HR-Diskussion: Offene Fragen in der „Großen Koalition“

Am Sonntag haben die evangelischen Theologen Annette Kick, Peter Steinacker und Erich Geldbach sowie der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Jürgen Werth, über die "Hardliner des Herrn" diskutiert. Es ging um den Umgang mit "christlichen Fundamentalisten". Die Diskussion im Hessischen Fernsehen offenbarte großes Einvernehmen - jedoch auch unterschiedliche Auffassungen etwa über das Verständnis und die Auslegung der Bibel durch "christliche Fundamentalisten".
Von PRO

Hintergrund der Diskussion war der massive Protest zahlreicher Christen gegen den Film „Die Hardliner der Herrn – Christliche Fundamentalisten in Deutschland“, der vom Hessischen Rundfunk (HR) produziert worden war. Nach der Ausstrahlung am 11. Juli im Ersten waren bei den Sendern mehr als 500 Zuschriften eingegangen, in denen sich Zuschauer überwiegend kritisch mit der in dem Film gezeigten Darstellung von „christlichen Fundamentalisten“ äußerten. Aufgrund dieses Protestes hatte sich der HR entschlossen, den Beitrag von Autor Tilman Jens erneut auszustrahlen und im Anschluss eine Diskussion über die Inhalte des Filmes mit Vertretern der evangelischen Kirche und Evangelikalen zu senden.

Entschuldigung für „brennende Bibel“

Vor Ausstrahlung des Beitrages entschuldigte sich HR-Moderator Meinhard Schmidt-Degenhard für die Szenen, in denen eine „brennende Bibel“ zu sehen war. Der Sender habe keine religiösen Gefühle verletzen wollen, die mit Flammen hinterlegte Bibel sei symbolisch eingesetzt worden. „Zu den inhaltlichen Aussagen dieses Films stehen wir uneingeschränkt“, fügte Schmidt-Degenhard hinzu. In der Fassung, die nun gezeigt wurde, waren die Szenen nicht mehr enthalten.

Dennoch lieferte der Beitrag ausreichend Themen für die anschließende Diskussionssendung, an der der Theologe und Baptist Erich Geldbach, die Weltanschauungsbeauftrage der Württembergischen Landeskirche, Pfarrerin Annette Kick, der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, Peter Steinacker und der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz und Direktor des Evangeliums-Rundfunks (ERF), Jürgen Werth, teilnahmen. Moderiert wurde die Sendung von Schmidt-Degenhard – der ob einer nicht zu übersehenden Einigkeit zwischen den Teilnehmern in einigen Fragen sogar von einer „Großen Koalition“ von Evangelischen und Evangelikalen sprach.

Überwiegend einig waren sich die Teilnehmer in der Abgrenzung von „christlichen Fundamentalisten“. Steinacker etwa lehnte es ab, Evangelikale pauschal als Fundamentalisten zu bezeichnen. „Fundamentalismus ist mit Gewalt verbunden gegen Menschen, die meinen Glauben nicht teilen“, so der Hessen-Nassauische Kirchenpräsident. Wobei damit nicht geklärt war, wo die Unterschiede zwischen Evangelikalen und Fundamentalisten liegen, wie die Weltanschauungsbeauftragte Annette Kick betonte. „Die Grenze zwischen beiden Gruppen muss bestimmt werden“, so Kick.

Bibeltreuer Wortterror: Kennzeichen von „Fundamentalisten“?

Diese Grenze jedoch zu ziehen, fiel den Diskutanten schwer. Pfarrerin Kick meinte, dass sich Absolventen von „außeruniversitären, bibeltreuen Ausbildungsbereichen“ auch in Kirchengemeinden engagierten und etwa in Kindergruppen tätig seien. „Christliche Fundamentalisten“ seien zudem im Medienbereich oder mit Verlagen tätig, was laut Kick ebenfalls eine „Gefahr“ darstelle. Jürgen Werth als Vertreter der Deutschen Evangelischen Allianz lehnte es ab, sich selbst als „Fundamentalist“ zu bezeichnen, obwohl unter Evangelikalen die Berufung auf unverrückbare Prinzipien wie das reformatorische „sola scriptura“ gelte. Es sei wichtig, Menschen zu vermitteln, dass der Glaube aus dem lebendigen Wort Gottes komme. Gleichwohl seien die Meinungen über das Verständnis der Bibel und deren Auslegung unter Evangelikalen nicht einheitlich.

Der Theologe Erich Geldbach, ehemaliger Professor für Ökumenik und Konfessionskunde an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, diagnostizierte in den Differenzen zwischen evangelischen und „fundamentalistischen Christen“ das „Problemwort ‚bibeltreu'“. In diesen Kreisen dominiere ein wörtliches Verständnis der Bibel. „Diese Ansicht aber bedeutet: Ich habe die Hoheit  in der Interpretation der Bibel. Das schließt die Ansichten anderer aus. Die Evangelikalen sollten hellhörig werden, ob sie sich weiter einbinden lassen von solchen Fundamentalisten“, so Geldbach. Es sei „Wortterror“, wenn man „an Buchstaben klebt“, so Geldbach.

Steinacker betonte, dass er unter evangelikalen Christen durchaus eine differenziertere Sicht über die Bedeutung der Bibel beobachte. „Die Evangelikalen haben lange nicht verstanden, dass man an die Jungfrauengeburt glauben kann, ohne dass man darunter einen biologischen Vorgang sieht“, so der Kirchenpräsident. „Das hat sich auch in anderen theologischen Fragen geändert.“

Ein „strikt fundamentalistischer Gedanke“ werde zudem von so genannten Kreationisten vertreten, die den biblischen Schöpfungsbericht wörtlich nähmen und davon ausgingen, dass die Erde tatsächlich in sechs Tagen erschaffen wurde. Laut Jürgen Werth seien auch in dieser Frage unter Evangelikalen unterschiedliche Ansichten und Auslegungen zu finden, die zwischen einem wörtlichen Verständnis und einer symbolischen Auslegung variierten.

„Landeskirchliche Selbstsäkularisation“

Bei der grundsätzlichen Frage, wie es zu einem Erstarken „christlicher Fundamentalisten“ gekommen sei, äußerten sich die Vertreter der Landeskirchen durchaus selbstkritisch. Annette Kick etwa machte eine „landeskirchliche Selbstsäkularisation“ als Grund dafür aus, dass konservative Christen an Raum gewinnen. Steinacker diagnostizierte mit einem Wort Bonhoeffers ein „religionsloses Zeitalter der Theologie“ in den 70er und 80er-Jahren, was Christen dazu gebracht habe, sich in vielen Bereichen von der Kirche abzuwenden.

Der Theologe Geldbach sieht diese Entwicklung der Landeskirche bis heute: „Wir haben Mega-Kirchen auf dem Papier, jedoch ein Missverhältnis von Größe und Wenigen, die am kirchlichen Leben partizipieren. Da besteht die Gefahr, dass Fundamentalisten in die Kirche einbrechen.“ Ob es eine Gefahr ist, dass sich die Mehrzahl der evangelikalen Christen bis heute in den evangelischen Landeskirchen engagieren, war damit jedoch nicht gesagt.

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