Grenzerfahrungen

Die Chirurgin Verena Kühne liebt es, an ihre Grenzen zu gehen – und darüber hinaus. Ihre Erlebnisse als Ärztin mit medizinischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder dem Malteser Auslandsdienst hat sie im Buch „Grenzenlos“ verarbeitet. Es handelt von der Faszination fremder Länder und der Härte und Brutalität in deren medizinischem Alltag.
Von PRO

Sie fühle sich nicht lebendig, ohne hinter gewisse Grenzen zu schauen, schreibt Kühne. Ihre ersten realen Grenzerfahrungen macht sie im Sudan. In dem Land tobte einer der längsten und blutigsten Bürgerkriege weltweit. Verena Kühne hat Medizin studiert und eine fachärztliche Ausbildung sowie einen Diplomkurs in Tropenmedizin im Gepäck, als sie dorthin reist.

Wie ein alter Dokumentarfilm

Die medizinische Notlage und die einfachsten Bedingungen rauben ihr viel Kraft. Zu ihr kommen Patienten, die von Kuhhörnern aufgespießt, von einem Leoparden angefallen wurden, an Lepra leiden oder Opfer von Genital-Verstümmelungen wurden. Dies alles erinnert sie an Szenen aus einem „Dokumentarfilm der 1920er Jahre“. Die Medikamente, die ihr zur Verfügung stehen, sind überschaubar und sie lernt es, zu improvisierten.

Vor ihren Einsätzen hatte sie die Bücher von Albert Schweitzer gelesen: „Doch seit er 1914 in Afrika wirkte, hatte sich kaum etwas verändert“. Kühnes Arbeit wird zum Spagat zwischen Hilfe leisten und der Flucht vor dem Elend. „Manchmal erwache ich, als hätte ich unter einem schweren Felsbrocken geschlafen“, sagt sie und verweist auf eine Totgeburt, um die kurz nach der Geburt ein Schwarm Fliegen „herfällt“.

Helden der Neuzeit

Kühne entwickelt ein Gespür, welche operativen Eingriffe sie durchführen kann und welche nicht. Neben den vielen sterbenden Kindern gibt es auch die wenigen Glücksmomente, etwa wenn der ranghöchste Bischof die Arbeit vor Ort besucht und lobt. Die Missionsschwestern in den Krankenhäusern sind für sie wahren „Helden der Neuzeit“. „Aber genauso schnell zeigte mir das Land auch wieder meine Grenzen.“

Mit einem anderen Glauben kehrt Kühne nach dem zeitlich befristeten Einsatz nach Deutschland zurück. Doch das Leben im Überfluss überfordert sie und auch an die deutsche Lebensart kann sie sich nur schwer wieder gewöhnen. Zwei Monate später geht sie nach Papua-Neuguinea im Südpazifik, wo sie in einem Missionskrankenhaus mit Ordensschwestern eine echte Gemeinschaft erlebt

Sie spürt ein inneres Verlangen nach Veränderung und dass Gott ihr in dieser Zeit etwas sagen will. Für sie bedeutet dies, ihre Zeit nicht mehr mit Dingen zu verschwenden, „die ich für mich als unwichtig“ erachte. Ihr Weg führt sie zunächst nach Taize zu einer Glaubensgemeinschaft, wo „wir wunderbare Momente“ verlebten. Aber die Ruhe und Gleichförmigkeit bewirkten später bei ihr das genaue Gegenteil.

Willkommen im Krieg

Sie absolviert noch Einsätze im afghanischen Feldlager Kunduz. Während sie dort den Krieg hautnah erlebt, halten sie in ihrer Heimat fast alle für verrückt. Was Kühne im Krieg als positiv empfindet ist das Gemeinschaftsgefühl, bei dem sich alle ganz selbstverständlich umeinander kümmern und füreinander sorgen. Dankbarkeit empfindet sie dabei, wie leicht die Patienten dort zufrieden sind. „Dabei habe ich dort nur meine Arbeit gemacht.“

Heute wohnt Kühne mit ihrem Mann Hubertus in Bamberg. An ihrer jetzigen Arbeitsstelle muss sie sich immer wieder neu bewusst machen, dass „Ärzte keine Kaufleute sind und Medizin keine Ware ist“. Nach schlimmen Diensten zieht sie sich häufig gerne in die Kapelle des Krankenhauses zurück. 2010 erlebte sie noch einmal einen Ausnahmezustand nach dem Erdbeben in Haiti. Mit der Gesellschaft Ärzte ohne Grenzen versuchte sie mit wenigen Helfern Herr der Lage zu werden. Obwohl sie auf die Frage des Leids keine Antwort hat, „glaube ich trotzdem“.

Glauben bedeutete für Kühne immer auch unterwegs zu sein und in Bewegung zu bleiben, mit der Bereitschaft immer wieder neu anzufangen: „Und dann schoss mir ein irritierender Gedanke durch den Kopf: ‚Jesus – wenn er mein Leben leben würde. Was würde er machen? Würde er nach Haiti oder mit der Bundeswehr nach Afghanistan gehen?’“ Ihre Antwort lautet „Vielleicht …“ Dem kritischen Leser fehlen vielleicht eindeutig christliche Bekenntnisse in dem Buch, das im Pattloch-Verlag erschienen ist, aber vielleicht sind die realistischen Szenarien vor Ort und ihr Dienst an den Menschen Evangelium genug. (pro)

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