Haugen: Ohne Geld keine Rechte

Weltweit leben heute rund 35 Millionen Menschen als Sklaven – so viele wie noch nie. Anlässlich des Tages der Menschenrechte am Donnerstag erklärt der Menschenrechtsanwalt Gary Haugen im pro-Interview, wie Korruption, Armut und Menschenhandel zusammenhängen – und wie Christen dem Bösen in der Welt begegnen sollten.
Von PRO
Der Menschenrechtsanwalt Gary Haugen setzt sich mit seiner Organisation IJM für Opfer von Menschenhandel ein. Wie Armut, Korruption und Ausbeutung zusammenhängen, hat er in seinem Buch „Gewalt – Fessel der Armen“ gezeigt.
Die überkonfessionelle christliche Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) setzt sich für die Rechte der Menschen, die als Sklaven leben, ein. Der Amerikaner Gary Haugen ist Gründer und Präsident von IJM. Die meisten Sklaven gibt es in Entwicklungs- und Schwellenländern.

pro: Wie sieht Sklaverei heute aus?

Gary Haugen: Die meisten Sklaven arbeiten in Ziegelfabriken, in Steinbrüchen oder in der Textilindustrie, machen also tendenziell Handarbeit mit geringer Qualifikation. Aber es gibt auch Sklaven in der Sexindustrie, der Zwangsprostitution. Die meisten von ihnen sind sehr arme Menschen. Sie werden von ihren Familien und Communitys getrennt, indem man ihnen Arbeit verspricht. Dann kommen sie in Fabriken oder kommerzielle Sex-Etablissements und andere Einrichtungen, wo sie zum Arbeiten gezwungen werden. Wenn sie zu fliehen versuchen, dann droht ihnen Gewalt und Missbrauch.

Warum halten sich manche Menschen Sklaven?

Die zwei Antriebe sind Gier und der Glaube, dass Sklaven keine Menschen mit Würde sind wie sie selbst. Das erste führt dazu, mit Sklaven Geld zu machen; das zweite erlaubt einem, die Sklaven zu missbrauchen. Das ist eine menschliche Eigenschaft. Es ist das klassische Prinzip wie auch beim Holocaust: den Juden als jemanden Fremdes und Ungleiches zu sehen und ihm dann Dinge anzutun, die wir uns nie selbst antun würden. Dasselbe ist es mit den Sklavenbesitzern aus einer höheren gesellschaftlichen Schicht in Pakistan, Indien oder Bangladesch, die Angehörige aus einer niedrigen sozialen Schicht missbrauchen, weil diese für sie keine vollwertigen Menschen sind.

Verstößt das nicht gegen Gesetze?

Sklaverei ist zwar auch in diesen Entwicklungs- und Schwellenländern gegen das geltende Recht, aber das Recht wird nicht umgesetzt. Man kann also viel Geld mit Sklaverei machen ohne das Risiko, dafür ins Gefängnis zu kommen. In Ländern, wo es Rechtssicherheit gibt, gibt es auch nur wenig Sklaverei.

Warum wird in diesen Ländern das Gesetz nicht vollzogen?

In den Entwicklungs- und Schwellenländern sind die basalen Rechtssysteme fast vollständig zusammengebrochen. Das ist eine der größten versteckten Tragödien unserer Welt. Polizei und Gerichte sind unterfinanziert, sie sind korrupt und schlecht ausgebildet. Ein Grund dafür ist, dass die Rechtssysteme in diesen Ländern meist von den Kolonialmächten installiert wurden. Sie waren aber nicht darauf angelegt, die einfachen Bürger vor Kriminalität, sondern das koloniale Regime zu schützen. Die meisten Polizeibeamten in Entwicklungsländern sind zum Beispiel gar nicht darin ausgebildet, Kriminalfälle aufzuklären. Sie sind darin trainiert, Menschenmassen zu kontrollieren, Eliten und mächtige Personen zu schützen. Weil die Menschen wissen, dass das System nicht funktioniert, leistet sich, wer das Geld dazu hat, private Sicherheitsdienste. Die sind oft deutlich größer als die offizielle Polizei. In Afrika sind diese privaten Wachdienste der größte Arbeitgeber auf dem ganzen Kontinent. So entsteht eine Zweiklassengesellschaft in diesen Ländern: diejenigen, die reich genug sind, um sicher zu sein, und jene, die zu arm sind, um für ihre Sicherheit bezahlen zu können. Und diese leben in einer Welt von gesetzlosem Chaos, in dem jemand dich ohne das Risiko rechtlicher Konsequenzen zum Sklaven machen kann.

In westlichen Ländern gibt es kaum eine Ahnung von diesem Problem. Woher kommt das?

Sklaverei ist ein Verbrechen, deshalb verstecken es die Leute. Wenn man in Entwicklungsländer reist, sieht man die Hütten, das schmutzige Wasser, das miserable sanitäre System, den Hunger, die Kinder in zerschlissener Kleidung und ohne Schuhe – all das ist sichtbar. Gewalt und Verbrechen werden bewusst von den Leuten verborgen, die sie tun. Und die Opfer werden für gewöhnlich auch versteckt oder sie sind zu verängstigt und verschämt, um darüber zu sprechen. Man muss also sehr genau hinschauen, um so etwas überhaupt wahrzunehmen. Deshalb weckt es auch nicht die Aufmerksamkeit der Medien.

Mit IJM trainieren Sie auch Polizeieinheiten und Behörden darin, Recht umzusetzen, Verbrechen zu bekämpfen und zu verfolgen. Wie soll das funktionieren, wenn die Systeme in sich korrupt sind?

Es ist nicht so, dass das ganze Rechtssystem und der gesamte Polizeiapparat in den betroffenen Ländern korrupt wären. Es gibt Leute, die sind sehr korrupt, es gibt auch eine kleine Gruppe, die korrekt arbeitet. Die meisten aber stehen dazwischen und warten ab, welche Seite die Macht und das Geld kontrolliert. Wenn es die Korrupten sind, werden sie mit denen kooperieren. Wenn diese korrupten Polizisten ins Gefängnis kommen, ihre Jobs und Bezüge verlieren und die „ordentlichen“ Beamten deren Positionen einnehmen, werden die Unentschlossenen die Seite wechseln und anfangen, ihre Arbeit auch korrekt auszuführen. Diese Dinge verändern sich ziemlich schnell. Wir formen solche speziellen Einheiten in der Polizei, die nicht korrupt sind. Auf diese Weise lässt sich das Korruptionssystem recht effektiv mit kleinen, gut ausgebildeten und organisierten Gruppen stören.

Derzeit kommen hunderttausende Flüchtlinge nach Europa. Schleuser machen damit viel Geld. Hat das auch etwas mit Menschenhandel zu tun?

Es gibt einen Unterschied zwischen Menschenhandel und Menschenschmuggel. Menschenhandel bedeutet nicht einfach nur, Menschen von einem zum anderen Ort zu bringen. Sondern da wird jemand mit Gewalt zu einer Arbeit gezwungen, die er nicht tun will. Durch die Flüchtlingskrise, die so viele entwurzelte Menschen nach Europa bringt, wird auch ein Markt für Menschenhandel entstehen, für Zwangsarbeit und Ausbeutung.

Wie sollte Europa auf die Flüchtlinge reagieren?

Ich denke, die Priorität muss sein, sich um den Konflikt zu kümmern, der diese Massenbewegung auslöst. Man benötigt einen geordneten Weg, um die Menschen, die in äußerster Verzweiflung kommen, aufzunehmen und so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Die meisten Länder haben ihre eigene Geschichte, wie ihre Bevölkerung durch Kriege heimatlos geworden ist. Wenn es da ein historisches Gedächtnis gibt, wie wir behandelt werden wollten als Volk und als Flüchtende, dann sollten wir heutigen Flüchtlingen genauso begegnen. Das ist die Goldene Regel.

Sie waren als UN-Sonderermittler nach dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda tätig. Was haben Sie von Ruanda über Gott und die Menschen gelernt?

Ich habe die menschliche Fähigkeit gesehen, das Böse zu genießen. Die meisten Menschen, die sich an dem Genozid beteiligten, wurden nicht dazu gezwungen. Manche schon, aber die meisten nutzten die Chance, ihren Nachbarn das anzutun, was sie schon immer tun wollten, wovon sie aber durch das Gesetz abgehalten wurden: Land und Vieh zu stehlen, sie zu töten, die Tochter oder die Frau zu nehmen. Es ist ein sehr erschreckendes Beispiel dafür, was Menschen tun, wenn man ihnen alle Regeln wegnimmt. Sie sind zu enormem Bösen fähig. Wir können heute auch sehen, wie leicht dem Völkermord vorzubeugen gewesen wäre. Es hätte nur einer sehr moderaten Intervention bedurft, um den Genozid zu stoppen. Viele haben gefragt: Wo war Gott im Genozid? Warum hat er nicht eingegriffen? Ich habe immer die Frage gestellt: Wo waren Gottes Leute? Wenn die Christen der Welt ihre Stimme erhoben und darauf bestanden hätten, dass ihr Land sich daran beteiligt, den Völkermord zu beenden – es wäre möglich gewesen. Das zeigt: Es ist ebenso eine Frage der menschlichen Entscheidung, einen Genozid zu begehen, wie einen zu erlauben. Beides ist böse.

Welche Rolle spielen Angst und Vorurteile, um das Böse in uns zu wecken?

Der Genozid in Ruanda begann, weil die Hutu-Eliten behaupteten, die Tutsi, eine Minderheit in der Bevölkerung, strebten nach der Macht. Es gab eine Krise im Land, weil der Präsident ums Leben gekommen war. Dadurch gab es ein Machtvakuum. Die Tutsi wurden beschuldigt, dieses ausfüllen und über die Hutu herrschen zu wollen. Deshalb habe man sich selbst verteidigen und die Tutsi umbringen müssen – Angst. Genauso ist es oft Angst, die Menschen auf sehr machtvolle Weise dazu bewegt, Dinge zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Aber uns Christen sagt die Bibel, dass Liebe die Angst vertreibt. Gott lädt uns Christen dazu ein, auf all diese Dinge mit Liebe zu antworten. Wenn wir also den richtigen Weg suchen, und wir stellen fest, dass wir einem Weg der Angst folgen, dann ist es der falsche. Der Weg der Liebe wird uns als Christen zum richtigen Ziel führen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Jonathan Steinert. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/detailansicht/aktuell/es-gibt-so-viele-sklaven-wie-noch-nie-93700/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/keine-demokratie-mit-der-scharia-94283/
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