Homeschooling in Deutschland: „Wie in Amerika vor 30 Jahren“

Homeschooling ist ein Reizwort für Politiker, Schulämter und Gerichte. Wenn Eltern ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen zu Hause unterrichten wollen, schreitet der Gesetzgeber ein. Ganz aktuell: Ein Elternpaar aus Hessen wurde am Mittwoch wegen Verletzung der Schulpflicht zu drei Monaten Haft verurteilt. Doch warum sträubt sich der Staat gegen alternative Unterrichtsformen? Ein Gespräch mit dem US-amerikanischem Rechtsexperten Mike Donnelly.
Von PRO

Rosemarie und Jürgen Dudek aus dem Werra-Meißner-Kreis weigern sich, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Die beiden sind religiös und unterrichten ihre sieben Kinder zu Hause. Deswegen wurden die Eltern bereits in zwei Prozessen zu Geldstrafen von insgesamt 1.050 Euro verurteilt. Das Kasseler Landgericht verurteilte das Ehepaar am Mittwoch zu Gefängnisstrafen, Rosemarie und Jürgen Dudek müssen je drei Monate in Haft. Die Strafe wurde ohne Bewährung verhängt. Beide würden „dauernd und hartnäckig“ ihre Kinder von der Schule fernhalten, deshalb sei die Haftstrafe unumgänglich, hieß es in der Urteilsbegründung.

Das Ehepaar Dudek unterrichtet seine Kinder seit Jahren zu Hause, hat dafür  zwei kleine Klassenzimmer eingerichtet. Doch da der Hausunterricht die Schulpflicht verletzt, hat das Schulamt Werra-Meißner Strafantrag gestellt. Zwar hatte im Mai 2007 das Familiengericht Eschwege festgestellt, dass Rosemarie und Jürgen Dudek das Kindeswohl nicht gefährden und das Verfahren eingestellt. Dennoch hatte das Gericht eine Geldstrafe in Höhe von 900 Euro verhängt und gleichzeitig Kritik am Schulamt geübt. Damals warf Amtsrichter Peter Höbbel dem Schulamt vor, Strafantrag gestellt zu haben, anstatt den Antrag der Familie auf Zulassung ihres Homeschoolings zu bearbeiten. Außerdem habe das Schulamt die Eltern nie besucht, um ein Urteil über den Hausunterricht fällen zu können, berichtet der Hessische Rundfunk.

US-Anwalt Donnelly im pro-Interview: Warum Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen

Mike Donnelly ist ein US-amerikanischer Rechtsanwalt, der sich auf dem Gebiet der rechtlichen Fragen von Homeschooling spezialisiert hat. Donnelly berät Eltern, die ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen nicht in die Schule schicken, sondern sie zu Hause unterrichten wollen. Mit Mike Donnelly haben Daniel Höly und Andreas Dippel gesprochen.

pro: Was sind die wesentlichen Gründe, warum sich Eltern dafür entscheiden, ihre Kinder von einer Schule zu nehmen und sie stattdessen zu Hause zu unterrichten?

Donnelly: In Amerika gibt es für Eltern zahlreiche Gründe dafür. Die drei häufigsten sind, dass Eltern ihre Kinder aus Sicherheitsgründen von der Schule nehmen. Sie sorgen sich um die oft anzutreffende Gewalt gerade an staatlichen Schulen. Zweitens möchten Eltern, dass ihre Kinder gemäß ihres akademischen Potentials, ihren Begabungen und individuellen Interessen unterrichtet werden, es sind also pädagogische Gründe. Der dritte Grund, der von Eltern häufig angegeben wird, ist der Wunsch, ihren Kindern einen werteorientierten Unterricht zu bieten.

Aber sind das tatsächlich ausreichende Gründe, Kinder von der Schule zu nehmen? Kritiker würden doch sofort einwenden, dass die Gewalt an Schulen doch nicht so ausgeufert sein kann, dass Kinder im schulischen Umfeld bedroht sind. Ganz zu schweigen von dem Wunsch der Eltern, ihren Kindern einen werte- oder glaubensbasierten Unterricht zu erteilen. Den findet man zum Teil auch an öffentlichen oder privaten Schulen.

Natürlich, viele würden den Eltern auch raten: Schickt eure Kinder doch einfach auf eine Privatschule. Tatsächlich ist es aber so, zumindest in Amerika, dass auch an privaten Schulen zumindest ein aggressiver Umgang unter den Schülern längst Einzug gehalten hat. Gewalt hat verschiedene Ausdrucksformen und muss sich nicht alleine auf eine tägliche körperliche Bedrohung beschränken. Mobbing unter Schülern greift immer weiter um sich. Wichtiger als diese Frage sind jedoch die Chancen, die viele Eltern im Homeschooling sehen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Schüler, die mit anerkannten Materialien zu Hause unterrichtet wurden, einen wesentlich höheren Bildungsgrad erreichen als Schüler aus staatlichen und sogar privaten Schulen. Durch die individuelle Betreuung lernen Schüler einfach mehr und besser. Auch für hochbegabte Kinder, die in der Schule unterfordert sind, kann Homeschooling eine Alternative sein.

Das mag alles verständlich sein – jedoch werden mindestens Unverständnis, mehr noch Befürchtungen laut, wenn Eltern ihre Kinder aufgrund religiöser Überzeugungen aus der Schule nehmen. Wird den Kindern nicht eine eigene Weltanschauung vermittelt, fernab jeglicher Kritik oder Debattenkultur auch in Glaubensfragen?

Zunächst einmal sollten Sie wissen, dass es in Amerika so etwas wie einen Religionsunterricht nicht gibt. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Amerika keine staatlichen Kirchen, die für den Religionsunterricht zuständig sein könnten. Frei organisierte Kirchen können in den USA keinen Religionsunterricht anbieten. Daher ist es doch verständlich, dass Eltern den Wunsch haben, ihren Kindern im Rahmen der schulischen Ausbildung dennoch mit Fragen des Glaubens zu konfrontieren. Genau das ist beim Homeschooling natürlich möglich.

Insbesondere Politiker in Deutschland wenden gegen Homeschooling auch ein, dass Kinder in einem sozialen Umfeld aufwachsen sollten. Verlieren nicht tatsächlich Kinder und Jugendliche, die morgens nicht zur Schule gehen, sondern deren Klassenzimmer im heimischen Kinderzimmer ist, den Kontakt zu Gleichaltrigen?

Es wird tatsächlich häufig die Befürchtung nach der Bildung einer Parallelgesellschaft geäußert. Doch die Fakten und Erfahrungen sprechen für sich: In Amerika sind Jugendliche, die zu Hause unterrichtet werden oder wurden, überdurchschnittlich ehrenamtlich engagiert. Sie sind Mitglieder in Sportvereinen, arbeiten in ihrer Freizeit ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen oder in der Kirchengemeinde. Durchschnittlich ist ein Homeschooling-Schüler in sage und schreibe fünf Bereichen ehrenamtlich engagiert. Das ist die Wahrheit und die deckt sich nicht mit den von Ihnen genannten Befürchtungen. Übrigens wird als Ziel der Schule häufig die Sozialisation der Schüler genannt. Ich meine, das Ziel sollte vielmehr die Ausbildung sein.

Bevor wir über Deutschland und Europa sprechen – wie sieht eigentlich die Situation für Homeschooling in Amerika aus? Sie sind als Anwalt für Familien tätig, die ihre Kinder zu Hause unterrichten. Ist Ihr Job bei der Liberalität in Amerika, was die Frage nach der Legalität von Homeschooling angeht, nicht überflüssig?

Grundsätzlich ist es in den USA allen Eltern gestattet, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Unser Rechtssystem variiert jedoch von Staat und Staat und Eltern werden häufig mit falsch verstandenen Interpretationen der Gesetzeslage durch die Behörden konfrontiert. In diesen Fragen vertrete ich die Eltern oder Erziehungsberechtigten.

Geht es nach den Befürwortern von Homeschooling, soll diese Form des Unterrichts auch in Deutschland staatlich anerkannt werden. Das bedeutet dann auch, dass etwa auch Muslime ihre Kinder zu Hause unterrichten können – was durchaus ein nicht zu bestreitendes Konfliktpotential birgt. In 20 Jahren, so Experten, werden in Deutschland etwa 7 Millionen muslimische Schüler leben. Sehen Sie das nicht als Problem?

Nein, ich halte das nicht für ein Problem, es ist eine unbegründete Angst. Denn auch in dieser Frage schwingt die Furcht vor einer Parallelgesellschaft mit, insbesondere jedoch die Unterstellung, dass Homeschooling Parallelgesellschaften fördere. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ein Blick in Länder wie Frankreich, Großbritannien, Irland, Norwegen, Niederlande, Rumänien oder Bulgarien genügt um zu sehen, dass Kinder und Jugendliche, die zu Hause unterrichtet werden, überdurchschnittlich viel Engagement außerhalb ihres Elternhauses und der schulischen Bildung zeigen. Genau das verhindert doch gerade die Bildung von Parallelgesellschaften.

Dieses Argument trifft aber auch Christen, die ihre Kinder aus Glaubensgründen von der Schule nehmen. In den Medien wird beim Thema Homeschooling immer wieder Fälle dargestellt, in denen Kindern beim Unterricht in den eigenen vier Wänden nicht die Evolutionstheorie beigebracht oder Fragen zur Sexualität nicht thematisiert werden. Auch hier rufen Politiker laut: Wehret den Anfängen, die Kinder werden indoktriniert. Oder nicht?

Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass Eltern ein fundamentales Recht in Fragen der Bildung ihrer Kinder haben. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff des „Erziehungsberechtigten“. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen Staat und Eltern kommt, dann sind es die Erziehungsberechtigten, die entscheiden, was für ihre Kinder das Beste ist. Das heißt, Eltern sollten über die Form und den Zeitpunkt der Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder entscheiden. Warum sollten sich Eltern vorgeben lassen, wann sie mit ihren Kindern über Fragen der Sexualität sprechen? Wenn einige Eltern der Ansicht sind, dass dieses Thema in Schulen zu früh behandelt wird, dann dürfen sie diese Meinung auch sagen, ohne gleich als Förderer einer Parallelgesellschaft gebrandmarkt zu werden. Und noch etwas: Es ist absurd zu behaupten, dass Kinder, die mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel aufwachsen, indoktriniert werden. Homeschooling will Kinder nie von der Welt abschotten, im Gegenteil, sie auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten.

Zu Deutschland: Hier ist der Unterricht von Kindern außerhalb einer staatlich anerkannten Schule im Gegensatz zu einigen anderen Staaten nicht legal. Wird sich daran irgendwann etwas ändern?

Zunächst einmal: Es ist nicht richtig, dass Homeschooling in Deutschland illegal ist. Es sieht zwar so aus, aber es gibt durchaus einige Familien, denen gestattet wurde, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten.

Sie meinen Kinder von Zirkusartisten oder anderen Gruppen, die meistens unterwegs sind?

Nein, nicht primär. Grundsätzlich herrscht in Deutschland keine Bildungs-, sondern Schulpflicht. Das bedeutet, dass alle Kinder zur Schule gehen müssen, es sei denn, sie haben eine Entschuldigung. Jedem steht also die Möglichkeit offen, für Homeschooling eine Genehmigung zu beantragen, wenn er dafür Gründe angeben kann. Jedoch wird das zuständige Schulamt einem solchen Antrag nicht zustimmen. Das Problem in Deutschland ist also vielmehr, wie Eltern oder Erziehungsberechtigte von staatlicher Seite behandelt werden. Die Behörden stellen Homeschooling und Gefährdung von Kindeswohl auf eine Stufe, ohne genau hinzuschauen. Und daraus folgt dann: Wenn Behörden einen „Fall von Homeschooling“ ahnden, dann müssen die Eltern Gefängnisstrafen absitzen, enorme Strafen zahlen oder ihnen wird damit gedroht, ihre Kindern in die Obhut des Jugendamtes zu nehmen. Das Sagen in Erziehungs- und Bildungsfragen hat das Schul- und Jugendamt – nicht die Eltern. Hier liegt das bereits erwähnte Grundproblem.

Was also sollte sich Ihrer Ansicht nach ändern?

Auf Bundes- und Landesebene müssen Gesetzte eingebracht und verabschiedet werden, die den Unterricht von Kindern zu Hause mit vorgegebenen und überprüfbaren Materialien für alle Eltern gestatten. Die Rahmenbedingungen müssen von staatlicher Stelle vorgegeben werden. Übrigens hatten in Amerika Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichteten, vor 30 Jahren die gleichen Probleme wie heute hier in Deutschland: Sie wurden bestraft. Doch Tausende Eltern machten Homeschooling zu einem öffentlichen Thema, bis sich Politiker mit einer Gesetzesänderung befassten. Seitdem können Eltern darüber entscheiden, was das Beste für ihr Kind ist – und nicht der Staat.

Herr Donnelly, danke für das Gespräch!

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