„Falschnachrichten via WhatsApp können tödlich sein“

In Indien sind seit Mai mehr als ein Dutzend Menschen Opfer von Lynchmorden geworden. Die Täter hatten über WhatsApp Gerüchte über Menschen- und Organhändler gelesen – und daraufhin Unbeteiligte angegriffen.
Von PRO
Über WhatsApp verbreitete Gerüchte wurden in Indien schon mehreren Menschen zum Verhängnis

Fünf Tote wegen einer Falschnachricht: In Indien kommt es derzeit immer wieder zu Fällen von Lynchjustiz – ausgelöst durch unwahre Informationen und Gerüchte, die über Kurznachrichtendienste wie WhatsApp und andere Soziale Medien schnelle Verbreitung finden. Erst am Sonntag wurden fünf Menschen im Distrikt Dhule im westindischen Maharashtra von einem Mob getötet, nachdem in den sozialen Netzwerken Gerüchte verbreitet worden waren, dass Kinderhändler in der Gegend seien. Das berichtet die indische Nachrichtenseite New Delhi Television (NDTV).

Eine Gruppe von 40 Personen habe die fünf Landarbeiter aus einem benachbarten Distrikt angegriffen, nachdem diese in einem Bus ankamen, heißt es in einem Beitrag von CNN. Fast 3.000 Menschen hätten das Geschehen umringt. In der Gegend kursierten in den vorherigen zehn bis 15 Tagen Nachrichten via WhatsApp, die die Anwohner vor angeblichen Entführern in Dhule warnten. Dieses Gerücht sahen die Angreifer als Fakt an und schlugen die fünf Fremden tot.

Zudem sind Anfang Juni zwei reisende Männer, die einen Ausflug in die Berge machen wollten, im nordöstlichen Assam von einem Mob zu Tode geprügelt worden. Man hielt sie für Mitglieder einer Entführerbande. Die über WhatsApp verbreitete Nachricht mit dem Gerücht entpuppte sich als frei erfunden.

Fehlende Medienkompetenz bei Dorfbewohnern

Seit Mai sind laut dem NDTV-Bericht mehr als ein Dutzend Menschen durch solches Vorgehen ums Leben gekommen. In vielen der Fälle seien Dorfbewohner involviert, von denen einige erstmals ein Smartphone benutzten, heißt es bei NDTV. So seien aktuell wiederholt unschuldige Personen Opfer von Angriffen geworden, weil die Angreifer den Gerüchten über Kinderhandelsringe oder Organhändler Glauben schenkten. Unbeteiligte würden fälschlicherweise beschuldigt und daraufhin verfolgt, geschlagen und sogar ermordet.

Der Geschäftsführer der christlichen Nichtregierungsorganisation International Justice Mission Deutschland (IJM), Dietmar Roller, erklärt im Gespräch mit pro: „Länder, in denen die mediale Infrastruktur bisher noch nicht so gut war, sind für solche Entwicklungen noch anfälliger als Länder, in denen sich die Menschen schon länger mit den neuen Medien auseinandersetzen. Plötzlich bekommen arme Menschen leichter Zugang zu Informationen.“ Das sei zunächst sehr positiv für sie.

Der Geschäftsführer von IJM, Dietmar Roller, ist regelmäßig in Indien unterwegs Foto: IJM
Der Geschäftsführer von IJM, Dietmar Roller, ist regelmäßig in Indien unterwegs

Doch was machen Falschnachrichten im Kontext eines Gesellschaftssystems, das seine Bevölkerung in soziale Kasten einteilt, wie in Indien, Pakistan oder Bangladesch? „In einem armen Dorf, in dem man weit weg sitzt von jeglichem Nachrichtenstrom, ist eine Nachricht wie ,Hier sind Menschenhändler unterwegs, die wollen deine Niere‘, erst einmal ein riesiger Schock.“ Hinzu komme: „Wenn ich eine Information von jemandem bekomme, der mein Facebook- oder WhatsApp-Freund ist, ist der Wille, sie zu glauben, erst einmal größer“, erklärt der IJM-Geschäftsführer, der regelmäßig in Indien unterwegs ist. „Wenn es kein verlässliches Rechtssystem gibt, entwickelt sich eine Hysterie und die Menschen nehmen das Recht in die eigene Hand. Aus dieser Konstellation heraus kann sich eine Lynchjustiz entwickeln. Sie kann auch daraus entstanden sein, dass das Rechtssystem lange Zeit nicht funktioniert hat.“

„WhatsApp-Nation Indien“

„In Ländern Südasiens, etwa in Indien, aber auch zum Teil in Afrika kann die Maschinerie falscher Nachrichten tödlich sein. Sie kann im Extremfall dazu führen, dass Empfänger die Nachricht nicht reflektieren, und dass Menschen andere Menschen umbringen“, erklärt Roller. Er kennt das Phänomen auch aus anderen Kontexten etwa in Kenia oder Tansania, zum Beispiel beim Thema Hexerei. Wenn einer alten Frau nachgesagt werde, sie sei eine Hexe, werde sie verfolgt und getötet. Dieser Mechanismus beginne mit mündlich verbreiteten Gerüchten. Dann nehme es jemand aus diesem Kontext auf und gebe es per WhatsApp weiter. Roller spricht von einem „Hochkochen der ganzen Kommunikation“. Nun redeten nicht mehr nur zwei, drei Menschen über das Gerücht, sondern 200, 300 Menschen im Umfeld des Senders. „Dann entsteht daraus ein Wirbelsturm.“

Das bevölkerungsreiche Indien mit rund 1,3 Milliarden Einwohnern ist der größte Markt für WhatsApp. Rund 200 Millionen Bürger nutzen den Kurznachrichtendienst. Manche Experten sprechen von dem Land als „WhatsApp-Nation“. Die Polizei in Indien gab bekannt, dass sie derzeit damit beschäftigt ist, gegen das Phänomen der Falschnachrichten vorzugehen. „Wir versuchen, der Fehlinformation durch offensive Kampagnen in den Sozialen Medien, über WhatsApp und lokale Fernsehsender entgegenzuwirken“, erklärte der Polizeipräsident im Distrikt Dhule laut NDTV.

Auch versuche die Polizei in manchen Distrikten vor Ort mit Megafon oder auch über die Sozialen Medien, die Bürger aufzuklären und Falschinformationen zu benennen. Im indischen Bundesstaat Tripura wurde allerdings ein Mann getötet, den die Verwaltung geschickt hatte, um über Lautsprecher über Gerüchte aufzuklären. Das berichtete der amerikanische Sender CNN.

Kirchen können Medienkompetenz lehren

Der Kurznachrichtendienst WhatsApp bemühe sich nun, die Verbreitung weitergeleiteter unerwünschter Nachrichten in Chats zu reduzieren, erklärte laut NDTV Carl Woog, ein Sprecher des zu Facebook gehörenden Unternehmens. „Wir arbeiten mit einer Reihe von Organisationen zusammen, um die Medienkompetenz zu verbessern, damit die Menschen wissen, wie man kursierende falsche Nachrichten und Täuschungen entdeckt.“

IJM-Geschäftsführer Roller sagt, die Frage „Wie gehe ich mit Medien um?“ müsse auch für arme Menschen ins Blickfeld geraten. Da, wo christliche Kirchen aktiv sind, könne es auch eine Arbeit zur Bildung und Förderung der Medienkompetenz geben. Kirchen und Gemeinden müssten sich damit auseinandersetzen, wie sie dieses Thema und den Umgang mit digitalen Medien in den Blick nehmen.

Das eigentliche Problem liegt nach Ansicht von Roller aber tiefer: Die Opfer dieser Angriffe seien „arme Menschen in ihrem Umfeld, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind und die in eine Hysterie hineinkommen, fälschlicherweise beschuldigt werden und dann umkommen“. Deshalb sei es wichtig, dass das Rechtssystem auch für Arme funktioniere. „Jeder Mensch muss Zugang zum Rechtssystem haben. Es muss schnell funktionieren für alle Menschen.“

Von: Martina Blatt

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