„Gehört konfessioneller Religionsunterricht in staatliche Schulen? Haben wir nicht eigentlich die Trennung von Staat und Religion in Deutschland?“, lauteten die Leitfragen der HR-Redaktion für die einstündige Sendung „Der Tag“. Die Sendung wolle die „Entwicklung des religiösen Bewusstseins in Deutschland in den Kirchen und bei evangelikalen christlichen Strömungen“ beleuchten, so die Ankündigung.
Initiative „Pro-Reli“ als Folge eines Ehrenmordes
Die Initiative „Pro Reli“ musste 175.000 Unterschriften sammeln, um einen Volksentscheid durchführen zu können. Die Initiatoren wollen, dass konfessioneller Religionsunterricht nicht mehr freiwillig und zusätzlich zum Pflichtfach Ethik stattfindet, sondern gleichberechtigt alternativ gewählt werden kann. Der Auslöser, so der HR, war der Fall einer jungen Kurdin, die im Februar 2005 von ihrem Bruder an einer Berliner Bushaltestelle erschossen worden war. Ihr freier Lebensstil habe Schande über die Familie gebracht, so die Begründung für den Mord. „Als daraufhin Schüler Verständnis für das Verbrechen zeigen, gerät der Berliner Senat unter Druck. Er soll nun ein Forum schaffen, in dem Schüler verschiedener Herkunft über ihre moralischen Ansichten diskutieren können. Die Lösung: ein gemeinsamer Ethik-Unterricht. Den beschließt das Abgeordnetenhaus mit Stimmen von SPD, der Linken und einem Teil der Grünen im März 2006“, heißt es in der HR-Sendung.
Als Folge wählten viele Berliner Schüler das freiwillige Wahlfach Religion ab. Der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber kritisierte, der Religionsunterricht werde an den Rand gedrängt. Eltern klagten vor dem Bundesverfassungsgericht, doch das lehnt die Beschwerde ab. Im März 2007 gründet sich die Initiative „Pro Reli“, die seit September 2008 Unterschriften sammelte. Erst eine breite Werbekampagne sorgte für zahlreiche Unterschriften. Auch Radiospots wurden geschaltet, unter anderem mit Prominenten wie Günther Jauch, Desiree Nick, Arne Friedrich, Wolfgang Thierse. Die benötigten Unterschriften kamen zusammen, es wird also einen Volksentscheid geben. Wenn mindestens 609.000 Berliner Bürger für „Pro Reli“ stimmen, müsste der Senat Religion als Wahlpflichtfach einführen.
„Das Grundgesetz sieht Religionsunterricht vor“
„Die Verfasser unseres Grundgesetzes waren der Meinung, dass Religion zu wichtig ist, als dass man sie aus dem Bildungsprojekt Schule ausklammern kann“, erinnert Eckhard Nordhofen, Dezernent für Bildung und Kultur im Bistum Limburg. „Deswegen haben sie in Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes gesagt, Religion ist ein ordentliches Lehrfach.“ Der Staat habe jedoch kein Mandat in Weltanschauungsfragen, sondern Staat und Religion seien auch nach dem Grundgesetz getrennt. „Nur in totalitären Staaten gibt es das, dass bei den großen, letzten Fragen in die Köpfe reinregiert wird.“ Es dürfe keine „feindselige Trennung“ von Staat und Religion geben, so Nordhofen. Religion könne vielmehr ein „Korrektiv des Staates sein“. Die Verfassung verlange sowohl eine „negative Religionsfreiheit“, es dürfe also keinen Zwang in der Religionswahl geben, als auch eine „positive Religionsfreiheit“, nach der die Religion das Recht hat, sich zu entfalten. „Deswegen sind die Kirchen diejenigen Institutionen, die als Partner des Staates im Fach Religion die Inhalte bestimmen.“
Außerdem argumentiert der Theologe und Philosoph, es müsse den Kindern eine „Binnenperspektive“ in Sachen Religion ermöglicht werden: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wirklich verstehen, wenn man sie nur beobachtet. Wenn ich wissen will, was Religion ist, muss ich auch die Möglichkeit haben, Religion auf der Erlebnisebene kennen zu lernen – auch die Frage an mich heranzulassen: ist das nun alles wahr, oder ist das eine Art Bewusstseinskrankheit?“ Nordhofen vergleicht dies mit Musik, die man auch nicht wirklich kennenlerne, wenn man lediglich Partituren studiere, ohne sie zu jemals zu spielen.
Atheisten: „Kaum Trennung zwischen Kirche und Staat in Deutschland“
Auch die Seite der Konfessionslosen und Atheisten lässt die HR-Sendung zu Wort kommen. In den 70er Jahren wurde der „Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten“ (IBKA) gegründet, der sich als politische Lobby für diejenigen sieht, die gegen kirchliche Einflüsse im Alltag vorgehen wollen. René Hartmann von der IBKA Deutschland sagt: „Mit der Trennung von Staat und Religion ist es in Deutschland nicht weit her.“ Die Kirchensteuer werde etwa vom Staat eingezogen, außerdem sei es in den Augen des IBKA inakzeptabel, dass für den Kirchenaustritt eine Gebühr verlangt werde, oder dass es einen religionsgebundenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gebe.
Die Moderatorin stellt fest: „Auffällig ist, dass sich seit etwa fünf Jahren verstärkt neue Atheistengruppen gründen.“ So wie 2003 in den USA die „Brights“. Offenbar sähen immer mehr Menschen diese Vereine als einzig mögliche Lobby für ihre Interessen, vermutet Volker Radek, Mitbegründer der „Brights“ im Gebiet Rhein-Main. „Rund ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung ist inzwischen konfessionslos, und diese Menschen werden derzeit zu wenig repräsentiert“, so Radek.
Auch Michael Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der religionskritischen Giordano Bruno-Stiftung, kommt in der HR-Sendung zu Wort. „Wir brauchen einen für alle verbindlichen Unterricht, in dem über die zentralen Werte des Zusammenlebens diskutiert werden kann, ein Unterricht, der auch vermittelt, was Religionen sind und wie sie sich entwickelt haben“, ist er überzeugt. „Aber wir brauchen dafür keinen konfessionellen Religionsunterricht.“ Wenn Kinder und Jugendliche in unterschiedliche Religionsunterrichte geschickt würden, trenne man sie sie voneinander, „und sie reden nicht mehr miteinander über diese zentralen Fragen des Lebens, sondern eher übereinander“, so Schmidt-Salomon. „Es ist nicht Aufgabe der Schule, Bekenntnisse zu vermitteln, sondern Erkenntnisse.“
Viele „spirituelle Wanderer“ in Deutschland
Klaus Hofmeister, HR-Kirchenredakteur, ist der Meinung, dass die so genannte „Wiederkehr der Religion“ im Grunde eine „Wiederkehr der Religion in den Medien“ gewesen sei. Allerdings fühlten sich die Menschen heutzutage vielleicht eher dazu herausgefordert, seinen eigenen Standpunkt in Sachen Religion zu klären. Statistisch kämen auf einen Wiedereintritt in die katholische Kirche neun Austritte, und es gebe kontinuierlich weniger Gottesdienstteilnehmer. Dies zeigten der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung sowie eine Studie der Identity-Foundation in Düsseldorf. Demnach seien zwei Drittel der Deutschen spirituell offen und interessiert, dies könne jedoch nicht mehr mit Kirchenzugehörigkeit identifiziert werden. Man könne also von „spirituellen Wanderern“ sprechen, so Hofmeister, – und das nicht nur im Hinblick auf den Anstieg von Pilgerreisen.
Der Journalist Wolf Schmidt verfasste erst kürzlich für die „Tageszeitung“ einen Beitrag über die „Evangelikalen“ in Deutschland (pro berichtete). „Der Begriff umfasst ein sehr unübersichtliches Spektrum“, erklärt er in der Sendung. „Das reicht von Pietisten in den Landeskirchen bis hin zu neuen Freikirchen, Bibelkreisen, Sozialeinrichtungen, charismatisch-pfingstlerischen Gruppen, die alle eins gemeinsam haben, dass sie an eine wortwörtliche Auslegung der Bibel glauben. Viele bezeichnen sich selbst auch nicht als Evangelikale.“
Die Deutsche Evangelische Allianz , die man als Dachverband der Evangelikalen bezeichnen könne, vertrete etwa 1,4 Millionen evangelikale Christen, andere Schätzungen gingen von 2,5 Millionen Anhängern dieser Richtung aus, so Schmidt.
Nur wenig Muslime beteiligten sich an „pro Reli“
In Berlin beteiligten sich auch Muslime an der Diskussion zur Frage nach „Pro Reli“ oder Ethik-Unterricht. Die „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ (DITIB), der in Berlin 13 Moscheen angehören, hat ebenso wie die Kirchen Unterschriften für Religion als Wahlpflichtfach gesammelt. Viele Unterschriften hätten sie zwar nicht gesammelt, so der HR. An den meisten Berliner Muslimen gehe die Diskussion um den Religionsunterricht vorbei. Aber die Zusammenarbeit mit den Kirchenvertretern bezeichneten sie als Erfolg.
„Zu was führt die Verknüpfung oder Trennung von Kirche und Religion?“, fragt die Moderatorin zum Schluss. Antworten auf diese Frage erhoffte sie sich vom Kirchenkritiker Hubertus Mynarek. Der plädiert für den Ethik-Unterricht: „Religion kann man haben oder nicht. Das kann dir keiner zum Vorwurf machen. Aber Ethik muss jeder Mensch haben. Deswegen schon müsste ein universaler Ethik-Unterricht für alle da sein. Denn ein guter Mensch sollst du sein, ein religiöser Mensch musst du nicht sein.“
Am Beispiel der Vereidigung von Barack Obama zum 44. Präsidenten der USA, der einen Eid auf die Bibel ablegte, könne man sehen, dass dort die Grenzen zwischen Staat und Religion „fließend“ seien. Der Theologe ist überzeugt: „Die Bibel ist keineswegs das heilige Wort, als das es die Kirchen hinstellen, sondern es ist eine Religionsgeschichte über die Jahrtausende hinweg. Es hat die schlimmsten, pornographischsten, obszönsten, grausamsten ebenso wie wunderbare Stellen. Wenn jetzt also der Präsident Amerikas auf die Bibel den Eid ablegt, hat er eigentlich Narrenfreiheit. Dann könnte er auch alle seine Kriege damit rechtfertigen, denn darin werden ja viele Kriege im Namen Gottes gerechtfertigt.“ (PRO)
Die entsprechende einstündige Sendung „Der Tag“ kann online heruntergeladen werden.