelmäßiger Pornografiekonsum sei eine Belastung für jede Beziehung. Durch den einsetzenden Gewöhnungseffekt empfänden Männer den realen Sex mit der Partnerin irgendwann als langweilig und entwickelten im Lauf der Zeit eine negative Einstellung zu intimen Beziehungen. Sex im virtuellen Raum biete dagegen ständig neue Anreize, die schnell und rund um die Uhr ohne Anstrengungen verfügbar sind. Frauen fühlen sich durch den Pornokonsum des Mannes abgewertet und in ihrer Würde verletzt.
Laut dem Psychiater Kornelius Roth ( Bad Herrenalb) können Sexsüchtige ihr Verhalten trotz negativer Folgen nicht steuern. Schwierig sei vor allem, dass das Problem in der Gesellschaft verdrängt werde. „Über Sexsucht wird nicht geredet, die Scham ist zu groß.“ Dabei hätten viele Männer mit dem Problem zu kämpfen. Laut Roth stecken oftmals Kindheitstraumata, Depressionen, unbewältigte Trauer oder kognitive Verzerrungen hinter der Flucht in die Abhängigkeit. Wenn sie eine Therapie begännen, sei es für viele Abhängige das Beste, für einen Zeitraum von etwa drei Monaten totale sexuelle Abstinenz zu üben. „Im Anschluss daran muss an den Ursachen für die Sucht, aber auch an den Auswirkungen auf das soziale Leben gearbeitet werden.“ Der therapeutische Prozess könne zwischen drei und fünf Jahren dauern. Hilfreich sei auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe. Sexsüchtige seien meist innerlich einsam und müssten lernen, auf ihre Bedürfnisse zu hören und für sich selbst zu sorgen. Viele Betroffene hätten bereits im Alter von 12 oder 13 Jahren die ersten Erfahrungen mit Pornografie gemacht und müssten nun neue Verhaltensformen und Bewältigungsstrategien erlernen, so der Psychiater.
Fast alle Jugendlichen haben bereits Internetpornografie angeschaut
Ein großes Problem ist, dass viele Kinder und Jugendliche sich bereits Pornografie im Internet ansehen. Laut einer skandinavischen Studie gaben 96 Prozent der 14 bis 18-Jährigen an, pornografische Inhalte im WWW angesehen zu haben. Nach Ansicht des Sexualpädagogen Rainer Wanielik (Wiesbaden) ist diese Zahl realistisch. Wanielik arbeitet unter anderem für das Internetberatungsportal der AOK „jonet“. Da viele Eltern nicht wüssten, dass pornografische Materialien inzwischen kostenlos auf Videoportalen oder in Tauschbörsen zu finden sind, hätten diese meist keine Ahnung, womit ihre Kinder im Netz konfrontiert würden.
Seiner Ansicht nach bietet das Internet die sexuelle Aufklärung, die Kinder in Schule und Elternhaus nicht fänden. Allerdings führten Vorbilder aus den Medien zu überhöhten und meist unrealistischen Erwartungen. „Durch Medienvorbilder entwickelten junge Leute verzerrte und eindimensionale Bilder von Beziehung und Partnerschaft. Für Jugendliche wäre es wichtig, dass jemand mit ihnen auch darüber redet, wie man eine Beziehung führt und sich als Mann oder Frau gegenüber dem anderen Geschlecht verhält“, so Wanielik. Jugendliche würden zwar die virtuellen Möglichkeiten von Interaktion und Selbstdarstellung im Netz für sich nutzen, seien aber im Umgang mit dem anderen Geschlecht genauso unsicher, wie es ihre Eltern seinerzeit waren.
Das Weiße Kreuz ist ein Fachverband des Diakonischen Werkes für Seelsorge ud Sexualethik. Zu der Veranstaltung waren 120 Therapeuten, Lehrer und Pastoren aus ganz Deutschland in das Seminarzentrum nach Kassel-Ahnatal gekommen. Auf der Internetseite www.internet-sexsucht.de bietet das Weiße Kreuz weitere Informationen sowie Adressen von Beratungsstellen an. (PRO)