Es liegt mir ferne, mich in eine allgemeine „Politikerschelte“ einreihen zu wollen, denn Politiker und Personen des öffentlichen Lebens sind Menschen, die mit ähnlichen „Unzulänglichkeiten“ behaftet sind, wie der Rest von uns allen. Dies sich aber im öffentlichen Leben einzugestehen und die Kraft aufzubringen, in einer globalisierten Welt mit ungelösten Fragen und Problemen leben zu müssen, fällt niemandem leicht, weder den Politikern, noch denen, die sie gewählt haben. Eine inzwischen praktizierte „politisch korrekte Schönredekultur“ fördert kurzfristig manche notwendige Stimmen und erhöht die Popularität, wird uns aber längerfristig in ideologische Gefängnisse entlassen, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung nachhaltig gefährden.
Durch nichts und niemanden darf sich zum Beispiel der freiheitliche demokratische Rechtsstaat sein Gewaltmonopol unterminieren und aufweichen lassen, was aber geschieht, wenn durch einen Kulturrelativismus unterschiedliche Rechtsverständnisse toleriert werden. Das Problem mancher unserer Politiker ist aber, dass sie sich um der Popularität willen zu vielen Themen äußern müssen und sich dabei als Generalisten nicht immer genügend mit den Fakten beschäftigen können.
Zum Beispiel sind die Ansprüche des politischen Islam nicht etwa nur ein Missbrauch einer sonst so friedlichen Religion, wie vielfach zu hören ist. Es ist daher notwendig, sich nicht mit der Beteuerung: „Islam ist Frieden“ zufrieden zu geben, sondern den real-existierenden Islam in Geschichte und Gegenwart in unserer globalisierten Welt ernst zu nehmen, ohne einem Feindbild, noch einem Wunschbild zu erliegen. Nur: Wird das in der Politik realisiert? Die Beobachtung eines Bekannten bringt es auf den Punkt: „Das Problem für Politiker ist: Wenn sie sich auf die Fakten einlassen, müssen sie handeln. Und davor haben sie Angst. Denn handeln heißt nun einmal: eine klare Sprache sprechen. Und zum Zweiten: Konsequenzen ziehen… Der Verzicht auf liebgewordene Floskeln und Formeln ist für einen Politiker aber wie eine Identitätskrise. Er kann sich jetzt nicht mehr hinter unangreifbaren, weil nichtssagenden, aber von vielen geteilten, Aussagen verstecken, sondern muss ungeschützt Farbe bekennen. Das geht an die Substanz… Im Grunde sind Politiker nicht zu beneiden: Sie haben oft noch nicht einmal unsere Intelligenz und unser Wissen, sollen aber die Welt retten. Um an dieser Aufgabe nicht innerlich zu zerbrechen, legen sie sich einen Vorrat vertrauter Formulierungen an, die sie unablässig wiederholen, bis sie am Ende selbst daran glauben. Menschlich sehr verständlich, aber objektiv natürlich völlig inakzeptabel.“
„Umso schlimmer dann für die Wirklichkeit“
Es ist eine Beobachtung, die in Zeiten von Koalitionskrach und einer „Stillstandspolitik“ selbst in wesentlichen, gesellschaftlich wichtigen Fragen wohl viele unterschreiben. Eines dieser wichtigen Themen ist etwa die Familienpolitik. In diesem Bereich bin ich zwar kein Experte, meine Kinder sind inzwischen erwachsen. Dennoch: Wir sollten alles tun, um die Familie zu stärken und zu entlasten und den Mut zum Kind bei jungen Familien fördern. Es liegt auf der Hand, dass wir weder die „heile Familie für alle“ erzielen können, noch uns dem gesellschaftspolitischen Modell der 68er Generation ausliefern dürfen. Schon um der allein erziehenden Mütter willen, die dabei oft noch berufstätig sind, muss es ein ausreichendes Angebot von Kinderkrippen geben. Gleichzeitig muss es möglich sein, Eltern, auch allein erziehende Eltern, besonders in der frühen Erziehungsphase so zu entlasten, dass sie ihre Kinder auch zuhause erziehen können. Aber auch in einem Wohlfahrtsstaat darf die Eigenverantwortung der Eltern nicht in einem tendenziell entmündigenden Kollektivismus münden. Hier muss das Gespräch mit den Politikern gesucht werden und die wissenschaftlich fundierten Untersuchungen mit Modellcharakter, auch aus anderen Ländern, den Entscheidungsträgern gewinnend bekannt gemacht werden. Politiker sind auf kompetentes Personal in den einzelnen Ministerien angewiesen, und hier spielen sicherlich gesellschaftspolitische Vorentscheidungen mit eine Rolle, nach welchen Gesichtpunkten wissenschaftliche Untersuchungen berücksichtigt werden oder nicht. Da Familienpolitik entscheidende Weichenstellung für die Zukunft bedeutet, müssen wir uns als Christen kompetent einmischen und mit entsprechenden Initiativen beispielhaft vorangehen, ohne alles immer zuerst vom Staat zu erwarten.
Ein gewisses Maß an Arroganz, Überschätzung, Selbstbetrug und auch Naivität, gepaart mit „Gutmenschentum“ darf dabei nie ausgeschlossen werden. Hegel soll gesagt haben, als einer seiner Studenten meinte, dass seine Theorie der Wirklichkeit nicht entsprechen könne: „Umso schlimmer dann für die Wirklichkeit!“ Diese „pragmatische Dialektik“ verleitet dazu, auch die Geschichte neu zu schreiben und schönzureden, denn wer wacht schon gerne vom Traum des multikulturellen Schlaraffenlandes auf? Dazu kommt, dass der Zeitgeist suggeriert, dass alle Religionen mehr oder weniger gleich seien. Die Philosophen könnten geneigt sein, alle Religionen als Ursache der Probleme zu sehen, während man in der „Realpolitik“ auch der Versuchung unterliegen könnte, alle Religionen als gleich brauchbar zu betrachten.
Nehmen wir nur die Debatten um den Islam. Es liegt für Politiker nahe, sich auf die islamischen Meinungsbildner und ihre Interessenvertreter einzulassen, die uns mantrahaft beteuern, dass Islam Frieden bedeute und nur eine Handvoll Extremisten eine sonst so friedliche Religion missbräuchten.
Vielleicht symptomatisch für die Debatte ist die Diskussion zwischen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und dem Publizisten Ralph Giordano über die Frage des Islam in Deutschland. Die kürzlich in einer überregionalen Zeitung veröffentlichte Diskussion verdeutlicht die ganze Problematik der Integrationsdebatte. „Der Islam ist längst ein Teil unseres Landes“, sagt Schäuble. Giordano hingegen warf ihm vor, die Probleme zu verharmlosen.
Es ist bewundernswert, mit welcher Klarheit Giordano die uns gestellte politische, gesellschaftliche und kulturelle „Herausforderung Islam“ anspricht. Politiker, und natürlich insbesondere der Innenminister, tun gut daran, auf seinen Aufschrei nicht nur genau zu hören, sondern auch Konsequenzen daraus zu ziehen. Islamkritik, wie Giordano sie übt, hat nichts mit Islamophobie, noch mit Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu tun, auch wenn es lokale und internationale Bemühungen islamischer Interessenvertreter gibt, jegliche Islamkritik zu kriminalisieren und die Täter- Opfer-Rolle zu verdrehen.
Der Islam ist eben nicht nur eine Religion, sondern auch eine religionspolitische Ideologie. Ideologien haben dabei immer die Tendenz, ihre wirklichen Ziele zu verschleiern, kritisches Denken und Hinterfragen zu blockieren, sowie Angst zu verbreiten. Man braucht heute nicht nur „Islamwissenschaftler“ zu sein, um festzustellen, dass wir es in unserer globalisierten Welt nicht mehr nur mit einer schleichenden Islamisierung zu tun haben. Ich frage mich manchmal, warum es in Staat, Kirche und Gesellschaft, besonders auch unter Verantwortungsträgern, eine solch gravierende Faktenresistenz und mangelnde Faktenanalyse im Blick auf den Islam gibt. Glauben wir denn, dass er nur eine zeitverschobene Blaupause unserer christlich-jüdischen Zivilisation ist, die mit etwas Geduld auch noch ihrer Aufklärung entgegeneilt? Haben wir solch ein Vertrauen in die selbst regulierenden Kräfte der Demokratie, dass wir sie aufs Spiel setzen – mit der Hoffnung, wie Jongleure alles im Griff halten zu können? Wir übersehen dabei gerne, dass sich der politische Islam zu Recht auf die Quellentexte des Islam – den Koran, die Sunnah mit Aussagen und Leben Mohammeds und die Scharia – berufen kann und die Auslegungstradition keinen Zweifel lässt, dass die Aussage: „Islam und Islamismus hat nichts miteinander zu tun“, ein künstliches Konstrukt ist, dessen Behauptung so stimmig ist, wie wenn jemand sagen würde: „Regen hat nichts mit Wasser zu tun!“ Wer hier mit Appeasement und pragmatischem Taktieren glaubt, politische Lösungen erzielen zu können, darf sich nicht wundern, wenn dies als Schwäche ausgelegt wird und uns dabei ein Stück freiheitliche Rechtskultur verloren geht.
Eben aus diesem Grund ist von einem Politiker zu erwarten, dass er sich nicht nur mit „Meinungen“ beschäftigt und um des Machterhalts willen auf der Welle politischer Korrektheit schwimmt, sondern sich der Tragweite seines Mandats bewusst ist, verfassungskonform zum Wohl der zivilen Gesellschaft zu handeln und zu wirken. Mut zur Klarheit und Wahrheit beinhaltet auch, sich seiner eigenen Grenzen, Vorurteile und Vorentscheidungen bewusst zu sein und keine Mühe zu scheuen, sich sach- und faktenkundig zu machen.
Als Bürger im Staat sollten gerade Christen nie vergessen, unsere Politiker im Gebet zu begleiten und dabei den Dank nicht außer Acht lassen, dass wir in einem Staat leben können, in dem die Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährt und rechtlich verbrieft ist. Es wird uns täglich genug vor Augen geführt, dass wir in einer mehr als bedrohten globalen Welt leben. Sich dafür einzusetzen, dass es nicht nur uns gut geht und uns die freiheitliche demokratische Grundordnung erhalten bleibt, zwingt uns auch, dafür Sorge zu tragen, die ganze Welt im Blick zu behalten. Die allgemeinen Menschenrechte in ihrer ganzen universalen Tragweite werden aber lokal und global unterminiert, wo Feigheit und Mangel an moralischem und geistigem Rückgrad unter „politischer Korrektheit“ kolportiert wird.
Albrecht Hauser ist Pfarrer und Kirchenrat i.R. der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er war bis Januar 2004 für nahezu 20 Jahre als Fachreferent für Mission und als Geschäftsführer der Württembergischen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Weltmission und des Landeskirchlichen Arbeitskreises für Islamfragen tätig. Er ist Mitbegründer des Instituts für Islamfragen und der Vorsitzende des Islam-Arbeitskreises der Deutschen Evangelischen Allianz.