Hassan Abdoullaye ist ein beeindruckender Mann. Sein Bart ist am Kinn leuchtend Henna-rot gefärbt. Auf dem Kopf trägt er eine von Goldfäden durchwirkte Kofia, eine traditionelle ostafrikanische Kopfbedeckung. Er ist in einen weißen Kaftan gehüllt, auf den Schultern liegt ein weinroter Schal, ebenfalls mit goldenen Mustern. Sein Blick ist nicht unfreundlich, aber ernst und sehr bestimmt. Hasan strahlt den Respekt aus, der seinem Amt angemessen ist: Er ist oberster Richter im Distrikt Baligubadle in Somalialand.
Die Region am Horn von Afrika war 2022 von extremer Dürre betroffen. Mit ihren örtlichen Partnern führen deutsche Nichtregierungsorganisation (NGOs) hier Projekte durch, die vom Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit (BMZ) finanziert werden. Auch Tearfund Deutschland ist beteiligt. Kernstück unserer Arbeit ist der Bau von sogenannten Berkeds, großen Auffangbecken oder Zisternen, in denen während der Regenzeit Wasser gesammelt wird. Das kann dann über die nächsten Monate genutzt werden, um Felder und Gewächshäuser zu bewässern, die den Somali, die in der Region leben, ihren Lebensunterhalt sichern. Der Grundwasserspiegel ist in Folge des Klimawandels stark gesunken, man muss mittlerweile über 100 Meter tief bohren, um einen Brunnen zu bauen – das ist technisch sehr aufwendig und extrem teuer. Berkeds sind daher eine sinnvolle Alternative.
Begrüßung mit Kamelfleisch
Bei unserem Projektbesuch werden mein Kollege und ich von offiziellen Behörden-Vertretern empfangen und zu einem köstlichen Menü mit Kamelfleisch eingeladen. Da ist der Landrat, der Bürgermeister, die regionalen Verantwortlichen für Wasser und Landwirtschaft – und Hassan Abdoullaye, der oberste Richter. Niemand hier strahlt eine solche Würde aus wie er. Wir haben Verträge unterschrieben: mit dem BMZ und der somalischen Regierung, und natürlich mit unserem Partner, der wiederum als offizielle (NGO) im Land registriert ist.
Aber Papier kann geduldig sein. In der Person von Hassan Abdoullaye dagegen ist das Recht buchstäblich anwesend. Er überwacht, dass auch umgesetzt wird, was vereinbart wurde. Und dabei muss er verschiedene Rechtssysteme im Blick haben und in einen Ausgleich bringen: internationales Recht, die in Somalia geltende Scharia und das Stammesrecht, das vor allem den Landbesitz regelt.
Abends im Hotelzimmer lasse ich den Tag Revue passieren und schaue mir die Fotos an, die ich gemacht habe. Keines ist eindrücklicher als das des Richters. Meine Gedanken beginnen, zu schweifen. Somaliland ist eine autonome Republik im Norden Somalias mit gut sechs Millionen Einwohnern, die sich nach dem Bürgerkrieg von 1991 von Somalia gelöst hat. Somaliland hat eine eigene Regierung, eigenes Militär, eine eigene Währung – und ein unabhängiges Rechtssystem. Ein Staat im Staate, der sehr stabil funktioniert, dem nur die internationale Anerkennung fehlt.
Der Rechtsstaat ist nicht selbstverständlich
Was einer Gesellschaft Stabilität verleiht, ist das Recht. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat, die Grundlage unserer Demokratie ist nicht „einfach“ eine Mehrheit, sondern unsere Verfassung, das Grundgesetz. Wir haben bitter lernen müssen, dass die erste Demokratie auf deutschem Boden, die Weimarer Republik, mit ihrer gleichnamigen Verfassung von Hitler brutal ausgenutzt und abgeschafft wurde, um der Nazi-Diktatur den Weg zu bereiten. Sie haben sich der National-Konservativen als „nützlicher Idioten“ zur Mehrheitsbeschaffung bedient – um sie dann fallen zu lassen. Recht lässt sich beugen und brechen und umdeuten. Der brüllende NS-Richter Roland Freisler war wie eine personifizierte Fratze dieser Umdeutung des Rechts.
Es gilt also, dem Recht Geltung zu verschaffen. Und wie tut man das? Dazu wäre vieles zu sagen, hier möchte ich nur einen Aspekt herausgreifen: durch Respekt. Der Rechtsstaat wird repräsentiert durch seine Vertreter: die gewählten Politiker, die Beamten in Verwaltungen, in Schulen, bei der Polizei und der Bundeswehr, die Richter und Staatsanwälte. Und hier habe ich ein richtiges Grummeln im Magen, das mir große Sorgen macht. Der Respekt vor den Repräsentanten der Demokratie hat massiv nachgelassen.
Das Gegenstück erlebe ich hier: Hassan Abdoullaye verkörpert das Recht – und erntet Respekt im fragilen Kontext von Somaliland. Um wie viel mehr, denke ich, muss das für einen demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland gelten.