Heftige Kritik an Auswertung von Prostituiertenschutzgesetz

Das Bundesfamilienministerium spricht beim Prostituiertenschutzgesetz von „behebbaren Schwächen“. Diejenigen, die sich um Betroffene kümmern, widersprechen vehement. Und warnen sogar vor der Prostitution Minderjähriger?
Von Swanhild Brenneke

Im Jahr 2017 führte die Bundesregierung das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) ein. Es sollte die sexuelle Selbstbestimmung und Arbeitsbedingungen der Prostituierten und den Schutz von Prostituierten vor Zwang und sexueller Ausbeutung stärken. Nun hat das Bundesfamilienministerium die Evaluation des Gesetzes vorgelegt. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN), das die Erhebung durchführte, kommt darin zu dem Schluss: „Das ProstSchG hat Stärken. Das ProstSchG hat auch Schwächen. Beides wurde in diesem Bericht aufgezeigt. Da die Schwächen jedoch weitgehend behebbar erscheinen, hat das ProstSchG aus Sicht der Autoren vor allem Potenzial.“

Aus Politik und verschiedenen Verbänden und Vereinen, die sich für Prostituierte einsetzen, gab es bereits in den vergangenen Jahren immer wieder Kritik an dem Gesetz. Der Tenor: Die Situation für die Prostituierten habe sich nicht merklich verbessert. Immer noch litten viele unter Machtausübungen und Demütigungen von Freiern und Zuhältern.

Das schlussendlich doch eher positive Fazit nach der jahrelangen Evaluation des Gesetzes sorgt bei Verbänden und Vereinen, die sich um die Betroffenen kümmern, nun für Kritik. Der Vorsitzende des Aktionsbündnisses „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, Frank Heinrich, sagte gegenüber PRO: Es sei begrüßenswert, dass die Evaluation vorliegt und veröffentlicht wurde. Generell könne man mit einigen der erhobenen Daten arbeiten und es sei ein Erfolg, dass man sich dem Thema einmal intensiv gewidmet habe. Zudem sei es gut, dass nun eine unabhängige Expertenkommission für das weitere Vorgehen einberufen werden soll. Auch viele Empfehlungen, die das Forschungsteam insbesondere zum Schutz für Heranwachsende, also Personen bis 21 Jahren, gibt, seien gut.

„Sehr kritisch sehen wir allerdings die Empfehlung, zu prüfen, ob die Anwendung des ProstSchG auch auf Minderjährige ausgeweitet werden soll.“ Das sei ein „Offenbarungseid“. Denn Minderjährigenprostitution sei illegal. Die Aussage vermittele den Eindruck, dass man minderjährige Prostitution einfach hinnehmen und normalisieren wolle. Der Begriff der minderjährigen Prostituierten ziehe sich durch die ganze Evaluation.

Befragte Gruppe entspricht nicht der Realität

Bei Minderjährigen solle man sich vielmehr automatisch die Frage nach Ausbeutung und Menschenhandel stellen, so Heinrich. Und auch nach dem Einsatz der Polizei, denn Prostitution von Unter-18-Jährigen in der Prostitution seien ein Straftatbestand. Er frage sich deshalb, „warum es eine aktive Nennung von Minderjährigen in diesem Gesetz“ benötige, sagte Heinrich. Es müsse andere Wege geben, um Minderjährige zu schützen.

Ein weiterer Kritikpunkt des Vereins: Die Evaluation beziehe sich in erster Linie auf die Situation und die Wahrnehmungen von Selbstbestimmung und anderer Faktoren im Hellfeld, also in der angemeldeten Prostitutionstätigkeit. 2.250 Prostituierte befragten die Forscher. Die Befragten besitzen zu knapp 45 Prozent laut Bericht die deutsche Staatsangehörigkeit und sind mehrheitlich deutsche Muttersprachler. „Das ist überhaupt nicht das Bild, das sich Fachberatungsstellen aus unserem Bündnis bei aufsuchender Arbeit bietet“, sagt Heinrich. Die meisten Betroffenen, die den Betreuern dort begegneten, seien nicht deutscher Sprache.

Außerdem habe man aus der Prostitution ausgestiegene Personen (Coverage Bias) bei der Erhebung vollständig ausgelassen. „Damit fehlen retrospektive Perspektiven auf Zwangs- und Ausbeutungserfahrungen sowie auf Wirksamkeit oder Defizite staatlicher Schutzmaßnahmen“, so Heinrich. Wer in der Prostitution bleibe, verfüge häufig über ein reduziertes Opferbewusstsein, bedingt durch Coping-Strategien und Trauma-Bindungen. Das führe zu einer systematischen Unterschätzung struktureller Gewalt. Auch dass man Freier in die Erhebung einbezogen habe, hält Heinrich für nicht zielführend. Deren Aussagen zur Schutzwirkung des Gesetzes seien stark interessengefärbt.

Dass knapp 58 Prozent der Befragten angeben, dass die Prostitution für sie nur ein Nebenverdienst darstelle, spiegele auch nicht die Erfahrung von „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ wider. Im Bericht heiße es außerdem, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten ihre Rechte und Pflichten kennen würden. Das sei zwar super, aber aus der Erfahrung seines Vereins ebenfalls nicht repräsentativ für den Großteil der Prostituierten in Deutschland, so Heinrich.

„Wissenschaftlich schwerwiegende Mängel“

Generell merke das Forschungsteam im Bericht an, dass die Evaluation keine valide Aussage darüber treffen kann, ob die Prostitution insgesamt zu- oder abgenommen habe und wie sich Zwangsprostitution, Menschenhandel und organisierte Kriminalität in Deutschland entwickelt hätten. Wahrgenommen und bewertet worden sei primär der regulierte Bereich, „während informelle, verdeckte oder prekäre Segmente kaum abgebildet werden“.

„Die gesamte Stichprobe der Evaluation weist wissenschaftlich schwerwiegende Mängel auf. Sie ist zwar groß und heterogen, hat jedoch starke Verzerrungen, die die Aussagekraft erheblich limitieren“, ist Heinrichs Fazit. Eine fundierte Beurteilung zentraler Zielgrößen des ProstSchG, „insbesondere zu Schutzwirkung gegenüber Zwang und Ausbeutung sowie der Wirksamkeit ausstiegsfördernder Maßnahmen“, sei unmöglich. „Es ist keine methodisch valide Evaluation“, so Heinrich. Er vermisst außerdem „eine systematische Integration von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie NGOs mit Feldzugang und Ausstiegsberatungen“. Diese hätten zum Beispiel dazu beitragen können, auch schwer zugängliche Gruppen zu erfassen.

Das Fazit der Forscher, es gebe Stärken und Schwächen, sei sehr unkonkret. „Es gibt eine Menge zu tun!“, so Heinrich. Wenn das Forschungsteam der Meinung sei, die Schwächen seien „weitgehend behebbar“ und es vor allem Potenzial gebe, „sind wir überzeugt: Es braucht ein komplettes Umdenken in Deutschland“. Der Verein „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ spricht sich da für das „Nordische Modell“ aus: Ein Sexkaufverbot, nachdem sich die Freier strafbar machen, wenn sie Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, nicht aber die Prostituierten selbst.

„Gesetz fehlgeschlagen“

Der Verein „Neustart e.V.“, der sich in Berlin um Prostituierte kümmert, ist ebenfalls enttäuscht vom Ergebnis der Evaluation und sieht sich im Alltag mit einer ganz anderen Realität konfrontiert, als die Erhebung es zeigt. „Aus unserer langjährigen Tätigkeit an einem Straßenstrich und in Bordellen in Berlin müssen wir eine sehr drastische Bilanz ziehen: Die Verelendung hat zugenommen; es gibt keinen wirksamen Schutz vor sexueller Ausbeutung“, heißt es in einer Mitteilung. Vorschriften und Auflagen seien gut gemeint, würden in der Realität aber kaum umgesetzt. „Sex ohne Kondom ist weiterhin Standard. Viele Bordelle sind bis heute nicht angemeldet. In Berlin sind von geschätzten 200 Prostitutionsbetrieben lediglich 98 angemeldet.“

Schon das Prostituiertenschutzgesetz aus dem Jahr 2001 habe Prostitution zu einem „normalen Beruf“ machen wollen, mit geregelten Arbeitszeiten, Arbeitssicherheit, Altersvorsorge, Urlaubsanspruch, Nachtzuschlägen, Mutterschutz und Krankenversicherung. „Prostitution sollte aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld geholt werden. Nichts davon konnte realisiert werden“, so Neustart. Auch die Reform des Gesetzes aus dem Jahr 2017 sei fehlgeschlagen. „Schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass es nur minimale positive Veränderungen geben würde.“

Nach über 20 Jahren müsse klar sein, dass die gesamte Gesetzgebung gescheitert ist. Das Prostituiertenschutzgesetz sei ein Kompromiss mit vielen Schwächen. „Selbst bei konsequenter Umsetzung hätte es kaum Verbesserungen für die Frauen bewirken und das kriminelle Milieu besser bekämpfen können.“

Der Verein „Neustart“ sprich sich ebenfalls für die Einführung eines Sexkaufverbots nach Vorbild des „Nordischen Modells“ aus. Ohne die Nachfrage der Sexkäufer „gäbe es keine Zuhälterei und keine sexuelle Ausbeutung in Form der Prostitution“. Die Prostitutionsgesetzgebung müsse grundsätzlich neu betrachtet werden. 

Solwodi: „Verzerrtes Bild“

Auch der Frauenschutzbund Solwodi äußert Kritik an der Evaluation des Gesetzes. Die Herangehensweise sei „methodisch zumindest fragwürdig“ gewesen, heißt es in einer Pressemitteilung. Die Befragten hätten ihre Antworten in einer Online-Umfrage abgegeben. Das entspreche nicht der Lebenswirklichkeit von Menschen in der Prostitution. „Wer 15 bis 16 Stunden am Tag Freier bedienen muss, hat kaum die Zeit, sich an einer Umfrage zu beteiligen. Sprach- und Bildungsbarrieren sowie die Unkenntnis über die Bedeutung derartiger Umfragen kommen hinzu.“

Die Erhebung zeige deshalb ein „verzerrtes Bild“ der Wirklichkeit. Anders als in der Evaluation genannt, sei nach Einschätzung von Experten zum Beispiel von über 90 Prozent Personen mit Migrationskontext in der Prostitution auszugehen. Auch die Rekrutierung zur Umfrage über das sogenannte Schneeballsystem, bei dem Teilnehmende nicht zufällig ausgewählt werden, sondern sich gegenseitig verweisen, führe zu Verzerrungen. Dass das Anmeldeverfahren zur Umfrage selbst „möglicherweise zu hochschwellig“ sei, hätten die Forscher in der Erhebung selbst angemerkt. Solwodi kritisiert, dass im zusammenfassenden Abschlusskapitel trotzdem allgemeine Aussagen getroffen würden, die gar nicht für alle in der Prostitution tätigen gelten könnten.

Auch Solwodi findet es, ähnlich wie „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, „verstörend“, dass in Zusammenhang des Gesetzes von Minderjährigen oder sogar Hochschwangeren die Rede ist. Freier stärker in die Verantwortung zu nehmen, wie es der Bericht empfiehlt, findet auch Solwodi gut. Allerdings sei der Verein für eine generelle Freierbestrafung.

Einige Bereiche der Prostitution, wie zum Beispiel der Straßenstrich, seien gar nicht in Augenschein genommen worden. „es ist fraglich, inwieweit die ausgesprochenen Empfehlungen in diesem besonders prekären Milieu greifen“, teilt der Solwodi mit. Schon bei der Gesetzgebung habe man sich nur auf Prostitutionsgewerbe, wie etwa Bordelle, beschränkt. Wohnwagen oder temporäre Wohnungen würden nicht erfasst.

Freiwilligkeitsbegriff „problematisch“

Auf gesundheitliche Aspekte werde in der Studie zudem nur unzureichend eingegangen. Zwar werde festgestellt, dass ein relativ hoher Anteil der Prostituierten nicht krankenversichert ist, doch die angegebene Zahl sei immer noch deutlich niedriger als das, was Mitarbeiter von Solwodi in der aufsuchenden Arbeit im Prostitutionsmilieu sähen. Auch die gesetzlich verankerte Kondompflicht werde nach wie vor häufig umgegangen. Der Bericht fordert, bereits die Frage nach Sex ohne Kondom unter Strafe zu stellen. Solwodi begrüßt diese Forderung.

Problematisch sieht der Verein den Freiwilligkeitsbegriff, der in einem Sondergutachten erarbeitet wurde. Demnach sei nur dann von Unfreiwilligkeit in der Prostitution die Rede, wenn damit persönliche Nachteile, insbesondere die Gefährdung von Leben und Gesundheit verbunden seien. Damit lassen sich aber die Armutsprostitution, meist einhergehend mit dem Wunsch, den Kindern und der Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, oder die Beschaffungsprostitution kaum erfassen.

Der Bericht zeichne ein viel zu positives Bild von der Prostitution in Deutschland Wie auch „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ fordert Solwodi deshalb die Einführung des „Nordischen Modells“.

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