„Herdenjournalismus hat zugenommen“

Der Deutsche Presserat will seit 60 Jahren die Qualität in den Medien sichern. Deshalb rügt er Redaktionen, die den Pressekodex missachten. pro hat mit Geschäftsführer Lutz Tillmanns über Angriffe auf Journalisten, den Vorwurf der Lügenpresse und die neue Konkurrenz durch Soziale Netzwerke gesprochen.
Von Anna Lutz
Lutz Tillmanns ist Geschäftsführer des Deutschen Presserats. Die Arbeit der Journalisten hat sich verändert, sagt er. Nicht nur zum Guten.

pro: Herr Tillmanns, die Richtlinie 12.1. des Pressekodex sah bisher vor, dass Journalisten die Nationalität eines Straftäters nur bei einem „begründbaren Sachbezug“ nennen, um Diskriminierungen zu verhindern. Das letzte Mal trafen wir uns vor drei Jahren, da sagten Sie, an dieser Praxis des Presserates werde sich nichts ändern. Nun haben Sie die Leitlinie doch verändert. Warum?

Lutz Tillmanns: Die Praxis haben wir nicht verändert, nur die Richtlinie präzisiert. Es gilt, dass die Presse Diskriminierungen vermeiden soll. Deshalb soll sie die Zugehörigkeit von Tätern oder Tatverdächtigen zu Minderheiten nicht benennen, also Nationalität, Religion oder ähnliches. Es gab immer Diskussionen über diese Regel. Intensiver wurde die Debatte seit den Ereignissen am Silvesterabend in Köln vor knapp anderthalb Jahren, wo vermutet wurde, dass Nordafrikaner Frauen sexuell belästigt haben sollen. Uns fiel auf, dass viele Journalisten unsicher waren, wie sie die Richtlinie umsetzen sollten. Viele wussten nicht, was ein „begründbarer Sachbezug“ sein soll. Was, wenn es einen Konflikt zwischen ethnischen Gruppen gibt? Oder eine Mordanklage gegen einen Marokkaner oder Afghanen? Wann ist ein Sachbezug gegeben und wann nicht? Manche Kollegen sperrten sich deshalb ganz gegen die Richtlinie.

Oder behalfen sich damit, konsequent immer die Nationalität zu nennen, auch bei deutschen Tätern.

Genau. Deshalb haben wir letztendlich entschieden, die Regel zeitgemäßer umzuformulieren und sprechen nun davon, dass die Nationalität bei einem „berechtigten öffentlichen Interesse“ genannt werden darf. Da können die Redaktionen mehr mit anfangen, die Formulierung taucht auch an anderen Stellen des Pressekodex auf. Zusätzlich dazu veröffentlichen wir aber in den kommenden Wochen Leitsätze als Auslegungshilfe. Zum Beispiel dürfen Journalisten demnach die Nationalität benennen, wenn es um transnationale Kriminalität geht, oder wenn sich die Täter selbst dazu erklären. Es bleibt aber dabei: Redaktionen haben eine ethische Verantwortung und müssen in jedem Fall abwägen, ob sie die Nationalität nennen oder nicht.

Die Zahl der beim Presserat eingegangenen Beschwerden wegen der Nennung der Nationalität ist 2016 gestiegen. Warum?

Es gab einige prominente Ereignisse, bei denen die Nationalität eine Rolle gespielt hat. Neben der Silvesternacht in Köln auch der Mord an der Freiburger Studentin Maria L. im Oktober, wo ein Flüchtling verdächtigt wird. Die Redaktionen sehen sich auch damit konfrontiert, dass über Soziale Netzwerke Informationen verbreitet werden. Dementsprechend können die Medien bestimmte Dinge wie die Nationalität gar nicht mehr kategorisch verschweigen, wenn sie sich nicht anhören wollen, sie würden Dinge verschleiern.

Die Sozialen Medien haben den Journalisten also ihr Deutungsmonopol gestohlen?

Die Lage ist anders als vor 20 Jahren. Es gibt heute alternative Quellen auch jenseits journalistischer Inhalte. Journalisten müssen sich mit dieser neuen Konkurrenz arrangieren. Sie sind einerseits nicht mehr die einzigen, die die Welt erklären und Dinge kritisieren. Andererseits haben kleinere Zirkel und Organisationen jetzt ganz andere Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Denken Sie etwa an die sogenannten Reichsbürger oder andere Verschwörungstheoretiker. Oder blicken Sie nach Amerika und auf die Wahl von Donald Trump. Die Wahrheit setzt sich nicht zwangsläufig durch, es gibt Störfeuer, verbreitet auch durch Soziale Medien.

Der Ruf der Presse war selten so schlecht wie derzeit. Sind die Sozialen Medien ein Grund dafür?

Die Unabhängigkeit des Bürgers von Medien ist gewachsen und damit auch seine Mündigkeit. Jeder kann sich via Smartphone selbst mit Informationen versorgen, sie aber auch senden. Der Empfänger ist heute auch Produzent von Inhalten. Deshalb ist der Qualitätsjournalismus heute stärker gefordert und gezwungen, sich anders aufzustellen. Ich glaube, dass Journalisten diese Situation meistern werden. Ich glaube an die Qualität guter Ausbildung und auch daran, dass Medienschaffende in der Regel nicht zufällig in diesen Beruf hineinrutschen, sondern ihn aus Überzeugung wählen.

Wie kommt es aber dazu, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung an eine Lügenpresse glaubt? Sind Journalisten vielleicht wirklich mit der Komplexität der Welt heutzutage überfordert und recherchieren schlechter? Haben Sie den Kontakt zum Leser verloren?

Sie fragen, ob die Journalisten den Kontakt zum normalen Bürger verloren haben. Ich frage: Hatten sie ihn denn je ausreichend? Ich glaube nicht. Bisher verlief die Kommunikation einseitig vom Journalisten zum Leser, Hörer oder Zuschauer. Heute ist sie zunehmend wechselseitig. Damit sind viele Redaktionen noch nicht sehr erfahren. Journalisten müssen heute zum Beispiel wissen, was ein Shitstorm ist und wie sie damit umgehen können. Medienschaffenden muss es gelingen, einerseits auf ihre Communities im Netz einzugehen, sich andererseits aber nicht zu deren Spielball zu machen. Das sind neue Erfahrungen, die nicht durch Learning by Doing aufgewogen werden. Es muss eine gute Ausbildung dazu geben, um eine zeitgemäße technische Kompetenz aufzubauen.

Aber sind Journalisten nicht auch einseitiger in ihrer politischen Berichterstattung geworden? Man stelle sich vor, ein Medium veröffentlichte heute einen positiven Kommentar zu US-Präsident Donald Trump oder einen negativen zur „Ehe für alle“…das wäre ein Affront!

Ich bin nun kein Experte der amerikanischen Verhältnisse, aber ich stelle schon fest, dass Trump die Presse gering schätzt. Für einen Europäer und insbesondere einen Deutschen ist das schwer verständlich. Natürlich müssen Redaktionen, die die amerikanische Politik abbilden, dennoch differenzieren. Sie haben Recht, es gibt eine Art Agenda-Setting: Ein Journalist macht den Aufschlag und alle anderen orientieren sich daran. Wir setzen uns als Presserat aber dafür ein, dass jede Redaktion selbst recherchiert. Herdenjournalismus kritisieren wir. Ich sehe auch, dass ein solcher heute häufiger vorkommt. Das hat sicher mit der Konkurrenz der Medien zu tun und der Fokussierung auf Klickzahlen. Es ist wichtig, der Schnellste zu sein, der Erste zu sein und die meisten Follower zu haben. Ich glaube dennoch, dass die meisten Redaktionen sich sehr bewusst sind, dass Falschberichterstattungen verheerende Auswirkungen haben. Sie bedeuten den Verlust der Reputation.

Laut einer Umfrage ist fast die Hälfte der Journalisten im vergangenen Jahr verbal oder körperlich angegriffen worden. War der Journalistenberuf schon immer so gefährlich?

Die aggressive Stimmung gegen Journalisten ist stärker geworden, besonders, wenn Kollegen zu Reportagen vor Ort sind. Ich weiß von Einsätzen in Sachsen, etwa bei Pegida-Demonstrationen, da brauchten die Kollegen Polizeischutz.

In Ihrer letzten Sitzung erklärten Sie ein Spiegel-Cover, das eine Karikatur des US-Präsidenten mit dem abgeschnittenen Kopf der Freiheitsstatue zeigt, für legitim. Ebenso ein Bildzitat bei Charlie Hebdo, das Merkel mit dem abgeschnittenen Kopf von Martin Schulz zeigt. So viel Blut und beißende Ironie – das gab es doch vor 20 Jahren noch nicht auf Zeitungscovern!

Satirische Äußerungen gab es immer schon auf Zeitschriftencovern. Ich würde sagen, dass die Krisenberichterstattung zugenommen hat, allein schon, weil es an so vielen Orten der Welt heute Kriege und Auseinandersetzungen gibt. Gewalt und Terror sind allgegenwärtig, denken Sie an den Islamischen Staat. Überall sind Bilder zu diesen Ereignissen verfügbar, seien sie von Journalisten oder aus anderen Quellen. Es mag sein, dass solche Eindrücke deshalb häufiger in der Berichterstattung vorkommen und aus diesem Grund tatsächlich mehr Blut in der Berichterstattung zu sehen ist. Aber ich würde nicht sagen, die Medien sind beißender oder blutrünstiger geworden. Das Spiegel-Cover ist für mich ein interessantes Zitat aus der Oper Salome, das zeigen soll, wie Trump mit der Freiheit umgeht.

Das ist eine Deutungsmöglichkeit. Eine weitere wäre, dass das Cover den US-Präsidenten mit einem IS-Terroristen gleichsetzt. Ist der Ton in den Medien rauer geworden?

Frühere US-Präsidenten haben zu so etwas keinen Anlass gegeben. Es kann sein, dass es in der Welt heute mehr Politiker gibt, die harte Kritik hervorrufen: Wladimir Putin, Viktor Orban, früher Silvio Berlusconi – wer derart die Gewaltenteilung aufzulösen versucht, erfährt Kritik von Journalisten. Das ist legitim. Die Lage ist schärfer und kritikwürdiger und deshalb sind die Beiträge in den Medien engagierter und pointierter. Aus diesem Grund haben wir als Presserat im Übrigen auch mehr Arbeit. Der Trend ist, dass die Beschwerden über Berichterstattungen zunehmen.

Wie reagieren Redaktionen heute auf Ihre Rügen oder Missbilligungen? Nehmen sie das ernst oder geht das ins eine Ohr rein und aus dem anderen raus?

Die Redaktionen, mit denen wir in Korrespondenz stehen, antworten auf unsere Anfragen und Bewertungen. Natürlich sind sie nicht immer unserer Meinung. Aber ich habe den Eindruck, dass solche Debatten engagiert und konstruktiv laufen. Die Medien sind sich bewusst, dass sie heute mehr denn je Qualität liefern müssen und der Presserat trägt mit seiner Arbeit seinen Teil zum Qualitätsmanagement bei. Das System Selbstregulierung funktioniert. Die Bild-Zeitung zum Beispiel druckt unsere Rügen ab und leistet sich heute einen Ombudsmann, an den sich Leser bei Zweifeln und Fragen wenden können. Das ist ein Zeichen für Qualität und stimmt mich positiv.

Herr Tillmanns, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Anna Lutz. (pro)

Von: al

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