PRO: Sie arbeiten als Missionar auf La Palma. Wie beeinflusst der Vulkan das Leben auf der Insel?
Rodriguez: Es gab vor rund zehn Jahren schon mal einen Erdbeben-Schwarm, der viele Experten hellhörig hat werden lassen. Bis zum Sommer ist dann nichts passiert. Im September wurden die Magma-Bewegungen immer intensiver. Die Erdbeben kamen immer näher an die Oberfläche. Zwei Tage vor dem Ausbruch wurden behinderte und pflegebedürftige Menschen in den Regionen evakuiert. Die Rathaus-Mitarbeiter sind von Haus zu Haus gezogen und haben die Bevölkerung gebeten, sich auf die Evakuierung vorzubereiten. Der Vulkan war noch auf der Warnstufe gelb eingestuft. Aber am 19. September ging es los. Manche Menschen hatten nur 15 Minuten Zeit, um ihr Haus zu verlassen. Seit dem Wochenende spuckt der Vulkan ja keine Lava mehr. Aber offiziell gilt der Vulkan erst zehn Tage nach der letzten Aktivität als erloschen.
Welchen konkreten Einfluss hat der Ausbruch auf das Leben der Gemeindemitglieder?
Von dem Lavastrom sind wir selbst etwa vier Kilometer entfernt. Wir haben zwei Familien aus unserer Gemeinde, deren Häuser zerstört wurden. Etliche haben zudem ihre Bananenplantagen verloren oder durch zerstörte Infrastruktur keinen Zugang mehr zu ihren Wohnungen. 500 der 7.000 Evakuierten leben noch in Hotels. Der Rest ist bei Freunden, Bekannten oder der Familie untergebracht.
Leidet auch das Gemeindeleben darunter?
Bis vor zwei Wochen haben 15 bis 20 Gemeindemitglieder fast jeden Tag in der Mehrzweckhalle als Volontäre mitgearbeitet. Wir sind keine Psychologen, aber wir wollten Seelsorge anbieten. Manche haben sich erst zwei Monate nach dem Vulkanausbruch gemeldet. Sie haben sich geschämt oder meinten, andere hätten die Hilfe nötiger. Hier haben sich Lebensdramen abgespielt. Selbst wenn jemand Ersatz für sein Haus bekommt, ist damit oft eine ganze Lebensgeschichte verschüttet gegangen. Seit 14 Tagen ist die Arbeit in der Mehrzweckhalle beendet und das Leben geht weiter. Es gibt eine Solidaritäts-Kleiderkammer und auch jede Menge Geld-Spenden. Das Geld haben wir bei örtlichen Geschäften eingezahlt und verteilen jetzt Gutscheine für Kleidung, Lebensmittel oder kleine Haushaltsgeräte.
Ist ein normales Leben schon in Sicht?
Die betroffenen Menschen brauchen diese Normalität. Wer von Anfang an evakuiert war, wollte nicht, dass der Zustand zu einem Status quo wird. Wir waren ja kein Warenhaus, sondern eine Anlaufstelle für bestimmte Dinge. Außerdem sollten die Menschen wieder in ihren alten Geschäften einkaufen können. Diese leiden genauso unter dem Vulkanausbruch. Die Menschen haben viele Dinge des täglichen Bedarfs geschenkt bekommen, während die Geschäfte auf ihren Produkten sitzen blieben und Angestellte entlassen mussten. Deswegen ist die Rückkehr zur Normalität auch wichtig.
Wie gut kann man unter diesen Umständen Weihnachten feiern?
Man hat schon ein beklemmendes Gefühl. Die Weihnachtsbeleuchtung fällt in diesem Jahr spärlicher aus, eine Weihnachtskrippe gibt es gar nicht. Sowohl der Vulkan als auch die hohen Infektionszahlen beeinträchtigen die Aktivitäten. Wir wollten als Gemeinde deswegen ein Weihnachtsprogramm mit Spielen, Singen und anderen Aktivitäten durchführen. Bisher fehlt uns von der Inselregierung noch die Antwort, weil sie vor allem mit den Corona-Maßnahmen beschäftigt ist. Wir warten hier noch auf die Antwort. Bis zum Epiphanias-Tag am 6. Januar könnten wir mit unseren Freiwilligen etwas anbieten.
Was gibt Ihnen trotzdem Hoffnung?
Jesus. Ich würde schon lange auf dem Zahnfleisch gehen, wenn ich nur meine Energie hätte, um dem Elend und den verzweifelten Geschichten zu begegnen. Wir müssen den Menschen ganz praktisch helfen. Wir haben ganz viele Spenden erhalten. Dafür sind wir dankbar. Spanier sind aber auch sehr stolz, bevor sie fremde Hilfe annehmen. Deswegen arbeiten wir mit den örtlichen Sozialämtern und Rathäusern zusammen. Nicht nur die Betroffenen auch die Volontäre waren an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Hier musste ja nicht „nur“ ein Unfall abgewickelt werden. 7.000 Menschen haben 1.200 Häuser verloren. Da reicht keine Umarmung oder ein Satz: „Das wird schon werden.“ Ohne festen Halt im Glauben hätten wir mit dieser Arbeit schon viel früher aufhören müssen.
Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft?
Das Projekt wird uns noch über Jahre und Jahrzehnte beschäftigen. Es geht darum, Straßen, die Wasserversorgung, die Elektrizität und die Telefonverbindungen zu erneuern. Dadurch werden Arbeitsplätze geschaffen. Viel wichtiger ist aber die Frage, wie lange die Menschen diesen Zustand aushalten. Wenn das nicht schnell genug geht, wird La Palma einen Aderlass in der Bevölkerung erleben. Wo früher zwei Menschen gelebt haben, hausen Menschen mit bis zu zwölf Personen auf 50 bis 60 Quadratmetern. Oft hört man, dass die Menschen evakuiert wurden, aber wie es ihnen geht, ist nicht im Fokus. Einige übernachten sogar an ihrem Arbeitsplatz, in der Garage oder dem Zelt. Diese Notsituationen müssen wir auch jetzt im Winter schnell lösen.
Was bedeutet das für die Gemeinden?
Sie müssen umdenken, was sie hier langfristig machen können und müssen. Deswegen ist es ja so wichtig, dass viele Spenden nicht unmittelbar wieder ausgegeben werden, sondern langfristig verwaltet werden. Die Sozialarbeiter und Verantwortlichen in den Rathäusern sind mit der Situation häufig überfordert. Wir wissen zwar, dass La Palma eine vulkanische Insel ist. Auf so eine Katastrophe kann sich aber keiner vorbereiten. Mittlerweile ist von einer Milliarde Euro Schaden die Rede.
Vielen Dank für das Gespräch.
Pedro Rodriguez ist 65 Jahre alt und in Valencia geboren. Als Sechsjähriger ist er mit seinen Eltern nach Deutschland ausgewandert. Nach seiner Ausbildung war er hauptamtlicher Mitarbeiter beim CVJM-Kreisverband Köln. Dort lernte er auch seine spätere Frau kennen, mit der er seit 1983 verheiratet ist. Das Paar hat drei Kinder. 1990 reiste es mit der der Vereinigten Deutschen Missionshilfe nach Spanien aus. Nach Stationen in der Nähe von Barcelona und auf Granada ist das Paar seit 27 Jahren auf La Palma als Pastor einer Baptisten-Gemeinde.