„Ich bete, dass es ein Wendepunkt für den Libanon ist“

Die Explosion im Beiruter Hafen hat den ganzen Libanon erschüttert. Für pro schildert der evangelische Beiruter Pfarrer Raffi Messerlian, wie er die angespannte Situation in der Stadt erlebt, welche Nöte er im Land sieht und warum er sich einen weniger religiösen Staat wünscht.
Von PRO
Die Explosion am Beiruter Hafen Anfang August hatte zerstörerische Kraft in weiten Teilen der Stadt

Die Explosion im Hafen von Beirut bedeutet einen historischen tragischen Tag für den Libanon. Die unglaublich große Explosion hat die Libanesen im Herzen erschüttert, sie hat Hunderte unschuldige Menschen getötet und Tausende verletzt; sie hat der Stadt Beirut einen großen Schaden zugefügt. Die Explosion geschah abends gegen 18:30 Uhr – wenn es morgens oder mittags passiert wäre, wäre es wahrscheinlich zu Tausenden von Toten gekommen, denn dann wäre viel Verkehr auf den Straßen gewesen mit all den Menschen, die im Hafen arbeiten.

Sofort nach der Explosion war klar, dass sie riesig gewesen sein musste, denn die Auswirkungen waren in mehreren Stadtteilen zu sehen, wo Fenstergläser zerbrachen und Geschäfte zerstört wurden. Die Menschen standen unter Schock, und der wurde am Morgen danach noch größer, als im Fernsehen zu sehen war, wie groß die Auswirkungen waren. Hunderte Häuser waren zerstört, vier Krankenhäuser fielen aus. Viele Schulen wurden zerstört. In unserer Gemeinde etwa wurden drei Sekundarschulen schwer beschädigt, ebenso drei Kirchen. Auch die Haigazian-Universität wurde beschädigt.

Viele Menschen werden ein Trauma davontragen. Der vierjährige Sohn unseres Pastors weinte und erbrach sich am Folgetag wegen der Dinge, die er erlebt hatte.

Eindrücke von einem Rundgang Messerlians in Beirut nach der Explosion: Die Rauchwolke war weithin zu sehen. Foto: Raffi Messerlian
Eindrücke von einem Rundgang Messerlians in Beirut nach der Explosion: Die Rauchwolke war weithin zu sehen.
Die Explosion hat Straßenzüge verwüstet Foto: Raffi Messerlian
Die Explosion hat Straßenzüge verwüstet
Auch Kirchen haben Schaden erlitten Foto: Raffi Messerlian
Auch Kirchen haben Schaden erlitten
Bürger räumen die Stadt auf Foto: Raffi Messerlian
Bürger räumen die Stadt auf

Am Tag nach der Explosion dann die Fragen: Was genau war eigentlich geschehen? Wer hatte das hochexplosive Material in den Hafen gebracht? War es ein Angriff? Die Menschen wollten die Gründe erfahren und wissen, wer dafür verantwortlich zu machen ist. Viele waren voller Wut und Hoffnungslosigkeit.

Auch wir mussten erst einmal überprüfen, was in unseren Kirchen, Schulen und bei unseren Freunden und Familien zerstört worden war. Wir begannen sofort mit den Aufräumarbeiten. Junge Menschen und Kirchenoberste halfen. Auch andere Organisationen halfen dabei, den Schutt wegzuräumen. Interessanterweise kamen viele junge Menschen von außerhalb und zeigten Solidarität mit den Beirutern und packten beim Aufräumen mit an. Manche brachten Essen und andere dringend notwendige Sachen. Es war ein großer Geist der Solidarität unter den Libanesen zu spüren. Denn die Explosion hatte sowohl Muslime als auch Christen aller Denominationen getroffen.

Das Land war schon vor der Explosion in der Krise

Viele Familien leiden jetzt natürlich unter einem wirtschaftlichen Schaden. Sie brauchen finanzielle Hilfe. Manche auch medizinische. Auch die Krankenhäuser brauchen Unterstützung. Am besten kann man dem Libanon mit Geld helfen – indem man es Kirchen oder NGOs gibt, die es dann den bedürftigen Menschen geben können. Am dringendsten muss nun all jenen geholfen werden, die ihr Zuhause verloren haben. Sie brauchen neue Häuser, denn in zwei Monaten beginnt der Winter.

Derzeit schicken viele Länder der Welt Hilfe. Aber viele im Ausland sind auch misstrauisch gegenüber der libanesischen Regierung, denn es gibt viel Korruption im Land. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt, aber vielleicht ist ja jetzt ein Wendepunkt in der Geschichte des Landes gekommen, und die internationale Gemeinschaft kann dem Libanon helfen, wieder auf die Beine zu kommen.

Raffi Messerlian ist Pfarrer der Armenisch-Evangelischen NorMarash-Gemeinde in Beirut und Präsident der weltweiten Jugendbewegung „Christian Endeavour“, in Deutschland „Entschieden für Christus“ (EC) Foto: privat
Raffi Messerlian ist Pfarrer der Armenisch-Evangelischen NorMarash-Gemeinde in Beirut und Präsident der weltweiten Jugendbewegung „Christian Endeavour“, in Deutschland „Entschieden für Christus“ (EC)

Schon vor der Explosion hatten wir wirtschaftliche und soziale Probleme, auch wegen Corona. Seit März gab es von den Schulen nur Online-Unterricht. Das Schuljahr sollte eigentlich am 1. September wieder beginnen, aber noch ist nicht klar, ob das in den Schulen geht oder weiter nur online oder beides. Es gab wegen des schlechten Dollarkurses immer Probleme mit der Beschaffung von Schulbüchern. Auch hier brauchen die Eltern dringend Hilfe, und die Schulen ebenso, denn wenn die Eltern kein Geld haben, wie sollen die Schulen dann bestehen können? Diese Probleme sind durch die Explosion noch schlimmer geworden.

Die wirtschaftliche und finanzielle Krise ist die Folge von Misswirtschaft und Korruption, und die Folge von einer Wirtschaft, die auf Import setzte, aber die eigene Landwirtschaft und Industrie vernachlässigte. Korruption ist tief im politischen System verwurzelt. Nach all den Jahren der Misswirtschaft und der wachsenden Schulden ist die Regierung im Grunde bankrott. Das Bankensystem ist fast in sich zusammengebrochen, und die Menschen kommen nicht an ihr Geld. Die libanesische Währung verliert an Wert, der Libanon kann seine EU-Anleihen nicht mehr zurückzahlen. Die libanesische Regierung bittet den Internationalen Währungsfonds um Hilfe.

Wir brauchen einen echten Zivilstaat

Ein großer Teil des Problems ist politischer Natur, sowohl regional als auch landesweit. Die Lokalpolitiker sind gespalten, und auf Landesebene beeinflussen die Spannungen zwischen den USA und dem Iran auch den Libanon wegen des Einflusses der Hisbollah, die im Iran und in Syrien verstrickt ist, auf die Regierung. Die westlichen und die arabischen Staaten verweigern deshalb ihre Hilfe. Es gibt zwei große Fronten im Nahen Osten, und die Blockade der Staaten gegenüber dem Libanon führt zu wirtschaftlichen Problemen im Land. Die Explosion hat alles nur noch schlimmer gemacht, denn die wirtschaftliche Not wird zunehmen. Der Hafen von Beirut, der zerstört wurde, spielte eine wichtige Rolle für die Wirtschaft des Landes. Wie soll er wieder aufgebaut werden? Dafür braucht es Zeit und Geld. Und der Libanon hat kein Geld.

Nicht zu vergessen: die Corona-Krise, die noch lange nicht vorbei ist und auch für den Libanon eine Herausforderung ist. Die Fallzahlen sind jüngst wieder gestiegen, und die Krankenhäuser stehen unter Druck. Schon vier Krankenhäuser haben ihre Arbeit eingestellt, weil sie wirtschaftlich am Ende sind.

Der Staat muss nun eine soziale und wirtschaftliche Politik starten, die auf Gerechtigkeit fußt und alle Bereiche im Land voranbringt. Der Libanon braucht jetzt eine Veränderung in der wirtschaftlichen Denkweise, hin zu mehr Produktivität. Auch politisch muss ein Umdenken stattfinden, weg von einem religiösen hin zu einem echten Zivilstaat, in dem klar ist, was es bedeutet, ein Bürger zu sein, der loyal gegenüber seinem Staat ist. Auch die Notwendigkeit einer sozialen Gerechtigkeit muss sich in den Köpfen durchsetzen, die zu einer besseren Ausbildung und zu einem besseren Gesundheitswesen führt. Das verlangt schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Ich bete, dass dies ein Wendepunkt für den Libanon ist, und dass durch dieses tragische Ereignis etwas Positives entsteht, damit das Land wieder aufgebaut werden kann.

Aufgezeichnet vom Christlichen Hilfsbund im Orient, redaktionell bearbeitet von pro

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