Integration – aber bitte nur ein bisschen

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat sich strikt gegen eine allzu starke Anpassung der Türken in Deutschland gewandt – und mit seinem Aufenthalt in Deutschland erneut einen Streit über den EU-Beitritt seines Landes ausgelöst.
Von PRO

"Der Saal bebt, die Luft flimmert. Wenn man Begeisterung in Energie umwandeln könnte, würde es in der Halle blitzen und donnern", so beschreibt der Journalist Henryk M. Broder in der Tageszeitung "Die Welt" die Atmosphäre im ISS-Dome in Düsseldorf am Sonntagabend, wo etwa 10.000 Türken begeistert der Rede ihres Ministerpräsidenten zuhören. Man müsse nicht Türkisch verstehen, um zu fühlen, was Erdogan sagt, schreibt Broder. Er reibe viel Salbe in tiefe Wunden.

"Ich bin hier, um mit euch eure Sehnsucht zu fühlen, ich bin hier, um nach eurem Wohl zu schauen. Ich bin hier, um euch zu zeigen, dass ihr nicht alleine seid!", zitiert der "Spiegel" Erdogan. Mit viel Gefühl und Empathie versuche er, seine Landsleute auf die Rolle einzustimmen, die sie nach seinem Willen in Deutschland spielen sollen: "Ihr gehört zu Deutschland, aber ihr gehört auch zu der großen Türkei." Und weiter: "Ich will, dass ihr Deutsch lernt, dass eure Kinder Deutsch lernen, sie sollen studieren, ihren Master machen. Ich will, dass ihr Ärzte, Professoren und Politiker in Deutschland werdet." Allerdings erneuert er auch seine vor drei Jahren bei einem ähnlichen Auftritt in Köln ausgesprochene Warnung: Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Ja, integriert euch in die deutsche Gesellschaft, aber assimiliert euch nicht." Keiner habe das Recht die Türken von ihrer Kultur und Identität zu trennen. "Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen."

"Es war ein Aufruf zur Integration unter strengen Bedingungen", beobachtet der Spiegel. "Die Botschaft: Passt euch ein kleines bisschen an." Es sei eine Rede, eine Inszenierung gewesen, die nicht die Zugehörigkeit zu Deutschland bestärkt habe. "Erdogan appellierte unablässig an das türkische Nationalgefühl derer, die seit vier Generationen in Deutschland zu Hause sein müssten."

Westerwelle: "Zuallererst Deutsch lernen"

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) widersprach am Montag in Berlin der Forderung des türkischen Ministerpräsidenten, Kinder aus türkischen Familien in Deutschland sollten zuerst ihre Muttersprache lernen: "Die Kinder, die in Deutschland groß werden, müssen zuallererst Deutsch lernen." Ohne die deutsche Sprache kämen sie in der Schule nicht mit und hätten später schlechtere Chancen als andere. "Die deutsche Sprache ist für die, die in Deutschland groß werden, der Schlüssel zur Integration."

Unterdessen kritisierte auch CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe die Rede. Erdogan erweise den Integrationsbemühungen in Deutschland einen Bärendienst. "Er tut so, als ziele deutsche Integrationspolitik darauf ab, kulturelle Wurzeln von Migranten zu kappen. Damit schürt er unnötig Misstrauen", teilte Gröhe am Montag mit. Integration gelinge nicht besser, wenn sich Deutsche mit türkischer Herkunft aus Angst vor vermeintlichem Anpassungsdruck einem offenen Austausch und guten Miteinander verweigerten. "Der türkische Ministerpräsident wäre besser beraten, stärker für die Vorteile einer gelingenden Integration zu werben." CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt sagte am Montag in München: "Dieser Auftritt von Erdogan hat unsere Integrationsbemühungen in Deutschland um Jahre zurückgeworfen. Es ist ein beispielloser Vorgang, dass ein ausländischer Regierungschef in regelmäßigen Abständen seine bei uns lebenden Landsleute aufwiegelt."

Kauder: Keine weiteren Verhandlungen ohne Religionsfreiheit

Bereits vor seinem Besuch hatte der türkische Ministerpräsident Merkels Haltung zum angestrebten EU-Beitritt seines Landes kritisiert. Nach seiner Ansicht werden die Beitrittsverhandlungen mit der EU "ausschließlich aus politischen Gründen verlangsamt", sagte er gegenüber der "Rheinischen Post". In einem Interview mit derselben Zeitung forderte Unions-Fraktionschef Volker Kauder: "Ich verlange von der EU, dass in den Gesprächen über eine Aufnahme der Türkei keine neuen Verhandlungskapitel eröffnet werden, solange die Türkei nicht die volle Religionsfreiheit gewährleistet. Die Türkei muss sich hier nicht mehr nur an Worten, sondern an klaren Zeichen messen lassen. Dazu gehört für mich, dass die griechisch-orthodoxen Christen ihre Priester wieder in der Türkei ausbilden dürfen." Auch Mor Gabriel sei ein kritischer Punkt. Er habe den Eindruck, dass die aramäischen Christen hier bewusst bedrängt würden, um aus einem aktiven Kloster ein stilles Museum zu machen. "Die Türkei sollte sich zu wahrer Toleranz gegenüber allen Religionen verpflichten", forderte Kauder, "gerade gegenüber dem Christentum, das in der Türkei eine ihrer Wurzeln hat."

SPD-Fraktionsvize Gernot Erler warf der Union vor, sie verstoße gegen den eigenen Koalitionsvertrag, der ein klares Bekenntnis zu den Beitrittsverhandlungen enthalte. Angesichts der wachsenden Einflusses der Türkei im Nahen Osten sei es "absolut unklug, einen solchen Partner jetzt derart vor den Kopf zu stoßen", sagte der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt dem Berliner "Tagesspiegel". Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth kritisierte: "In einer historischen Situation, in der der Türkei eine wichtige Schlüsselrolle für den Umbruch im arabischen Raum zukommt, ist die Union vor allem damit beschäftigt, der Türkei immer wieder mit lautem Getöse die Türe vor der Nase zuzuschlagen. Das ist außen- und sicherheitspolitisch in höchstem Maße verantwortungslos und schadet auch deutschen Interessen."

Der Grünen-Vorsitzende Özdemir hat in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" am Dienstag die Türkei dazu aufgerufen, die Rechte von Christen und anderen religiösen Minderheiten anzuerkennen. Damit könne die islamisch-konservative Partei AKP unter Ministerpräsident Erdogan beweisen, dass sie sich in Richtung Demokratie aufmacht. Die Türkei unter Erdogans Führung habe ein "spannendes und wichtiges Experiment" in Gang gesetzt. Dieses könne für die arabische Welt in deren gegenwärtigem Umbruch von großer Bedeutung sein. Das gelte allerdings nur dann, wenn die Regierung ihren Kurs halte und das Land alle Bürgerrechte auch für alle Minderheiten gewährleiste. (pro/dpa)

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