Hass, der nicht zu fassen ist

Am 7. Oktober wurden 1.200 Israelis von der Hamas grausam ermordet. Dass Israel nun militärisch gegen die Hamas vorgeht, ist eine Frage der Existenz des jüdischen Staates. Trotzdem schlägt Juden weltweit eine Welle von Hass entgegen. Warum?
Von PRO
Pro-Palästina-Demo

Wir dachten, es könnte nicht schlimmer kommen. Doch wir mussten feststellen: Es ist schlimmer“, sagt Rabbiner Jonah Sievers. An einem Abend Ende Oktober steht er in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße vor rund 70 Gottesdienstbesuchern. Vor ihm zwei Menora-Leuchter. Hinter und über ihm der Schrein mit der Tora und die blau-goldene Kuppel des Gotteshauses, die die Schönheit Gottes symbolisiert. Wer das Gebäude betritt, das die Synagoge beheimatet, ahnt von dieser Pracht zunächst nichts. Lediglich ein kleines Türschild zeigt an, was sich hinter den Mauern des Berliner Altbaus verbirgt. Eine Schranke mit Metalldetektor ist zu überwinden. Und ein Innenhof. Erst dann betreten Besucher die Synagoge. Nur so ist es für die Gemeindeglieder sicher.

Gemeinsam heben Juden und ihre Gäste aus Kirchen, Politik und Zivilgesellschaft zu einem der vielen Lieder an, die an diesem Abend auf Hebräisch gesungen werden. Der Blick mancher mag beim Singen zu dem Schild wandern, das neben Sievers als Mahnung und Erinnerung an der Wand der Synagoge hängt: „Zerstört November 1938“. In der Reichspogromnacht brannte auch die Synagoge in der Pestalozzistraße. 1947 öffnete sie erneut. Dieser Tage fühlen sich viele Gemeindeglieder zurückversetzt in eine Zeit, die mancher vielleicht überwunden glaubte.

Foto: picture alliance/dpa | Christoph Soeder
Nicht von der Wut übermannen lassen: Rabbi Sievers spricht vor einem Schabbattisch. Die Stühle sind leer.

Denn in der Nacht zuvor flogen zwei Molotowcocktails in Richtung einer anderen Berliner Synagoge. Sie brannten auf dem Gehweg aus. Doch das, wofür sie stehen, reißt wohl ebenso tiefe Wunden, wie es ein erfolgreicher Brandanschlag hätte tun können. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf, aber eines ist klar: Juden fühlen sich in den Straßen Berlins nun noch weniger sicher als in den Jahren zuvor. Dass jüdische Einrichtungen standardmäßig unter Polizeischutz stehen und man in bestimmten Straßen der Stadt besser die Kippa abnimmt, ist keine Neuigkeit. Anschläge und judenfeindliche Parolen im alltäglichen Großstadtzirkus sind es schon.

Demonstrationen in Berlin

Kurz nach dem bestialischen Terroranschlag der Hamas auf den Kibbuz Be’eri und andere israelische Ortschaften am 7. Oktober, protestierten tausende Unterstützer der Palästinenser illegal am Potsdamer Platz gegen Israel. Es kam zu mehr als 150 Festnahmen. Am Freitag zuvor waren viele dem Aufruf der Hamas zu einem „Tag des Zorns“ gegen Israel und Juden weltweit gefolgt. Im Stadtteil Reinickendorf zündeten Demonstranten eine am Rathaus gehisste Israelflagge an. Flaschen flogen, es kam zu Festnahmen, hunderte Polizisten waren in der ganzen Stadt im Einsatz. In der Synagoge Pestalozzistraße spricht Rabbi Sievers wenige Tage später über die Angst, die viele Juden haben. Er ruft sie dazu auf, weiterhin jüdische Veranstaltungen zu besuchen. „Wir dürfen der Hamas diesen Sieg nicht schenken!“, sagt er.

Ende Oktober, Oranienplatz in Kreuzberg. Mehr als 11.000 Menschen sind zusammengekommen, um lautstark gegen Israel zu demonstrieren, den jüdischen Staat zu diffamieren oder ein Ende der deutschen Erinnerungskultur zu fordern. „Kindermörder Israel“ oder „Free, free Palestine“ grölt es regelmäßig aus der Masse. Dazwischen ertönen von der offenen Ladefläche eines Transporters Redebeiträge auf Deutsch, Englisch und Arabisch, in denen Israel eines Genozides an den Palästinensern beschuldigt wird. Direkt vor dem Transporter weht ein Meer aus palästinensischen Fahnen. Dazwischen sind Schilder zu sehen, die Aufschriften wie „Ende der deutschen zionistischen Staatsräson“ oder „Stoppt den Genozid“ tragen.

Zweierlei Maß

Es sind Szenen, die sprachlos machen angesichts der Angriffe der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober. Sie haben Menschen ermordet, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, verbrannt, weil sie Juden sind. Darunter Frauen, Greise und sogar Babys. Eine Verurteilung dieser barbarischen Taten ist auf „Pro Palästina“-Demos die Ausnahme.

Und die Christen?

Der Großteil der Kirchen und christlichen Gruppen in Deutschland steht für Israels Recht auf Selbstverteidigung und gegen Antisemitismus ein. Ähnlich ist es in den USA. Und doch gibt es Ausnahmen. Shane Claiborne ist Friedensaktivist und einer der wichtigsten Vertreter der „Red Letter Christians“, einer linken evangelikalen Bewegung in den USA.

Seit den Anschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober findet er in sozialen Medien wenige mitfühlende Worte für israelische Opfer, wird aber nicht müde, Israels Vorgehen zu kritisieren, bezeichnet den jüdischen Staat sogar als „terroristisch“. Am 14. Oktober kritisierte er US-Präsident Joe Bidens Rückendeckung für Israel: „Wir sollten niemals Länder unterstützen, die dazu bereit sind, tausende Kinder und Zivilisten zu töten.“ Für ihn ist der Terror der Hamas eine „Antwort“ auf „jahrzehntelange“ israelische Unterdrückung palästinensischer Menschen. Anfang November schließlich postet er folgenden Tweet: „Die Welt stand nach dem erbarmungslosen Abschlachten und Terror des 7. Oktober an der Seite Israels. Aber nun beobachten wir, wie Israel erbarmungslos 200 Kinder täglich in Gaza abschlachtet. Israel tötet alle sieben Minuten ein Kind … die Terrorisierten sind nun zu Terroristen geworden.“ Obwohl er mit derlei krassen Aussagen in der christlichen Blase – zumindest öffentlich – offenbar weitgehend alleine steht, wird bei genauerer Betrachtung der Szene eines deutlich: Die „Red Letter Christians“ oder linke christliche Galionsfiguren wie Nadia Bolz-Weber verweisen seit Beginn des Krieges vor allem auf das Leid der palästinensischen Seite.

Der „Welt“-Journalist Dirk Schümer listete in einem beißend ironischen Kommentar auf, wogegen Muslime eigentlich demon­strieren müssten: Gegen Chinas kommunistische Regierung, die 1,5 Millionen Uiguren, eine muslimische Minderheit in China, in „Umerziehungslagern“ interniert hat; gegen die „meist saudi-arabischen Angriffe gegen die schiitischen Huthi-Milizen und die Zivilbevölkerung im Jemen“ mit 400.000 Toten, gegen die Unterdrückung von 1,2 Millionen muslimischen Rohingya in Myanmar. Muslime werden tatsächlich aufgrund ihres Glaubens verfolgt, zum Beispiel in China, in Myanmar. In vielen Ländern der Welt. Stattdessen richten sich die Demonstrationen ausschließlich gegen Israel. Der Grund dafür liegt nahe: Hass auf Juden.

Das bestätigt der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Er hat im Mai, Monate vor dem 7. Oktober, ein Buch mit dem Titel „Die Juden im Koran“ veröffentlicht. Ourghi, selbst Muslim, hat vorher schon Drohungen bekommen. Doch danach wurde es noch schlimmer. „Inzwischen darf ich aus Sicherheitsgründen nicht mal mit meiner Familie durch die Stadt gehen.“ Im Gespräch mit PRO wirkt Ourghi ruhig, um Versöhnung bemüht. Um klare Statements ist er trotzdem nicht verlegen. „Zu den Feinden der Juden gehören nicht nur Rechtsextremisten, sondern auch Muslime mit Migrationshintergrund.“

„Wenn der Nahostkonflikt politischgelöst ist, bedeutet das noch längst nicht das Ende des islamischen Antisemitismus.“

Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler

In seinem Buch verteidigt Ourghi Israel. „Und die Hamas ist keine Befreiungsbewegung, sondern eine Terrororganisation. Was sie getan hat, ist unmenschlich. Das ist ein Fakt. Ich kenne Muslime, die das auch so sehen. Aber sie haben Angst, das öffentlich zu sagen. Und die Angst ist leider berechtigt.“

Woher kommt der Antisemitismus?

Der Hass auf Juden hat laut Ourghi seine Wurzeln nicht etwa im Nahostkonflikt seit 1948, als der Staat Israel gegründet wurde und viele dort sesshafte Araber vertrieben wurden. Auch sei er kein aus Europa importiertes Phänomen. Vielmehr entspringe er der Religion selbst: „Judenfeindschaft und Antijudaismus im Islam sind religiös motiviert und finden ihre Legitimation in den muslimischen kanonischen Quellen, zum Beispiel im Koran.“

Das macht der Islamwissenschaftler auch an den Aussagen und Taten des Propheten Mohammed fest. In Mekka sei er tolerant und friedfertig gewesen, habe das Gespräch gesucht. Später, in Medina, sei Mohammed ganz anders aufgetreten. „Ab 624 werden die Juden als ‚Ungläubige‘ bezeichnet, über die der Fluch Gottes komme, wenn sie sich nicht zum Islam bekennen.“ Zwei von drei jüdischen Stämmen habe Mohammed laut Koran vertrieben, der dritte sei massakriert worden. „Etwa 600 bis 900 Männer wurden exekutiert und ihre Besitztümer unter den Muslimen verteilt. Das Leben der Juden in Medina wurde einfach ausgelöscht.“

Juden hätten laut Koran den Bund mit Gott „gebrochen und stünden in Sünde und Übertretung der göttlichen Gebote“. Ourghi verweist auf Koranstellen, nach denen Juden die „Irregehenden“ seien, „ihre Herzen seien härter als Steine, und sie seien dem Zorn Gottes verfallen“. Besonders diffamierend findet Ourghi die Koranstelle, nach der Gott die Juden zu „abscheulichen Affen werden ließ, nachdem sie sich über das Sabbat-Gebot hinweg gesetzt hatten“. Diese Stellen dürfe man nicht einfach ignorieren. Stattdessen fordert Ourghi, der auch einer der Mitbegründer der liberalen Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin ist, von Muslimen eine kritische Lesart des Islam. Muslime müssten auch das politische Handeln Mohammeds kritisieren dürfen. Bis dahin scheint es noch ein langer Weg zu sein. Weil Ourghi seine Meinung öffentlich äußert, wird er von Muslimen als „Kāfir“, als „Ungläubiger“ diffamiert. Ourghi will, dass Muslime, Juden, Christen und alle anderen in Frieden miteinander leben. „Aber ich sag’s Ihnen: Wenn der Nahostkonflikt politisch gelöst ist, bedeutet das noch längst nicht das Ende des islamischen Antisemitismus.“

Erfahrungen bei der „Arche“

Dass das stimmen könnte, zeigt ein Blick in die „Arche“-Einrichtungen in Berlin: „Zuerst schneiden wir den Juden die Kehle durch, dann den Schwulen und zum Schluss den Christen!“, zitiert die „Bild“-Zeitung einen Jungen aus einer Einrichtung des christlichen Kinderhilfswerks „Die Arche“. „Dieser Satz ist bei uns von arabischen Jugendlichen gefallen, und das ist kein Einzelfall“, so Sprecher Wolfgang Büscher. „Kinder und Jugendliche radikalisieren sich immer stärker. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Wir stehen vor einer Katastrophe.“ Nach dem Massaker der Hamas hätten einige Jugendliche gesagt: „Bald gehört Deutschland uns.“ Büscher sieht kaum Chancen, bei den älteren Jugendlichen noch etwas zu erreichen. „Sie lehnen unsere Kultur, unsere Werte ab. Der Hass ist unvorstellbar.“ Die Journalisten der „Bild“-Zeitung berichten, Jugendliche hätten während des Foto-Termins mit Büscher den Gruß der islamistischen Terror-Miliz „Islamischer Staat“ gezeigt. Was tun mit so viel Hass, der sogar denen entgegenschlägt, die aus christlicher Nächstenliebe helfen wollen?

PRO trifft Rabbi Sievers an einem anderen Tag in seinem Büro unweit des Bahnhofs Zoo. Vor der Tür bauen Polizisten gerade Absperrungen auf, die die Einrichtung schützen sollen. Zusätzlich zu den Wachposten vorm Hof, dem Metalldetektor, durch den jeder muss, der das Gebäude betreten will. Und die Taschenkontrolle. Das ist Alltag für Juden in Berlin. Doch nun haben die Sicherheitsmaßnahmen nochmals angezogen.

„Es ist eine andere Dimension“, sagt Sievers. Er ist bemüht, nicht zu emotional zu sein, spricht leise, gefasst. Was macht diese neue Dimension aus? „Dass die Leute plötzlich wieder denken, sie könnten sich öffentlich trauen, gegen Juden zu hetzen“, sagt er. Es sei von vielen sozial akzeptiert, besonders aus der muslimischen Community.

Umso heftiger formuliert Sievers seine Kritik an den Islamverbänden in Deutschland, die wenig entschieden und zögerlich ihre Ablehnung der Hamas-Gewalt äußerten. „Es geht doch hier nicht nur um uns Juden. Es geht um jeden, der in Freiheit leben will. Wir sind nur die ersten, die es trifft“, sagt er und berichtet von einer Bekannten, deren Wohnhaus in Berlin mit einem Davidstern beschmiert wurde. Markiert genauso, wie im Dritten Reich jüdische Geschäfte gekennzeichnet wurden. Sie war nicht die Einzige, der das in Berlin geschah, Fotos machten in den sozialen Medien die Runde. „Das Schlimmste dabei ist: Diese Frau ist gar keine öffentliche Person. Wer wusste, wo sie wohnt? Wer kann das getan haben?“, grübelt Sievers. Wie es ihm damit geht? „Es macht sich ein leeres Gefühl breit“, sagt er und hat nichts hinzuzufügen.

Dennoch bleibt er bei dem, was er schon in der Synagoge sagte: „Angst, Wut und Hass dürfen unsere Herzen nicht vereinnahmen.“

Angriff auf die Lehren aus der Schoah

Das dürfte nicht leicht fallen angesichts der vielen Demonstrationen, auf denen Israel als „Apartheidsstaat“ bezeichnet wird, der einen „Genozid“ an den Palästinensern verübe. Das antisemitische Pro-Palästina-Lager speist sich längst nicht nur aus Muslimen, sondern auch aus bestimmten Teilen der politischen Linken. Vor allem das akademische Milieu fällt als judenfeindlich auf. An der US-Eliteuni Harvard zum Beispiel wurde ein Jude von einem Mob pro-palästinensischer Studenten aufgehalten und bedrängt. Junge Menschen hängten Plakate gekidnappter israelischer Geiseln ab – in New York, in Boston, Los Angeles und vielen weiteren Orten, wie der Twitter/X-Account „StopAntisemitism“ dokumentiert. Darauf angesprochen, reagieren die Täter immer gleich: Israel sei der wahre Aggressor, die Palästinenser die Unterdrückten. Aus deutscher Sicht noch verstörender wirkt das, was die augenscheinlich nicht-migrantischen Demonstranten am 18. Oktober in Berlin skandierten: „Free Palestine from German guilt“ – „Befreit Palästina von deutscher Schuld“. Im Klartext bedeutet das: Die deutschen Lehren aus der Schoah müssen überwunden werden, um Gerechtigkeit für die Palästinenser zu schaffen. Das ist nicht weit von der „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ des AfD-Politikers Björn Höcke entfernt, aber auf links gedreht. Deutlicher kann man dem „Nie wieder“ kaum widersprechen.

Auch die Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ veröffentlichte auf Instagram antisemitische Verschwörungsmythen wie die Unterwanderung der Presse durch jüdische Eliten. „Hier spricht die Hamas“, kommentierte die Islamforscherin Susanne Schröter den Post. Dabei beließ die Gruppe es nicht. Greta Thunberg, bisher die Ikone der Bewegung, äußerte sich mehrfach und öffentlich derart israelfeindlich, dass sich selbst enge Unter­stützer von ihr abwenden. Die deutsche Sektion von „Fridays for Future“ setzte die Zusammenarbeit mit ihrer internationalen Mutterorganisation aus und erklärte: „Greta Thunberg verletzt mit ihrer Positionierung gerade viele Menschen.“

Krieg der Bilder

Die Grünen-Chefin Ricarda Lang nannte Thunbergs Verhalten „nicht nur bedrückend, sondern absolut unanständig“, sie missbrauche „das absolut notwendige und richtige Anliegen des Klimaschutzes für eine einseitige Position zum Israel-Palästina-Konflikt.“

Was bringt junge Menschen dazu, sich auf die Seite von Terroristen zu schlagen? Eine Antwort mag in einer überdrehten Anwendung des sogenannten Postkolonialismus liegen. Das würde bedeuten, dass Israel als Kolonialherr identifiziert wird, der per se kritisiert und bekämpft werden muss, während die Stimme der mutmaßlichen Unterdrückten – der Palästinenser – besonders hervorgehoben werden soll. Das Opfer hat Recht. Die Frage ist nur, wer das Opfer ist.

Und an der Beantwortung dieser Frage haben klassische Medien einen entscheidenden Anteil , aber auch die sozialen Netzwerke. Der Krieg in Gaza ist eben auch ein Krieg der Bilder. Israel weiß das genauso gut wie die Hamas. Das ist auch der Grund, warum Israel die grausamen Videos vom 7. Oktober immer wieder zeigt und daran erinnert. Gleich nach dem Hamas-Angriff hatten sie eine Welle der Solidarität ausgelöst. Doch ab da lief die Zeit für die Terroristen in Gaza: Jedes Bild toter Zivilisten eignete sich, um die Stimmung gegen Israel zu wenden. Verbunden mit der Unterstellung, Israel töte absichtlich Unschuldige. „Das ist Propaganda“, sagt Islamwissenschaftler Ourghi. „Die Hamas unterhält einen eigenen Propaganda-Apparat, über den sich Bilder und Videos rasant in der islamischen Welt verbreiten. Sie will damit aller Welt vermitteln, dass sie für Frieden und Gerechtigkeit kämpft und dass der Jude der ewige Feind der Muslime ist.“

Kritik ist legitim, Antisemitismus nicht

Es gibt vieles, was man an Israels Verhalten kritisieren kann: Die Siedlungspolitik, die Justizreform, die öffent­liche Kommunikation führender Köpfe. Das ist kein Antisemitismus. Wenn aber Worte wie „Kindermörder Israel“, „Apartheid“ oder „Genozid“ fallen, ist eine Grenze überschritten. Denn damit sagt man: Israel tötet mit Absicht Unschuldige, sogar Kinder. Das ist nicht die Wahrheit. Sondern die Neuauflage uralter antisemitischer Verschwörungserzählungen. Fakt ist: Noch nie seit dem Holocaust wurden so viele Juden an einem Tag ermordet wie am 7. Oktober 2023. Die Hamas will laut ihrer eigenen Charta Israel auslöschen. Israel will überleben. Legt die Hamas die Waffen nieder, ist Frieden möglich. Legt Israel die Waffen nieder, gibt es kein Israel mehr. Auch das Leid der Palästinenser ist groß, Unschuldige und Wehrlose sterben. Auch sie sind von Gott geliebte Menschen. Und sie sind die Opfer der Hamas, die die eigene Bevölkerung in einer Art Todeskult erst als menschliche Schutzschilde missbraucht, um sie dann als Märtyrer feiern zu können. Kritik an israelischer Politik ist genauso legitim wie Kritik an der Politik anderer Länder. Antisemitismus nicht. Für Christen, zumal in Deutschland, sollte das selbstverständlich sein.

Ein Kommentar von Nicolai Franz

Dass die deutsche Sektion von „Fridays for Future“ sich von Thunberg distanzierte, ist auch der deutschen Aktivistin Luisa Neubauer zu verdanken. Sie hat noch eine andere Erklärung für Antisemitismus unter jungen Leuten. Auf einer Gedenkveranstaltung berichtet sie von ihrer Reise nach Israel. „Ich wollte lernen“, sagt sie vor Zuhörern, berichtet von ihren Gedanken in der Gedenkstätte Yad Vashem und findet nachdenkliche Worte: „Wir hier in Deutschland, wir jungen Leute, zumindest teilweise, wir haben vergessen, bevor wir erst angefangen haben, richtig zu erinnern.“

Die Hoffnung des Rabbiners

Und doch darf nicht übersehen werden, dass viele Menschen in Deutschland für Israel und dessen Existenzrecht einstehen. So wie Ende Oktober in der Fasanenstraße, direkt vor dem jüdischen Gemeindehaus.

„Emily Hand, Ravid Katz, Irena Tatti.“ Als die mehr als 200 Namen der von der Hamas entführten Menschen vorgelesen werden, herrscht Stille unter den 350 Anwesenden. Gerade hat leichter Nieselregen eingesetzt. Einige spannen ihre Regenschirme auf. Einzig die gleichmäßig im Hintergrund tuckernden Diesel­motoren der Mannschaftswagen der Polizei sorgen für eine Geräuschkulisse.

„Sapir Cohen, Eitan Horn, Ruth Munder.“ Es ist Sabbat. Mitten auf der abgesperrten Straße ist eine riesige, festlich gedeckte Tafel aufgebaut. Eine weiße Tischdecke, weiße Teller, Gläser und 200 weiße Stühle. Sie sind leer. Auf der Rückenlehne jedes Stuhls ist ein Plakat angebracht. In roten Lettern steht darauf „ENTFÜHRT“. Dazu jeweils ein Bild, Name, Alter und Herkunft. Auch Stühlchen für Kinder stehen an der Tafel. Am Kopf des Tisches brennen die mittlerweile entzündeten Sabbat-Kerzen. Dazwischen stehen der Kelch mit dem Wein und ein Holzbrett, auf dem Challa – das traditionelle Sabbat-Brot – liegt. Ein Gedenken an die 200 Geiseln der Hamas. Sie sollen nicht vergessen werden.

Foto: PRO/Martin Schlorke
Der leere Schabbattisch soll an die Geiseln der Hamas erinnern

Auch Rabbi Sievers ist an diesem Abend vor Ort. Einige Tage zuvor erzählte er PRO folgende Geschichte aus Israel, wo er einst lebte: Dort habe es einen Anschlag auf eine Buslinie gegeben, die er selbst täglich nahm. „Nur 15 Minuten nachdem ich mit diesem Bus gefahren war, ich hatte großes Glück.“ Wochen später saß Sievers wieder im Bus, ein Araber stieg ein mit einer Plastiktüte in der Hand. „Im ganzen Bus war es totenstill. Der Mann ging durch die Reihen und setzte sich gleich neben mich“, erinnert sich der Rabbiner. So fuhren sie eine Station, zwei, drei. Bis der Mann sich, am Krankenhaus angekommen, erhob und ausstieg. Nichts geschah. „Er wollte offenbar nur jemanden besuchen. Und wir dachten, er sei möglicherweise ein Terrorist. Nur weil er Araber war.“ Wenn der Hass heute droht, Sievers’ Herz zu packen, weil er an die Toten und Geiseln in Israel und im Gazastreifen denkt, dann ruft er sich diese Busfahrt in Erinnerung. Und ihn begleitet ein Zitat des Rabbiners Nachman ben Simcha: „Kol ha-olam kulo gesher tzar me’od v’ha-ikkar lo le’fached k’lal.“ „Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, das Wichtigste ist, keine Angst zu haben.“

Von: Anna Lutz, Martin Schlorke und Nicolai Franz

Dieser Text ist zuerst in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Abonnieren Sie PRO kostenlos hier.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen