Senioren in Armenien: Kazine Kotsinyan – Die Geheimnisvolle

Alte Menschen in Armenien, dem ältesten christlichen Land der Welt, sind oft einsam: Die Kinder leben im Ausland, die Renten sind klein, die gesundheitlichen Probleme groß. Im Norden des Landes kämpfen fünf armenische Krankenschwestern mit Unterstützung des Schweizerischen Roten Kreuzes dagegen an. Die Christinnen sind für viele ältere Menschen der einzige Kontakt zur Außenwelt. Teil zwei der Porträt-Reihe von Theresa Tröndle
Von PRO
Auf den Besuch der Krankenschwester freut sich Kazine Kotsinyan die ganze Woche

Von der Decke hängt ein Kronleuchter-Imitat ohne Glühbirnen. Es ist dunkel. Das Blechdach verleiht der Stimme von Kazine Kotsinyan einen metallischen Ton. Immer wieder schüttelt die 62-Jährige den Kopf, als könnte sie es 30 Jahre danach immer noch nicht glauben. Sie erzählt der Krankenschwester, die neben ihr sitzt, vom 7. Dezember 1988, dem Mittwoch, der ihres und das Leben vieler Armenier änderte. Das Erdbeben von Spitak tötete 25.000 Menschen. Unter ihnen: ihr Mann. Seitdem lebt sie in Wanadsor in einer der rund 2.800 Notunterkünfte, sogenannte Domiks, die nach dem Erdbeben als Übergangslösung in der Region gebaut wurden.

Die Fenster ihrer Wohnung hat Kotsinyan mit durchscheinenden Tüchern verhangen Foto: Theresa Tröndle
Die Fenster ihrer Wohnung hat Kotsinyan mit durchscheinenden Tüchern verhangen

Auf den Besuch der Krankenschwester freut sich Kotsinyan die ganze Woche. Sie zieht ihre Strickweste enger um den Körper. Neben ihr steht ein kleiner Ofen, dekoriert mit einem Strauß Schlüsselblumen in einer Mokkakanne. Die Fenster sind mit durchscheinenden Tüchern verhangen – die Wärme soll nicht entweichen. Trotzdem ist es drinnen kälter als draußen. Von den 84 Euro Rente, die Kotsinyan monatlich bekommt, gibt sie im Winter rund 34 Euro für Holz aus. Obst und Gemüse kann sie sich dann nicht mehr leisten. Das letzte Stück Fleisch hat sie vor Jahren gegessen.

Fließendes Wasser gibt es in der Behausung oft nicht

Die Schwester vom Roten Kreuz bringt eine Tasse Wasser, die Tabletten, die sie seit ihren zwei Herzinfarkten nehmen muss und das Medikament gegen hohen Blutdruck. Kotsinyan schluckt und starrt ins Leere, als wüsste sie nicht, wo sie ist. Eine Autostunde entfernt lebt ihre Tochter, zwischen Wanadsor und der Hauptstadt Jerewan. Ihre Heimat besucht sie selten. Ein Porträt von ihr hängt an der Wand gegenüber, leicht erhöht zwischen zwei Jesusbildern. „Ich hoffe, meinen Enkeln geht es gut“, haucht Kotsinyan mehr als dass sie spricht. Sie redet behutsam, tastet sich Wort für Wort, Satz für Satz voran, als hätte sie Angst, ein Geheimnis zu verraten.

Leicht erhöht zwischen zwei Jesusbildern hängt ein Porträt von Kotsinyans Tochter Foto: Theresa Tröndle
Leicht erhöht zwischen zwei Jesusbildern hängt ein Porträt von Kotsinyans Tochter

Ihre Besuche muss die Krankenschwester dokumentieren. Sie notiert das Datum und welche Medikamente die alte Frau erhalten hat. Nach 50 Minuten verabschieden sich die Krankenschwester und die Sozialarbeiterin. Sie nehmen Kotsinyans Wäsche mit. Fließendes Wasser gibt es in ihrer Behausung oft nicht.

Kotsinyan greift nach dem Gehstock. Ohne ihn kann sie kaum laufen, seit sie sich vor zwei Jahren ein Bein gebrochen hat und mehrere Stunden auf dem Boden lag. Im Türrahmen bleibt sie stehen. Als das Auto des Roten Kreuzes verschwindet, hebt sie die Hand.

In der Porträt-Reihe über alte Menschen in Armenien veröffentlicht pro am Donnerstag eine weitere Geschichte. Hier lesen Sie Teils eins „Senioren in Armenien: Die Vergessenen“.

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