Großer Zulauf in Gottesdiensten der Virtual Reality

In Zeiten von Corona und Quarantäne gehen viele Gemeinden online und bieten eine Videoübertragung an. Doch eine bestimmte Kirche erfährt in dieser Zeit gerade einen besonderen Boom: Die Kirche der Virtual Reality. pro hat sich vom leitenden Pastor der „VR Church Europe“ erklären lassen, wie der Gottesdienst mit Avataren geht und wie eine virtuelle Taufe ohne echtes Wasser funktioniert.
Von Jörn Schumacher
Neue Technik macht’s möglich: In Zeiten von Quarantäne treffen sich Christen vermehrt in virtuellen Räumen zum Gottesdienst

Der Pastor ist eine computeranimierte Figur, und die umherstehenden Gottesdienstbesucher sind es auch: Wir sind in einem Gottesdienst der „Virtual Church“, einer neuen Art der Online-Gottesdienste für Daheimgebliebene. Der Pastor predigt, die Teilnehmer singen, manche heben sogar ihre Hände. Alle reden miteinander, als wären sie lebende Personen. Und tatsächlich sind sie das ja auch: Hinter jeder Figur, einem sogenannten Avatar, steckt eine echte Person, nur dass sie vielleicht viele tausende Kilometer entfernt von den anderen ist. Die Dame, die ihr Haus nicht verlassen kann und seit Ewigkeiten nicht mehr in einem Gottesdienst war, kann hier mit echten Christen zusammentreffen, Gott anbeten und eigentlich alles machen, was in einem normalen Gottesdienst auch üblich ist. Taufen, gemeinsames VaterUnser, Predigt, Lobpreis, die christliche Religion ist in VR (Virtual Reality) angekommen.

„Die Menschen, die Jesus suchen, sollen ihn nicht nur in der normalen Wirklichkeit finden, sondern auch in der Virtuellen Realität“, sagt Markus Neher, Leiter der „Virtual Reality Church“ Europe. Er nimmt eine Datenbrille in die Hand und erklärt: Dank der 3D-Brille, die mit jeweils einem Monitor für jedes Auge ausgestattet ist, „glaubt“ das Gehirn schon nach kurzer Zeit, wirklich an dem Ort zu sein, den der Computer generiert. „In dieser Quarantänezeit bin ich durch die VR-Brille für die Zeit des Gottesdienstes entführt in einen Gottesdienstraum.“

Das Angebot erfährt gerade einen enormen Zuwachs. „Wir haben derzeit in einem Gottesdienst rund 60 Besucher“, sagt Neher, „die Tendenz ist stark steigend.“ Es gibt mittlerweile mehrere Gottesdienste an jedem Sonntag: Ganz früh am Tag beginnen die Australier, um 19 Uhr sind die Europäer dran, schließlich gibt es um ein Uhr nachts Uhr einen Gottesdienst für die Amerikaner. In allen Gottesdiensten zusammengenommen gibt es mittlerweile mehrere Hundert Besucher, so Neher. Bislang finden die Gottesdienste ausschließlich auf Englisch statt, doch die Initiatoren planen derzeit Übersetzungen in andere Sprachen.

Schwelle für Neugierige besonders niedrig

Neher ist im echten Leben Geschichtslehrer für die Oberstufe und arbeitet zudem in einer offenen Jugendarbeit in einem sozialen Brennpunkt. Nach einem Studium von Geschichte und Philosophie promoviert er derzeit im Bereich Politische Theorie und Erkenntnistheorie und singt privat in einer Metal-Band. Er ist also alles andere als ein versteckter Nerd, der sich aus Angst kaum aus dem Haus traut. Auch das echte Gemeindeleben kennt er gut: Er selbst gehört zu einer Gemeinde der Jesus-Freaks.

Das Konzept, die Zugangsschwelle für Neuankömmlinge möglichst niedrig zu halten, hat seine Online-Kirche übernommen: Jeder ist willkommen, ob Christ oder nicht, Atheist, Moslem oder Buddhist, betont Neher. Er stellt klar: „Unsere Gemeinde ist Jesus-zentriert; wir glauben, dass Jesus der einzige Weg zum Vater ist. Aber wir glauben auch, dass es notwendig ist, dass sich jeder willkommen fühlt.“ Natürlich kommt es auch vor, dass ein „Troll“ in der Virtuellen Kirche nur vorbeikommt, um zu stören und laut zu rufen. Dann gibt es Wege, ihn zu beruhigen, ihn freundlich einzuladen, sich den ungewöhnlichen Gottesdienst einmal anzusehen, oder notfalls auch ganz zum Verstummen zu bringen.

Neher selbst kam 2017 zum ersten Mal in Kontakt mit VR – der Virtuellen Realität. Er probierte eine 3D-Brille namens Occulus Rift aus, stolperte online in einen virtuellen Gottesdienst der ersten Virtual Church und war sofort begeistert. „Ich kann plötzlich einen Meter neben Amerikanern stehen, obwohl sie in Wirklichkeit gerade Tausende von Kilometern entfernt sind. Ich kann mit ihnen reden und High Five machen. Wir können auch füreinander beten, sogar mit Handauflegen.“ Klar, die Mimik geht unter, den Gesichtsausdruck überträgt die Technik nicht. „Aber die Technik entwickelt sich ja ständig weiter“, sagt Neher. Die modernen Geräte erlauben es mittlerweile, die Stellung der Finger im virtuellen Raum darzustellen. Und die Hände jedes Avatars machen dann genau das, was der Nutzer mit seinem Datenhandschuh macht. Und macht der User im Wohnzimmer einen Schritt nach vorn, macht das auch seine virtuelle Figur in der digitalen Welt. Benötigt werden lediglich ein Computer, die Datenbrille sowie -handschuhe und ein Login zu einer der zwei VR-Welten „VRChat“ oder „AltspaceVR“.

Virtuelle Taufe

Die Gläubigen treffen sich in digital gebauten Umgebungen, das können Kirchengebäude sein, aber auch einfache Felder, die schön gestaltet wurden, mit Wasserwall und Bäumen. Auch die Online-Figuren kann jeder Nutzer für sich selbst gestalten. Zumindest in der neueren Technik namens „VRChat“. In der etwas älteren Version namens „AltspaceVR“ sehen die Avatare noch klobig aus, etwa so wie in älteren Spielekonsolen.

Die neue Technik gibt den Online-Predigern aber ein mächtiges Werkzeug in die Hand: Für eine Predigt kann ein User zuvor eigene Räume und Landschaften erstellen, die dann die Gottesdienstbesucher gemeinsam betreten. Die Predigt etwa über die neue Freiheit, die wir in Christus haben, kann dann bildgewaltig von einem Gefängnis unterstützt werden, in dessen Zellen man sich begibt, und auf dessen Wände dann die Predigt-Bibelverse stehen. „Wir haben mehrere Leute, die diese Szenerien bauen“, sagt Neher.

Neher klemmte sich an den Gründer der Virtual Church, den Amerikaner David J. Soto, und bestaunte, was er in kurzer Zeit aufgebaut hatte. Soto machte 2000 seinen Bachelor-Abschluss in Theologie, arbeitete zunächst als Lehrer für Computer und Musik an einer Highschool, dann als Produzent für Fernsehsender in Kalifornien. Er war lange Zeit in einer Megachurch in Reading im US-Bundesstaat Pennsylvania tätig und wollte eigentlich mit seiner Frau einen Ableger dieser Kirche gründen. Im Jahr 2016 entdeckte Soto erstmals die Virtuelle Welt, die AltSpaceVR. Ihm war sofort klar, welches Potenzial diese neue Technik in sich birgt, und wie man hier Menschen das Evangelium predigen kann, die sonst vielleicht nie eine Kirchen betreten würden. Zwei Tage später stellte er sich mit seinem Avatar in seine virtuelle Kirche und begann eine Predigt zu halten. Das tat er von da an regelmäßig. Es entstanden regelmäßige Treffen. Manchmal sei der Raum auch komplett leer gewesen, aber das habe ihn nicht davon abgehalten, zu predigen, sagt Soto. Zehn Monate später gründete er gemeinsam mit seiner Frau Kari, mit der er fünf Kinder hat, die Virtual Reality Church.

Genau wie der Amerikaner Soto ist der Deutsche Neher überzeugt, dass die Schwelle für Neugierige in der VR-Welt noch viel niedriger ist als im echten Leben. „Es gibt Menschen, denen es schwer fällt, soziale Kontakte zu schließen“, sagt Neher, „die sich niemals im echten Leben in einen Gottesdienst begeben würden, wo sie niemanden kennen. Bei uns kann jeder erst einmal anonym kommen. Beim näheren Kontakt lernt man sich dann mit der Zeit auch besser kennen.“ Pastor Soto berichtete in einem Interview von einem Drogensüchtigen, der von einer Gemeinde im echten Leben hinauskomplimentiert worden war, weil er nicht dem Idealbild eines Christen entsprach. Er sei froh gewesen, Kontakt mit Christen in einer virtuellen Kirche zu bekommen. Aber die virtuelle Umgebung ist auch wie gemacht für Menschen, denen es aufgrund physischer Leiden nur schwer möglich ist, ihr Haus zu verlassen.

Medien berichten über VR-Gottesdienste

Neher traf den Gründer der VR-Church, Pastor Soto, auch einmal im echten Leben. Vor einem Jahr kam Soto nach Deutschland. Seitdem darf Neher den europäischen Zweig der „Virtual Reality Church“ leiten und hält dort jeden zweiten Sonntag die Predigt. Ob man in der virtuellen Gemeinde die Leute auch virtuell taufen kann, darüber darf gestritten werden, betont Neher. Der Amerikaner Soto jedenfalls ist überzeugt: „Wenn wir eine richtige Gemeinde sein wollen, sollte bei uns auch getauft und das Abendmahl verteilt werden.“ Im vergangenen Jahr wurde in seiner Gemeinde die erste Person virtuell getauft, es war eine Frau, die im echten Leben ihr Haus nicht verlassen kann und sehr dankbar war, dass sie in der VR-Kirche diese Möglichkeit erhielt.

Mittlerweile habe es rund zehn Taufen in der virtuellen Welt gegeben, schätzt Neher. „Das ist dann zwar ohne Wasser, also ohne H2O-Moleküle, aber eben mit virtuellem Wasser.“ Es gibt ein Taufbecken mit durchsichtig schimmerndem, digital animiertem Wasser. Rundherum stehen andere Gemeindemitglieder. Nach der Taufansprache begibt sich der Täufling selbst unter das digitale Wasser, es ist alles eigentlich wie bei einer echten Taufe. Natürlich ist Pastor Neher bewusst, dass für manchen Theologen die Gültigkeit einer solchen Taufe in Frage gestellt ist. „Aber wenn ich später mal Jesus begegne, wird er mir doch bestimmt nicht sagen: ‚Warum hast du diese Person denn bloß virtuell getauft? Es hätte mit H2O-Molekülen passieren müssen!‘“

Mittlerweile sind große Magazine und Fernsehsender auf die virtuelle Gottesdienstform aufmerksam geworden. Das bekannte Technik-Magazin Wired schrieb einen großen Bericht über Soto und die VR Church, im März berichtete der britische Fernsehsender BBC davon, dass sich in Zeiten von Corona Christen nun Wege im virtuellen Raum suchen, um – ansteckungsfrei – Gottesdienste zu feiern. In deutschen VR-Fachmagazin mixed.de konnte Neher vor Kurzem erklären, was es mit der VR-Kirche auf sich hat. Er als freikirchlicher Christ setze auf die neuartige Telepräsenz für eine „vollwertige Gottesdiensterfahrung mit Gänsehaut-Feeling“, schrieb er. Gerade für eine Zeit der Quarantäne erscheint ihm die VR Church wie gemacht. „So habe ich tatsächlich eine geistliche Heimat in einer Kirche gefunden, deren Mitglieder auf der ganzen Welt verteilt sind, die ich wahrscheinlich niemals außerhalb von VR zu Gesicht kriegen werde – und trotzdem habe ich das Gefühl, sie gut zu kennen.“

Von: Jörn Schumacher

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