Immer mehr Gewaltfilme werden freigegeben

Filme, die bis vor kurzem noch verboten waren, werden freigegeben, die Altersbeschränkung von Horrorfilmen wird herabgesetzt: Sinkt die Toleranzgrenze bei der Einstufung von Filmen? "DRadio Wissen" fragte den Zensurexperten Roland Seim, warum manche Filme heute zugelassen werden, die vor wenigen Jahren noch verboten waren.
Von PRO

Am 6. September 2011 fällte das Frankfurter Landgericht ein Urteil, das
vor allem Filmfans freuen dürfte: Der Filmverlag "Turbine Medien" hatte
gegen die Beschlagnahme des Films "The Texas Chain Saw Massacre" (1974)
Einspruch erhoben und Recht bekommen. Aufgrund des Urteils würden dem
bislang indizierten Film gute Chancen eingeräumt, dass er auch von der
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) freigegeben wird,
berichtet das Online-Magazin "Schnittberichte.com".
Der Film gilt als Meilenstein des Horror-Genres. In Deutschland kam 1976 eine gekürzte Version in die Kinos. Als 1982 eine ungekürzte Fassung auf Video erschien, stellte die BPjM ihn auf den Index verbotener Filme. Seither wurde der Film mehrere Male beschlagnahmt. Während eine Indizierung lediglich die Verbreitung der Filme erschwert, unterliegen beschlagnahmte Filme einem generellen Verkaufsverbot. Eine neuerliche Beschlagnahme im Jahr 2010 war für "Turbine Medien" der Anlass, vor Gericht eine Neubewertung des Films zu verlangen. Der Filmverlag hält seit 2008 die deutschsprachigen Rechte an dem Film.

"DRadio Wissen" sah in der gerichtlichen Freigabe des Films die Bestätigung einer allgemeinen Tendenz der Prüfstellen, Filme freier zu bewerten. Vor wenigen Jahren noch seien Filme wie "Nightmare on Elm Street" (1984), "The Terminator" (1984) oder "The Thing" (1982) erst ab 18 Jahre freigegeben oder gar indiziert gewesen. Heutzutage seien diese Filme bereits für 16-Jährige zugelassen. Der Radiosender fragte den Zensurexperten Roland Seim, Autor des Buches "Ab 18 – zensiert, diskutiert, unterschlagen. Zensur in der deutschen Kulturgeschichte", nach den Ursachen dieser Entwicklung.

Nicht der Prüfer, sondern die Gesellschaft ändert sich

Seim gab in dem Interview zu bedenken, dass Kontrollbehörden wie die "Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft" (FSK) mit der veränderten Bewertungspraxis lediglich einer allgemeinen Tendenz der Gesellschaft folgten. Die Erfahrung im Umgang mit Medien, die Wertevorstellung und auch die Sehgewohnheiten der Gesellschaft unterlägen einem ständigen Wandel. Aufgrund dieses "Iconic Turn" seien gruselige Darstellungen inzwischen Teil der Kultur. Um nicht völlig unglaubwürdig zu wirken, müssten Prüfstellen ihre Kriterien überdenken und dem Wertewandel anpassen.

Eine weitere Ursache sieht Seim darin, dass manche Filme schlicht falsch bewertet wurden. Im Fall von "The Texas Chain Saw Massacre" hätten sich die Prüfer vom reißerischen Titel und vom Cover des Videos zu sehr beeindrucken lassen. Dabei sei ihnen entgangen, dass es zu dem im Titel angedeuteten "Massaker" im Film selbst gar nicht komme. Auch die genrespezifischen Stilmerkmale hätten die Prüfer gar nicht verstanden. Die neuerliche gerichtliche Freigabe ist für Seim nun Beleg dafür, dass die Prüfer und Richter den Film inzwischen als Kunstwerk wahrnehmen. Als solches sei er nicht zwingend den Kriterien des alltäglichen guten Miteinanders unterworfen.

"Das Böse liegt im Menschen, nicht in den Filmen"

Dieser liberalen Tendenz kann Seim durchaus positive Aspekte abgewinnen. Zum einen beharrten die Prüfstellen nicht auf überkommenen Wertvorstellungen, sondern seien in der Lage, ihre Kriterien anzupassen. Derartige Filme würden außerdem die Schlechtigkeit des Menschen auf besondere Weise thematisieren. Man könne einen Film zwar verbieten, jedoch verbiete man damit nicht das Bedürfnis, derartige Filme anzusehen. Noch viel weniger unterbinde man damit die Schlechtigkeit des Menschen. "Es ist natürlich viel einfacher, einen Film unter den Tisch fallen zu lassen, als das wahre Grauen zu beseitigen", so Seim gegenüber "DRadio Wissen".

Einen Zusammenhang zwischen Gewaltfilmen und Gewalttaten sieht der Zensurexperte indes nicht. Auch im "Dritten Reich" habe man vor allem unverdächtige Heimatfilme produziert, während zugleich Menschen auf üble Weise umgebracht wurden. Schlimmer sind für Seim Filme mit unsichtbarer Gewalt. Als Negativbeispiel nannte er den als Kinderfilm ausgegebenen Streifen "Die Brücke nach Terabithia" (2007). Der Film konfrontiere die Kinder mit dem plötzlichen Tod einer geliebten Person, ohne eine weitere Erklärung dafür zu liefern. Dadurch zerstöre er ohne jegliche sichtbare Gewaltanwendung das Urvertrauen der Kinder durch eine "hinterlistige Verlustangst und Hoffnungslosigkeit".

Keine völlige Senkung der Toleranzgrenze

Seim betonte außerdem, dass es zu einseitig wäre, nur von einer freier gehandhabten Filmbewertung zu sprechen. Es gebe auch Beispiele von Einstufungen, die als zu streng empfunden werden. So habe die FSK die Altersbeschränkung für den Film "Keinohrhasen" (2007) von sechs auf zwölf Jahre erhöht, da der Film Szenen mit obszöner Sprache enthalte. Daraufhin habe es zahlreiche Proteste gegeben, unter anderem vom Filmverleih selbst, der durch diese Entscheidung potentielle Kundschaft verloren gehen sah.

Wie Seim dem Radiosender sagte, gebe es bei der Filmbewertung nur grobe Kriterien für eine Bewertung. Letztlich werde jeder Film für sich begutachtet. Man achte etwa auf die künstlerische Umsetzung oder die Gesamttendenz des Films. Vermittle ein Film positive Werte, könne dies einzelne Gewaltszenen aufwiegen, der Film freigegeben werden.

Seim zufolge stehen zurzeit etwa 2.600 Filme auf dem Index der BPjM, 450 davon unterliegen einem gerichtlichen Totalverbot. Die Indizierung aufgrund von Gewaltverherrlichung sei jedoch zunehmend ein "symbolischer Akt der Grenzziehung". Denn in Ländern wie Österreich oder in den Benelux-Staaten gebe es zwar auch Freigabe-Regelungen im Sinne des Jugendschutzes. Ein Verbot aufgrund von Gewaltverherrlichung kennten diese Länder allerdings nicht. Durch das Internet und die Öffnung der Grenzen seien in Deutschland verbotene Filme aus diesen Ländern immer leichter zu beziehen. (pro)

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