Größte Flüchtlingskatastrophe seit Zweitem Weltkrieg
Die zunehmende Gewalt bewaffneter Gruppen führt zur größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Das zeigt der neue Bericht zur weltweiten Menschenrechtslage von Amnesty International. Die Organisation stellt fest: Beim Schutz der Zivilbevölkerung hat die Weltgemeinschaft versagt.
Von PRO
Foto: UNHCR | Dobrin Kashavelov
Syrische Flüchtlinge in einem Auffanglager in Bulgarien. Viele ihrer Leidensgenossen schaffen es nicht bis in die EU
Weltweit werden bewaffnete Konflikte immer häufiger auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen. Das hat Amnesty International bei der Vorstellung eines Jahresberichts zur Menschenrechtslage beklagt. „Wir beobachten einen erschreckenden Trend: Nichtstaatliche bewaffnete Gruppen gehen zunehmend brutal gegen die Zivilbevölkerung vor“, erklärte Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, am Dienstag in Berlin. 20 Prozent aller registrierten Menschenrechtsverletzungen gehen laut Amnesty auf das Konto bewaffneter Gruppen wie Boko Haram oder dem Islamischen Staat (IS). Für den Bericht hat die Organisation Menschenrechtsverstöße in 160 Ländern untersucht und dokumentiert.
In 82 Prozent der Länder gibt es laut der Menschenrechtsorganisation Folter und Misshandlungen. Die Meinungsfreiheit ist in 75 Prozent aller untersuchten Staaten einschränkt. In vielen Ländern sei die Pressefreiheit durch die Schließung von Zeitungsredaktionen und Bedrohung von Journalisten nicht gewährleistet. Dazu gehören unter anderem Russland, die Ukraine, die Türkei und Ägypten.
Immer mehr Menschen fliehen vor bewaffneten Konflikten
„2014 war ein katastrophales Jahr für Millionen von Menschen, die unter der Bedrohung durch Entführungen, Folter, sexualisierter Gewalt, Anschläge, Artilleriefeuer und Bomben auf Wohngebiete leben mussten“, sagte Çalışkan. „Die eskalierenden bewaffneten Konflikte haben zur größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg geführt“, stellte die Generalsekretärin fest.
Allein aus Syrien sind nach Amnesty-Angaben seit 2011 rund vier Millionen Menschen infolge des Bürgerkrieges und vor der Gewalt der Terrororganisation IS geflohen. Gegenüber 2013 hat sich diese Zahl nahezu verdreifacht. 95 Prozent der syrischen Flüchtlinge seien in den Nachbarländern untergekommen. So habe der Libanon in den vergangenen drei Jahren über 715 Mal mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte Europäische Union (EU). Amnesty beklagt in diesem Zusammenhang die mangelnde Unterstützung der Nachbarstaaten Syriens durch die Weltgemeinschaft und fordert mehr Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge in der EU.
Die Menschenrechtsorganisation kritisiert vor allem die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrates: „Statt den Schutz der Zivilbevölkerung ins Zentrum der internationalen Politik zu rücken, blockieren nationale, geopolitische und wirtschaftliche Interessen ein gemeinsames Handeln und heizen Konflikte noch weiter an“, so Çalışkan. Die ständigen Sicherheitsratsmitglieder sollten im Fall von schweren Menschenrechtsverletzungen wie Kriegsverbrechen oder Völkermord deshalb verbindlich auf ihr Veto-Recht verzichten, fordert Amnesty. Tatsächlich verhindern Russland und China durch ihren Einspruch seit mehreren Jahren eine UN-Resolution gegen Syriens Machthaber Assad.
Gute Nachricht: Freilassung von Christin
Mit Blick auf das Erstarken von Terrormilizen wie IS oder Boko Haram müsse sich die Politik auch mit langfristigen Konfliktursachen auseinandersetzen. Amnesty warnte zugleich, die Terrorismusbekämpfung dürfe kein Vorwand für eigene Menschenrechtsverstöße sein. Auf die jüngsten Terroranschläge in Paris und Kopenhagen bezogen sagte Çalışkan: „Reflexartige drakonische Maßnahmen sind hier ganz klar die falsche Antwort.“ Die internationale Staatengemeinschaft müsse mit gutem Beispiel vorangehen: „Wir können nur dann dauerhaft friedliche, menschenwürdige Verhältnisse schaffen, wenn wir glaubwürdig für die Menschenrechte überall und für alle Menschen eintreten, egal zu welcher Konfliktpartei sie gehören“.
Neben den vielen „niederschmetternden“ Meldungen habe es auch positive Entwicklungen im vergangenen Jahr gegeben. Çalışkan nannte die Freilassung der Sudanesin Meriam Ibrahimdie vom Islam zum Christentum konvertierte und dafür zum Tode verurteilt und inhaftiert worden war. Auch den im Dezember 2014 in Kraft getretenen internationalen Waffenhandelsvertrag (ATT) wertet Amnesty als Erfolg. Er soll Waffenlieferungen an Staaten oder bewaffnete Gruppen stoppen, die Kriegsverbrechen oder schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Als drittgrößter Waffenexporteur sei auch Deutschland gefordert. Die Bundesregierung müsse die Empfänger deutscher Rüstungsexporte sorgfältiger überprüfen und die zivile Krisenprävention stärken.
Auch Deutschland in der Kritik
Die in London ansässige und nach eigener Aussage weltweit größte Menschenrechtsorganisation Amnesty International setzt sich seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt ein. Dafür erhielt Amnesty 1977 den Friedensnobelpreis. Die Organisation verwendet für ihren Bericht Informationen über Menschenrechtsverstöße, die sie aus vertraulichen Quellen erhalten hat. In einigen der 160 Länder ist Amnesty verboten und kann daher nur verdeckt arbeiten. Aus anderen Ländern erhält Amnesty offizielle Einladungen.
Auch Deutschland findet sich in dem Report wieder. Das geänderte Asylbewerberleistungsgesetz „entspricht in einigen Bereichen nicht den internationalen Menschenrechtsnormen, insbesondere im Gebiet der Gesundheitsfürsorge“. Außerdem kritisiert die Organisation, dass es in Deutschland kein unabhängiges Gremium zur Dokumentation von Polizeigewalt gibt. Auch Deutschlands Rolle im internationalen Waffenhandel steht im Report in der Kritik. (pro)
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