„In der Bibel ist ein langes Leben eine Segensgabe Gottes“

„Longevity“-Anhänger tun alles, um aus ihren Körpern das Optimum herauszuholen. Der Theologe Rasmus Nagel will den Trend nicht vorschnell verurteilen. Auf die Prioritäten komme es an. Eine Dankbarkeits-Perspektive einzunehmen, könne dabei helfen.
Von Swanhild Brenneke
Alter Mann joggt

PRO: Wie alt würden Sie gerne werden?

Rasmus Nagel: Wenn’s hochkommt,100 Jahre? *lacht* Ich glaube, dass den meisten Menschen eine Antwort auf diese Frage gar nicht so leicht fällt. Es fällt schwer, im Umgang mit der eigenen Endlichkeit überhaupt zu einer befriedigenden Position zu kommen. Weder möchte man sterben, noch unendlich lange leben. Ich glaube, der menschliche Wunsch ist gar nicht, unendlich lange zu leben. Sondern genau dann noch etwas länger, wenn es ein erfülltes Leben ist, was reich an Beziehungen ist und einen Sinn hat.

Trotzdem streben Menschen nach Unsterblichkeit und Langlebigkeit – Stichwort Longevity. Wie kommt es zu diesem Trend?

Länger leben zu wollen ist etwas anderes als der Wunsch nach Unsterblichkeit. Das muss man unterscheiden. Aus einer christlichen Perspektive finde ich daran erstmal nichts Verwerfliches, länger leben zu wollen. Das Thema verdeutlicht aber auch die Angst vor dem Tod und dem Sterben. Ich glaube, hinter dem Longevity-Trend steckt auch diese Angst.

Bei dem Trend geht es nicht nur um die quantitative Lebensverlängerung, sondern auch um die Steigerung der Lebensqualität im Alter. Das wünschen sich alle Menschen. Deshalb finde ich den Longevity-Trend zum Teil gar nicht so leicht abgrenzbar von normalen medizinischen Behandlungen.

Gesund altern zu wollen, ist eigentlich eine gute Sache. Wann wird es aus christlicher Sicht problematisch?

Der Wunsch, länger zu leben, kann in christlicher Perspektive auch eine Dankbarkeit vor Gott sein für das geschenkte Leben. Es ist eine christliche Antwort auf diese Gabe, wenn man sagt: Davon möchte ich mehr! Oder mit dem biblischen Begriff: Leben in Fülle. Neben der qualitativen Dimension von Fülle ist in der Bibel auch ein langes Leben eine Segensgabe Gottes.

König Hiskia im Alten Testament erkrankt schwer, verhandelt dann mit Gott und der gewährt ihm 15 Jahre zusätzlich. Umgekehrt gibt es Mose, der auch über eine Lebensverlängerung verhandelt. Aber Gott verwehrt ihm das. Jesus im Garten Gethsemane sagt zu Gott: „Wenn es möglich ist, soll der Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht wie ich will, sondern wie du es willst.“ Der Wunsch, länger zu leben, ist dann ein Problem, wenn er zur Obsession wird. Wenn der Wunsch nur noch darin besteht, quantitativ ein paar Jahre herauszuschlagen. Wenn er eine Priorität im eigenen Leben einnimmt, die alles andere überstrahlt. Wenn er dazu führt, dass das Leben nicht mehr in Fülle gelebt werden kann, weil man nur noch damit beschäftigt ist, irgendwelche Werte zu messen. Oder weil man nicht mehr isst, was man eigentlich möchte, oder Beziehungen vernachlässigt. Oder sogar seine mentale Gesundheit.

„Sowohl im Leben als auch im Sterben müssen die Prioritäten stimmen.“

Umgekehrt würde ich aber auch sagen: Es gibt zwar ein gutes christliches Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit. Aber es gibt ebenso ein übersteigertes christliches Endlichkeitspathos bis zur Todessehnsucht: Wenn der Tod seine Schatten so stark in das eigene Leben vorauswirft, dass man nicht mehr in Fülle leben kann, ist das auch keine christliche Tugend. Sowohl im Leben als auch im Sterben müssen die Prioritäten stimmen.

Im Alten Testament werden die Menschen sehr alt, zum Teil mehrere hundert Jahre. Heute nicht mehr. Wie ist das theologisch zu deuten?

Mit Lebensspannen über 900 Jahre sind vermutlich nicht biologische Lebensspannen gemeint. Ich glaube, dass diese hohen Alter im Buch Genesis eher die Funktion haben, eine Vorzeit zu beschreiben, in der andere Dinge möglich schienen, vielleicht auch eine andere Gottesnähe. Sozusagen eine Abgrenzung zur Jetzt-Zeit. Ich wäre vorsichtig damit, sie als biologische Lebensjahre zu interpretieren. Ähnlich wie mit den sieben Tagen der Schöpfung. Gott setzt kurz vor der Sintflut das Lebensalter auf 120 Jahre fest, was dann eher einer normalen Lebenserfahrung entspricht.

Der promovierte Theologe Rasmus Nagel ist wissenschaftlicher Referent beim Arbeitsbereich „Theologie und Naturwissenschaft“ an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) in Heidelberg

Milliardär Bryan Johnson will sogar unendlich leben. Ist das Streben danach anmaßend gegenüber einem Schöpfer?

Unendlich lange zu leben, ist medizinisch aktuell nicht möglich. Sollte das einmal möglich werden, könnte man fragen, ob es eine Konkurrenz zum Verständnis vom ewigen Leben gibt. Theologisch würde ich beides voneinander unterscheiden. Das Neue Testament meint mit ewigem Leben das Sein bei Gott. Die Bibel nennt das „Gott schauen“. Das ist etwas anderes als die gegenwärtige irdische Existenz und ist mit einer Teilhabe an Gottes Ewigkeit verbunden. Die Ewigkeit Gottes ist eine Dimension, die alle Zeit noch einmal übersteigt und sie umfasst.

Bei der Frage nach einem Leben ohne Ende rückt die Gefahr der Obsession möglicherweise stärker ins Zentrum. Der Wunsch danach, immer länger zu leben, könnte sich dann in einer unguten Weise verselbstständigen. Der Gedanke, dass Leben eine Gabe Gottes ist, gerät aus dem Blick.

Es könnte allerdings sein, dass wir medizinisch in einigen Jahrhunderten Lebensspannen erreichen, die aus der jetzigen Perspektive völlig undenkbar scheinen. Ich würde daher nicht vorschnell urteilen wollen, dass es sich dann um Selbstvergöttlichung handelt.

Eine alternde Gesellschaft stellt das Gesundheitssystem schon jetzt vor Herausforderungen. Wird die Frage nach Sterbehilfe noch härter und vielleicht unbarmherziger diskutiert werden als jetzt schon, wenn alle immer älter werden?

Es ist zu befürchten, dass diese Diskussion an Schärfe zunimmt. Vor allem, wenn der assistierte Suizid in der Weise legalisiert wird, wie das Bundesverfassungsgericht 2020 geurteilt hat. Meines Erachtens stellt es auf einen einseitigen Freiheitsbegriff ab. Es wird nicht hinreichend gesehen, dass die Entscheidung über einen eigenen Suizid in der Regel eine leidvolle ist. Sie wird nicht einfach frei getroffen. Das Gericht bemühte sich zwar darum, zu betonen, dass es keine sozialen Pressionen geben dürfe. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass in der schwierigen ökonomischen Situation dieser Druck in den nächsten Jahrzehnten nicht kommen wird.

„Die Ewigkeit Gottes ist eine Dimension, die alle Zeit noch einmal übersteigt und sie umfasst.“

Welche Rolle spielt beim Altern die emotionale Gesundheit?

Je älter die Menschen werden, desto mehr wird Einsamkeit zu einem Problem. Wenn dann gesundheitliche Beschwerden dazukommen, empfinden manche Menschen im Alter einen Sterbewunsch. Deshalb gehört zum guten Altern die Beziehungspflege ganz zentral dazu. Das wird zunehmend auch zu einem Problem in einer Gesellschaft, wo ältere Menschen entweder keine Kinder haben oder die Familie sehr weit weg wohnt. Da braucht es neue Formen der Beziehungspflege über die Familie hinaus.

Was ist, wenn man nicht gesund altern kann aufgrund chronischer oder anderer Krankheiten? Wie kann man sein Leben trotzdem als erfüllt wahrnehmen?

Wenn das Streben nach Gesundheit zu einer Obsession wird, gesellschaftlich-normativen Druck ausübt und dann eine Eigendynamik entfaltet, in der nur noch ein solches Leben als ein gelingendes Leben angesehen wird, ist das ein Problem. Das sehr lange und gesunde Leben ist ebenso Gottes gute Gabe wie das Leben, das von Krankheit gezeichnet ist oder vor der Zeit endet. Dankbar sein zu können für das eigene Leben, kann davor bewahren, dass sich das Streben nach noch längerem Leben verabsolutiert. Aber wahr ist auch: Diese Dankbarkeit lässt sich nicht verordnen und sie lässt sich auch nicht einfach herstellen. Auch dankbar sein zu können für das eigene Leben, ist ein Geschenk. Krankheit, Leid und Tod bleiben legitimer Grund zur Klage.  

Was macht für Sie ein erfülltes Leben aus?

Für mich ist Leben in Fülle nicht Selbstzweck, sondern ein beziehungsreiches Leben. In Psalm 118 heißt es: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und die Taten des Herrn verkünden.“ Da wird deutlich: Leben, auch Längerleben, als Gabe Gottes hat einen positiven Zweck. Ein Leben in Fülle ist ein Leben in intakter Beziehung zu Gott, zu meinen Mitmenschen und auch zu mir selbst. Ein Leben, das sehr lang andauert und in dem das der Fall ist, sehe ich als besonderen Segen. Aber auch ein kürzeres Leben, in dem das so ist, ist eine Gabe. Wenn man das Leben von der Fülle her denkt, entlastet es die Diskussion um Longevity. Als Selbstzweck wird Lebensverlängerung ein Problem.

Vielen Dank für das Gespräch!

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen