Inszenierte Wirklichkeit

Benjamin Skinner musste lügen, um die Wahrheit herauszufinden. Christoph Maria Fröhder trickste die irakische Zensurbehörde aus, als er vom Golfkrieg berichtete. Sereina Venzin legte für ihre Recherche im Selbstexperiment einen Ganzkörperschleier an. Studenten der Hamburg Media School wollten herausfinden, wie Journalisten Wirklichkeit erzählen, und haben mit ihnen gesprochen: "Echt wahr!" ist der Interviewband, der dabei herauskam.
Von PRO

Der amerikanische Investigativ-Journalist Benjamin Skinner recherchierte vier Jahre lang über moderne Sklaverei. Bei den verdeckten Recherchen habe er herausgefunden, dass er gut schauspielern könne, erzählt er im Interview. Um sich mit einem Sklavenhändler treffen zu können, gab er sich einmal in einem Untergrund-Bordell als potentieller Kunde von Prostituierten aus. Grauenvolle Dinge habe er dabei gesehen – ein schmutziges, düsteres Bordell, Narben von Selbstmordversuchen der Opfer, Zeichen der Misshandlungen.



"Ich will nicht nur mit Opfern sprechen, sondern auch mit Tätern. Nur so kann man der Wahrheit nahe kommen", sagt Skinner. Dafür habe er seine eigene Identität verstecken müssen. "Es ist ein Widerspruch: Um Wahrheit zu finden, muss man lügen." Eine Gratwanderung sei das gewesen, denn wenn die Menschenhändler befürchteten, aufzufliegen, hätten sie sich vor allem an den Sklaven gerächt, erklärt Skinner. Einmal half er dabei, eine Frau zu befreien. "Jedes Mal, wenn ein Journalist über Verbrechen gegen die Menschlichkeit berichtet, ist er unvermeidlich voreingenommen. Wir verurteilen die Täter und fühlen mit den Opfern. Und wie sollte es anders sein?" Das sei für ihn in Ordnung – solange der Journalist präzise beurteilen könne, wer wirklich Opfer und wer Täter ist.


Wirklichkeit ist subjektiv


"Wahrheit ist ein überirdischer Anspruch. Ihn erfüllen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Jede Auswahl von Dokumenten, von Zeugen, von Sichtweisen beinhaltet immer eine subjektive Wahrnehmung", sagt der ehemalige "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust. Ein Journalist könne versuchen, sich der Realität anzunähern, den beweisbaren Tatsachen so nahe wie möglich kommen – aber "ohne die Behauptung aufzustellen, die allein seligmachende Wahrheit gefunden zu haben". Wirklichkeit ist subjektiv – diese Aussage findet sich in vielen der 36 Interviews mit Journalisten ganz unterschiedlicher Medien und Formate, mit Medienwissenschaftlern, Drehbuchautoren und Dokumentarfilmern.


Solche Ehrlichkeit der Medienexperten nimmt dem Leser die Illusion, dass Journalisten ein wahrheitsgetreues Abbild der Wirklichkeit schaffen können. Es kann auch nicht funktionieren, denn die Wirklichkeit folgt nicht den formalen Kriterien einer Reportage oder den Ansprüchen an einen Nachrichtentext. "Die Welt zu beschreiben, heißt immer, die Welt zu deuten, zu sortieren", sagt Claudius Seidl, Feuilletonist der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Der Ostasien-Korrespondent des "Stern", Janis Vougioukas, verdeutlicht das an einem Beispiel: "Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Journalismus ist, die Wirklichkeit abzubilden. Nachrichten sind Abweichungen vom Alltag. Wenn ein Flugzeug abstürzt und wir berichten darüber, ist das nur ein Ausschnitt der Realität. Die meisten Flugzeuge kommen heil an." Authentisch zu berichten, ist den befragten Journalisten wichtig. Was sie darunter verstehen, beschreiben sie in den Interviews an verschiedenen Beispielen ihrer Arbeit.


"Ein bisschen unjournalistisch"


Während der Revolution in Ägypten berichtete der Hörfunkkorrespondent der ARD Jürgen Stryjak aus Kairo. Im Interview erzählt er, wie am "Tag des Zorns" Gebäude in der Nachbarschaft brannten, Panzer vor dem Fenster vorbei fuhren, Schüsse fielen. Gemeinsam mit seinen Kollegen musste er im Studio übernachten, weil eine Ausgangssperre verhängt worden war. Stryjak war auf dem Tahrir-Platz, sprach mit Regimegegnern und Mubarak-Anhängern.



"Mein Ziel war es, die Zuhörer mit allen Informationen zu versorgen, die sie brauchen, um sich selber ein Bild zu machen. Dieses Bild wollte ich möglichst wahrheitsgemäß vermitteln. Im ARD-Studio haben wir unsere Wahrnehmung diskutiert, um uns gegenseitig zu korrigieren." Stryjak hoffte, dass die Demokratie-Bewegung gewinnt. "Das klingt jetzt ein bisschen unjournalistisch, aber es ist einfach so." Er versuche bei seiner Berichterstattung, Gefahren für die Demokratie deutlich zu machen. "Wenn ich dadurch zum Erfolg einer Demokratie-Bewegung beitrage, dann ist das völlig legitim für mich." Kritisch sei er aber gegenüber allem.


"Es ist nicht so, wie es aussieht"


Die Schweizer Journalistin Sabine Kuster dokumentierte ein Jahr lang für die "Aargauer Zeitung" in insgesamt neun Artikeln das Leben einer allein erziehenden Sozialhilfeempfängerin. Dafür erhielt sie den "Schweizer Medienpreis für Lokaljournalismus". Sie habe den Lesern mit der Serie zeigen wollen, dass Armut nicht selbstverschuldet sein muss. Regelmäßig traf sich Kuster mit ihrer Protagonistin und erfuhr in dem Jahr sehr persönliche Dinge von ihr, etwa die Höhe des monatlichen Haushaltbudgets. Die Frau erzählte ihr auch, dass ihre Mutter sie geschlagen hatte. "Ich habe mich immer fragen müssen: Kann ich es verantworten, das aufzuschreiben?" Sympathie sei von Anfang an dagewesen, "denn sie war ja das Opfer und ich wollte bei den Lesern Empathie erwecken, und vor allem Verständnis".


Allerdings habe es neben positiven Reaktionen auch viel Kritik von den Lesern gegeben. Ihr Lektor habe sie manchmal darauf hingewiesen, dass sie nicht ganz ehrlich sei und die Frau schützen wolle. Kuster meinte, nicht immer alles schreiben zu können, weil ihre Protagonistin vielleicht abspringen würde. Langzeitbeobachtungen hält sie für die beste Form, Lebenswirklichkeit darzustellen. "Menschen sind so komplex. Nach einem Besuch denkt man vielleicht, man weiß alles und sieht die Realität, spürt aber vielleicht das Falsche. Vieles ist einfach nicht so, wie es zunächst aussieht."


Echt sein: Die große Kunst


"Wenn man vor der Kamera steht, ist das immer eine Inszenierung. Ich spiele in gewisser Weise eine Rolle", sagt Stella Jürgensen, Moderatorin und Sprecherin unter anderem für ARD und NDR. Gerade im Fernsehen steckten die Moderatoren in einem engen Korsett, von der Körpersprache bis zur Kleidung. Übertriebene Mimik sei tabu. Ob der Moderator kurze oder lange Hosen trägt, wirke sich auf den Stil und die innere Haltung beim Sprechen aus – selbst wenn nur der Oberkörper zu sehen ist. Wie das Licht im Studio gesetzt wird oder welchen Bildausschnitt die Kamera zeigt, sei Teil der Inszenierung, meint Jürgensen. "Ich versuche aber immer echt zu sein, selbst wenn ich eine Rolle spiele. Das ist die große Kunst."


Im Kursbuch "Echt wahr! Wie Journalisten Wirklichkeit erzählen" berichten die Medienmacher in den Interviews von Geschichten hinter den Geschichten, die sie recherchiert haben. Dabei geht es um die Frage nach Authentizität und Wahrheit. Der Initiator des Interviewprojektes, Ulf Grüner, zieht das Fazit: "Journalismus ist die Kunst der glaubhaften Inszenierung." Eine systematische Analyse darf man von diesem 300-seitigen Band aber nicht erwarten. Die Interviews sind jeweils unterschiedlich aufgebaut. Einzelne Begriffe wie Wahrheit, Wirklichkeit, Inszenierung und Authentizität werden zwar ausführlich besprochen, aber nicht definiert. Genau dies wäre hilfreich, um nachzuvollziehen, dass Inszenierung authentisch und subjektive Wirklichkeit wahr sein kann. Dennoch gibt dieses Buch einen erhellenden Einblick in die Arbeitsweise von Journalisten und offenbart dabei Spannungen und Konflikte auf der Suche nach der Wahrheit. (pro)

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