Hänel erneut verurteilt – das Ziel heißt Karlsruhe

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel hat erneut vor Gericht verloren, weil sie unerlaubterweise Informationen über Schwangerschaftsabbrüche auf ihrer Website veröffentlicht hatte. Einen Freispruch wollte sie nicht, denn ihre Hoffnung ist Karlsruhe: Paragraf 219a soll für verfassungswidrig erklärt werden.
Von Nicolai Franz
Verloren und doch gewonnen: Kristina Hänel nach der Urteilsverkündung

„Frau Hänel, Sie möchten ja verurteilt werden“, sagte Staatsanwalt Christian Bause am Donnerstag in Richtung der Gießener Ärztin. Die Angeklagte nickte. Aber nicht, weil sie Schuld empfand, sondern weil sie gegen ein Gesetz kämpft, das sie für verfassungswidrig hält. Hänels Wunsch wurde erfüllt: Sie ist erneut wegen unerlaubter Werbung für Schwangerschaftsabbrüche vor dem Landgericht Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Der Fall beschäftigt die Justiz und die Politik schon seit Jahren. Bei dem Rechtsstreit geht es um den umstrittenen Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch, der Abtreibungswerbung unter Strafe stellt. Hänel hatte auf ihrer Homepage unter ihren Leistungen angegeben, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche anbietet. Darüber hinaus hatte sie ein PDF zum Download angeboten, in dem die Allgemeinmedizinerin über die angebotetenen medikamentös und operativen Methoden informierte.

Das hatte das Amtsgericht Gießen im November 2017 als Verstoß gegen Paragraf 219a Strafgesetzbuch gewertet. Es handele sich nicht um eine reine Information auf der Internetseite, wenn Ärzte ihre Leistungen nennen würden. Denn durch die Nennung der Leistung werbe man automatisch für seine Praxis. Das Landgericht Gießen bestätigte im Oktober 2018 sowohl das Urteil als auch das Strafmaß der Geldstrafe in Höhe von 6.000 Euro. Schon damals war Hänels eigentliches Ziel das Bundesverfassungsgericht, um den Paragrafen 219a als verfassungswidrig einstufen zu lassen. Sie hoffte daher auf das Verfahren vor der nächsthöheren Instanz, dem Oberlandesgericht Frankfurt.

Zentrale Liste der Ärztekammer

Doch dazu kam es vorerst nicht. Denn zwischenzeitlich hatte der Bundestag den Paragrafen 219a um einen Absatz ergänzt. Demnach dürfen Ärzte künftig auf ihrer Website angeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Weitere Informationen wie über Methoden und weitere Tipps bleiben weiterhin verboten. „Wir dürfen sagen, dass wir Abbrüche durchführen, aber wir dürfen nicht sagen, wie wir das tun“, fasste Kristina Hänel die Rechtslage zusammen.

Stattdessen können Ärzte auf eine zentrale Liste der Bundesärztekammer verlinken, in der es die entsprechenden Informationen gibt. Weil sich die Rechtslage durch einen Kompromiss der Großen Koalition geändert hatte, hatte das Oberlandesgericht Frankfurt den Fall im Juni 2019 zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Gießen zurückgegeben. Es könne schließlich sein, dass durch die Lockerung des Paragrafen ein günstigeres Urteil für die Angeklagte herauskommen würde, argumentieren die Frankfurter Richter. Das bedeutete: Hänel musste auf dem Weg nach Karlsruhe eine weitere Runde drehen. Zudem sei in der Urteilsbegründung nicht deutlich betont worden, ob es sich bei dem Angebot Hänels um das Werben für legale Abtreibungen nach der Fristen- oder Indikationsregel handelt, so das Frankfurter Gericht.

Dass Hänel nur legale Abbrüche thematisiere, daran ließ das Landgericht am Donnerstag keinen Zweifel. Das sind Abtreibungen, die nach der sogenannten Fristenlösung inklusive einer Pflichtberatung vorgenommen werden – oder nach einer Indikation, etwa nach einer Vergewaltigung oder falls Gefahr für Mutter oder Kind besteht. Auch, so die Gießener Richterin und Staatsanwalt Christian Bause, seien die Informationen im PDF von Kristina Hänel durchweg „rein sachlich“. Das Dokument erklärt zum Beispiel die chirurgische Abbruchmethode, bei der das „Schwangerschaftsgewebe abgesaugt“ werde. Dass an keiner Stelle von „Embryo“ oder gar „ungeborenem Leben“ die Rede ist und dies im Widerspruch zum Lebensschutz stehen könnte, diskutierten die Juristen nicht.

Schutz für eine „kollektive Moral“?

Kristina Hänel will weiterhin die komplette Abschaffung von 219a. Ihre Niederlage vor Gericht ist also in Wahrheit ein kleiner Sieg, weil sie ihrem Ziel – dem Bundesverfassungsgericht – nun etwas näher ist. Bei der Gerichtsverhandlung machte ihr Verteidiger Karlheinz Merkel mehrfach deutlich, dass er das Gesetz für grundgesetzwidrig hält. Dabei änderte der Jurist seine Taktik seit der letzten Verhandlung. Im Oktober 2018 hatte er noch argumentiert, der Paragraf schränke unzulässigerweise die Meinungs- und Berufsfreiheit zugunsten des Schutzes des ungeborenen Lebens ein, immerhin Grundrechte der Verfassung. Bei der Verhandlung am Donnerstag führte er stattdessen in einem langen Redebeitrag aus, dass das Werbeverbot für Abtreibung nicht etwa das ungeborene Leben schütze. Denn durch die Informationen auf der Website entstehe kein konkretes Gefährdungspotenzial, sondern lediglich ein „abstraktes“. Damit schütze das Gesetz nicht etwa den Embryo, sondern eine „kollektive Moral“ aus dem Jahre 1974, die Merkel für antiquiert hält. „Damals waren die Hälfte der Menschen in Deutschland noch nicht einmal geboren.“

Abermals versuchte Merkel, das Gericht zu einer Abkürzung ins Verfassungsgericht nach Karlsruhe zu überzeugen. Das Gesetz sei schlicht strafrechtlich absurd und damit verfassungswidrig, das müsse auch das Gericht erkennen. Dazu hätte es – wie schon im Vorläuferprozess – eine Menge Mut gebraucht. Immerhin hätte damit eine Richterin am Landgericht Gießen ein jahrzehntealtes Gesetz für offensichtlich verfassungswidrig erklären müssen. Die Richterin hatte allerdings schon zu Beginn des Prozesses klar gemacht, dass sie es allein aus formalen Gründen ablehne, den Fall direkt Karlsruhe vorzulegen. Das Oberlandesgericht Frankfurt habe den Fall nur wegen der neuen Rechtslage ans Landgericht verwiesen. Damit habe es die Verfassungskonformität von Paragraf 219a also – stillschweigend – bestätigt. Der Staatsanwalt Christian Bause sah es nicht ganz so, er hielt die Entscheidung des Oberlandesgerichtes aber für „uneindeutig“. Wegen dieser Unsicherheit könnte es sogar sein, dass die Karlsruher Richter den Fall nach langer Wartezeit aus formalen Gründen wieder an das Landgericht verweisen würden, mahnte die Richterin. Dann würde Hänel noch länger auf ein endgültiges Urteil aus Karlsruhe warten müssen.

Fall wird Justiz noch lange beschäftigen

Doch Hänels Verteidiger Merkel schien auf diesen Fall vorbereitet – und zog ein neues Ass aus dem Ärmel. Angesichts der offensichtlichen Mängel des Gesetzes habe das Gericht doch auch die Möglichkeit, den Fall direkt vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen. Das sei möglich, wenn das Gericht der Meinung ist, dass das Gesetz europäischem Recht widersprechen könnte. Laut Merkel würden dafür schon leichte Zweifel genügen. Hätte das Gericht sich dazu durchgerungen, es wäre ein echter Coup des Juristen gewesen.

Stattdessen folgte die Vorsitzende Richterin den Ausführungen des Staatsanwaltes. Das Gesetz sei nun einmal anzuwenden, sagte sie in der Urteilsverkündung. „Politische Überlegungen gehören nicht in den Gerichtssaal.“ Es sei klar zu trennen zwischen Strafrecht, Politik und moralischen Gesinnungen, dies seien „drei völlig unterschiedliche Dinge“. Sie reduzierte wegen der neuen Gesetzeslage die Strafe zwar von 40 Tagessätzen je 150 Euro auf 25 Tagessätzen je 100 Euro, blieb aber bei der grundsätzlichen Einschätzung ihres Kollegen am Landgericht. Gleichzeitig kritisierte auch sie den Paragraf 219a und dessen kürzliche Änderung als „in keiner Hinsicht gelungen“. Hänel und ihr Verteidiger gaben an, Revision einzulegen. Der Fall wird die deutsche Justiz also womöglich noch lange beschäftigen.

Gleichzeitig machte die Richterin deutlich, dass das Gericht die Strafanzeigen gegen Hänel und andere Ärztinnen damit nicht gutheißt. Einzelne Abtreibungsgegner würden Staatsanwaltschaften „instrumentalisieren“, um Ärzte unter Druck zu setzen. Hänel gab an, die mittlerweile leicht veränderten Informationen auf ihrer Website – derzeit in Deutsch, Englisch und Türkisch – nicht offline zu nehmen. Staatsanwalt Bause mahnte, wenn Hänel dies tue, sei das eine Einladung für weitere Anzeigen radikaler Abtreibungsgegner. Und diese Anzeigen müsse er bearbeiten, egal von wem sie kämen. „Es könnte also sein, dass wir uns hier bald wiedersehen, Frau Hänel.“

Aktenzeichen: 4 Ns – 406 Js 15031/15

Paragraf 219a Strafgesetzbuch im Wortlaut:

§ 219a
Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft

(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise

1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder
2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung
anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Absatz 1 Nr. 1 gilt nicht, wenn Ärzte oder auf Grund Gesetzes anerkannte Beratungsstellen darüber unterrichtet werden, welche Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen bereit sind, einen Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 bis 3 vorzunehmen.
(3) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn die Tat gegenüber Ärzten oder Personen, die zum Handel mit den in Absatz 1 Nr. 2 erwähnten Mitteln oder Gegenständen befugt sind, oder durch eine Veröffentlichung in ärztlichen oder pharmazeutischen Fachblättern begangen wird.
(4) Absatz 1 gilt nicht, wenn Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen

1. auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Absatz 1 bis 3 vornehmen, oder
2. auf Informationen einer insoweit zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einer Ärztekammer über einen Schwangerschaftsabbruch hinweisen.

Von: Nicolai Franz

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