„Christen haben positive Erwartung an Assad-Regime“

Heute endet im Norden Syriens eine Waffenruhe. Otmar Oehring, Koordinator für Internationalen Religionsdialog der Konrad-Adenauer-Stiftung erklärt, warum sich Christen in der Region mehrheitlich die Situation vor dem Bürgerkrieg zurück wünschen.
Von PRO
Otmar Oehring ist Koordinator Internationaler Religionsdialog bei der Konrad-Adenauer-Stiftung

Weite Teile im Norden Syriens werden von Kurden kontrolliert. Das Assad-Regime war hier weitgehend machtlos. Am 9. Oktober dieses Jahres hat die türkische Armee mit einer Offensive gegen die kurdischen Milizen im Norden Syriens begonnen, nachdem zwei Tage zuvor überraschend die US-amerikanischen Truppen aus dem Gebiet abzogen. Heute endet die 120-stündige Waffenruhe, auf die sich die Türkei und die USA am 17. Oktober verständigt hatten. Im Interview erklärt der Koordinator für Internationalen Religionsdialog der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, Otmar Oehring, warum Christen positive Erwartungen mit der Rückkehr des Assad-Regimes verbinden.

pro: Herr Oehring, wie bewerten Sie die Lage in Nordsyrien?

Otmar Oehring: Die Lage der Menschen in Nordsyrien ist momentan prekär. Im Grunde genommen weiß niemand genau, was in den nächsten Tagen und Wochen geschehen wird. Es gibt ein Gebiet, in dem die Armee des Assad-Regimes wieder eingerückt ist. Es gibt die Bedrohung durch die Türkei im Grenzgebiet. Es gibt weiterhin Gebiete, in denen sich noch Kämpfer der Syrischen Demokratischen Front befinden, also das Bündnis unter Führung der Volksverteidigungseinheiten, der kurdischen Miliz in Syrien (YPG). Vor der Waffenruhe hat es türkische Luftangriffe gegeben. Die gesamte Bevölkerung ist tief beunruhigt.

Wer muss sich jetzt am meisten fürchten?

Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die kurdische Bevölkerung größere Angst hat als die christliche Bevölkerung in Nordsyrien. Das habe ich aus christlichen Kreisen erfahren. Die Christen in der Region haben durchaus eine positive Erwartung im Hinblick auf die Rückkehr des Assad-Regimes. Das ist für uns sicher schwer zu verstehen und zu verdauen angesichts dessen, was in den vergangenen Jahren durch das Assad-Regime in Syrien angerichtet worden ist. Aber man muss auch sagen, dass die Christen ab den 1960er Jahren ein relativ gutes Leben und Zusammenleben mit den Assad-Herrschern – Vater und Sohn – erlebt haben.

Warum das? Konnten die Christen unter Assad frei ihre Religion ausüben?

Es hat keine wirkliche Religionsfreiheit gegeben, aber sie hatten große Freiheit im Hinblick auf die Religionsausübung. Die Kirchen sind positiv behandelt worden. Man könnte auch sagen, es war ein Geben und Nehmen. Das hört sich negativ an und ist durchaus auch so zu verstehen. Aber auf der anderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass die Christen und ihre Kirchen ganz genau wussten, dass es dann zum Nachteil sowohl der einzelnen Christen als auch der Kirchen insgesamt sein würde, wenn sie gewisse Grenzen überschritten. Politisches Engagement war folglich unmöglich in jeder Hinsicht. Wer es wagte, irgendetwas zu sagen, was vom Regime kritisch verstanden werden konnte, musste mit entsprechenden Folgen rechnen. Und wenn nun das syrische Regime wieder nach Nordsyrien zurückkommen sollte, dann ist damit zu rechnen, dass das dann auch wieder gelten wird.

Sehr viele Christen sind aus Angst aus der Region geflohen. Wie durchlässig ist die türkisch-syrische Grenze noch, jetzt wo türkische Truppen dort agieren?

In den letzten Jahren war die türkisch-syrische Grenze auch für Christen vollkommen undurchlässig. Das betrifft den Zeitraum der letzten zweieinhalb, drei Jahre. Davor war es durchaus so, dass zumindest Christen aus Syrien noch in die Türkei fliehen konnten. Aber seitdem ist es offensichtlich nicht mehr möglich. Es gibt im Grunde genommen für die christliche Bevölkerung nur noch zwei Wege aus dem Land. Einmal den beschwerlichen, langen, teuren und auch gefährlichen in Richtung Libanon. Vom Nord-Osten Syriens bis nach Beirut sind es auf direktem Weg etwa 650 Kilometer. Etwa die Strecke von Aachen nach Berlin. Auf der Route hat es Checkpoints gegeben, an denen Flüchtende bezahlen mussten. Niemand konnte sicher sein, ob er diese Checkpoints überhaupt unbeschadet übersteht. Der andere Weg führt in den Irak. Das ist im Grunde eine illegale Aus- und Einreise. Diejenigen, die es gewagt haben, berichten, dass sie dafür um die 500 Dollar Schmiergeld zahlen mussten. Im Norden des Irak sind Christen wieder auf kurdischem Gebiet. Es gibt dort eine kleine christliche Minderheit. Die hat aber selber ihre Schwierigkeiten. Weil die Christen in Syrien kaum eine Perspektive haben, vom Irak aus in ein sicheres Land weiterreisen zu können, bleiben sie bislang noch lieber in Syrien. Die Christen in der Region sagen sich: Es bringt nichts, wir bleiben hier und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.

Von wem geht die größte Gefahr im Moment aus?

Die größte Gefahr geht von der sogenannten syrischen Nationalarmee aus. Das ist ein Bündnis aus verschiedenen, teilweise islamisch-radikalen Gruppen, das die Türkei aufgebaut hat, um diesen Feldzug in Richtung Nordsyrien unternehmen zu können. Vor diesen Leuten haben die Christen hauptsächlich Angst. Nicht nur die Christen, auch die Kurden und andere Minderheiten. Es hat seitens dieser Gruppen bereits beim letzten türkischen Waffengang in Afrin im Frühjahr 2018 Übergriffe gegeben.

Wie bewerten Sie eine internationale Schutzzone in dem Gebiet?

Eine Bewertung ist momentan kaum möglich. Der amerikanische Präsident Donald Trump hatte bereits vorgeschlagen, dass andere Staaten die Militärpräsenz der USA in der Region ersetzen sollten. Diese Vorschläge sind im Frühsommer offensichtlich nicht verfolgt worden. Jetzt muss man das Ergebnis der heutigen russisch-türkischen Gespräche in Sotchi abwarten. Und dann die Ergebnisse eventueller Gespräche zwischen Russland, der Türkei und den Europäern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Lage und den Perspektiven der Christen in Nord- und Nordostsyrien hat Otmar Oehring am Dienstag eine gleichnamige Studie bei der Konrad-Adenauer-Stiftung vorgestellt.

Die Fragen stellte Norbert Schäfer

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