„Mit meinem Leben wurde radikal Tabula rasa gemacht“

Den Alptraum eines jeden Unternehmers hat Gerd Stähling durchlebt: Sein Familienbetrieb, eine Möbelfabrik im hessischen Neukirchen in dritter Generation, musste Insolvenz anmelden. Stähling sagt heute: „Mit meinem Leben wurde radikal Tabula rasa gemacht.“ Gleichzeitig fand er einen neuen Sinn im Leben.
Von Jörn Schumacher
Spricht am 20. Oktober 2019 beim Jahrestreffen des Vereins „Christen in der Wirtschaft“ in Altenkirchen: der ehemalige Unternehmer Gerd Stähling

Was Gerd Stähling durchmachte, wünscht man seinen ärgsten Feinden nicht. Sein Großvater gründete ein Möbelunternehmen, sein Vater übernahm es und die Familie investierte das eigene, hart erarbeitete Geld. Und nun mussten alle mit ansehen, wie es unter Stählings Führung mit dem Familienunternehmen immer weiter in die Miesen ging. Die Aufträge gingen zurück, die Konkurrenz aus Osteuropa drängte massiv mit Kampfpreisen Qualitätsware vom Markt, und Stähling musste sich und seinen zuletzt noch 21 Mitarbeitern irgendwann eingestehen: Wir sind pleite. Gläubig war der 53-Jährige schon immer; aber erst in dieser Krise ließ er sich vollkommen in Gottes Arme fallen. Als er mit ansehen musste, wie seine Firma aufgelöst und seine Maschinen verkauft werden, sprach plötzlich Gott ganz neu zu ihm.

„Ich bin in eine Unternehmerfamilie hineingeboren, für mich war von Kindertagen an klar, dass ich das Unternehmen einmal übernehmen würde“, sagt Stähling in einem Café in Alsfeld. „Das war der für mich vorbestimmte Lebenssinn. Darauf hin war alles ausgerichtet.“ Das Familienunternehmen hatte, nachdem er es von seinem Vater übernommen hatte, „durchaus erfolgreiche Jahre“, und die hätten Spaß gemacht, erzählt er. Nach der Wiedervereinigung und dem Umzug der Regierung gab es viele Aufträge in Berlin. Aber dann wurde es für die Möbelbranche immer schwieriger, sagt Stähling.

Seine Firma war spezialisiert auf Echtholz-Oberflächen, also Furniere, doch wie sich zeigte, verlangte der Markt plötzlich immer mehr nach Kunststoff-Oberflächen. Die Kunden wurden weniger, aus technischen Gründen konnte Stählings Firma aber nicht so einfach die Produktion umstellen. „Im Jahr 2014 brachen dann in nur sechs Monaten drei Großkunden weg – einer durch Insolvenz, und zwei durch Verlagerung ihrer Aufträge ins Ausland“, sagt Stähling. „Das konnte ich nicht mehr kompensieren.“ Irgendwann blieb nur noch der Weg in die Insolvenz. „Das war ein sehr harter Schritt, weil damit ja auch meine ganze Berufung, sozusagen mein Lebenssinn, verloren ging.“ Nach und nach zerbrach alles, worauf sein Leben hätte aufgebaut sein sollen. „Mit meinem Leben wurde radikal Tabula rasa gemacht.“

Und plötzlich meldet sich Gott

Immer wieder fragte er Gott, wie es mit ihm weitergehen soll. „Ich habe lange nichts gehört – zumindest nicht das, was ich gerne hören wollte.“ Stähling suchte nach neuen Jobs in seiner bisherigen Branche wie auch im christlichen Umfeld. „Aber es tat sich keine Tür auf.“ Eine einzige Botschaft, die er von Gott vernahm, lautete: „Warte ab!“ Doch dann, ausgerechnet an jenem Tag, an dem die Firma abgewickelt und alle Maschinen verkauft waren, fing Gott an zu reden. „Sieben Mal begegnete mir auf unterschiedlichen und wundervollen Wegen immer der gleiche Bibelvers: ‚Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde‘ (Jesaja 43,18–19).“

Jedes Mal, wenn Stähling den Vers irgendwo las – sei es in der Tageslosung, auf einer Internetseite oder bei anderen Begebenheiten –, wurde ihm etwas anderes daran wichtig. „Beim ersten Mal war es der Weg in der Wüste, nichts traf auf meine Situation besser zu als dieses Bild“, sagt er. Bei einem weiteren Mal stand der Vers plötzlich auf seiner Tischkarte anlässlich einer Konfirmation. „Da wurde mir wichtig: ‚Neues schaffen.‘ Mir wurde klar, dass mich nichts mehr in meinen alten Beruf führen würde, sondern dass etwas ganz Neues kommen würde.“ Ein anderes Mal wurde ihm deutlich, dass da steht: „Ich will“. „Nicht du, Gerd, wirst etwas Neues schaffen, sondern ich, dein Gott, bin es“, sagt Stähling und fügt hinzu: „Ich musste lernen, mich Gott komplett hinzugeben und zu sagen: Nicht mehr ich bin es, sondern er will es tun.“

In der ganz finsteren Zeit, in der er viele schlaflose Nächte hatte, weil es keinen Ausweg zu geben schien, half ihm das Führen eines Tagebuches. Seine Gedanken hielt er fest, seine Gebete, seine Verzweiflung, aber auch seine hoffnungsvollen Momente. Vielleicht will er den Text eines Tages als Buch herausgeben, im Moment dient er ihm und anderen, denen er ihn zu lesen gibt, als Erinnerung daran, wie hart der Kampf in seinem Inneren war, manchmal immer noch ist, und wie Gott in sein Leben hineingewirkt hat.

Foto: privat

Busfahren: kein Traumberuf

Eines Tages fragte ihn ein Personaldienstleister, ob er sich vorstellen könne, Busfahrer zu werden. Er haderte zunächst sehr damit. Empfand es als Demütigung, denn dieser Job hatte so gar nichts mit dem zu tun, was er sich einmal für seinen beruflichen Werdegang vorgestellt hatte. Aber er stimmte zu und machte den Personenbeförderungsschein.

Busfahren ist immer noch keineswegs sein Traumberuf, gibt Stähling offen zu. Der, der früher jeden Tag wichtige Entscheidungen traf und den ganzen Tag mit Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten sprach, muss nun viele Stunden stumm hinter einem Lenkrad sitzen und festgelegte Strecken abfahren, mit einem Bus, in dem oft nicht einmal Fahrgäste sitzen. „Da kommt einem schon die Frage nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit“, sagt Stähling. Nach zehn Stunden Arbeit habe er dann manchmal insgesamt kaum einhundert Wörter gesprochen. Schüler, die oft ohne jeden Blickkontakt einsteigen, tragen fast alle Kopfhörer, kaum jemand bringe beim Einsteigen auch nur ein genuscheltes „Hallo“ hervor.

Allmählich gewöhne er sich aber an den Job, sagt er, und er denke oft über die Vorteile seines neuen Jobs nach. Stähling hört bei der Arbeit, wenn möglich, christliche Hörbücher, Predigten und Musik. Darüber hinaus kann er heute über viele sinnstiftende Begegnungen berichten. Und: „In meinem früheren Leben als Unternehmer musste ich mindestens zwanzig Jahre lang jeden Tag vier sehr starke blutdrucksenkende Medikamente einnehmen. Seit anderthalb Jahren brauche ich keine einzige Tablette mehr, mein Blutdruck ist jetzt optimal.“

Der Sinn des Lebens: Gemeinschaft mit Gott haben

Auf die Frage, worin der Lebenssinn besteht, sagt er heute voller Überzeugung: „Der Sinn meines Lebens, ist, Gemeinschaft mit Gott zu haben. Das lese ich aus der Bibel heraus. Und wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke, muss ich sagen: Meinen Glauben erlebe ich mittlerweile so intensiv, dass aus dieser Perspektive betrachtet die Insolvenz nur zu meinem Besten diente.“ Sicher überkomme ihn auch heute immer noch manchmal der Frust über seine derzeitige Situation, und ein Besuch im Möbelhaus, das merkte er vor Kurzem, tue ihm gar nicht gut. Er genieße keinen finanziellen Reichtum mehr, das Ansehen eines Busfahrers lässt sich nicht mit dem eines Unternehmers vergleichen. Aber Gott schaue auf so etwas gar nicht. „Gott kümmert sich um mich, um meine Gesundheit und meine Versorgungslücken“, sagt Stähling.

Noch ein Jahr vor der Insolvenz, als sich von der Katastrophe nichts abzeichnete, wurde ihm im Urlaub in den Bergen ein Bild deutlich, berichtet Stähling. Es war damals fast wie eine Vorahnung. Nach einer anstrengenden Wanderung auf einem Trampelpfad hatten er und seine Frau eine Berghütte erreicht, die von unten nicht zu sehen, aber eigentlich in direkter Luftlinie sehr nahe war. Erst im Rückblick sahen sie, welchen großen Umweg sie auf dem schmalen Weg nach oben gemacht hatten. „Gott führt uns manchmal nicht auf direktem Wege ans Ziel, sondern auf verschlungenen und uns nicht verständlichen Umwegen. Und manchmal ist Gottes Trampelpfad ein sehr langsamer.“ Stähling ergänzt: „Dieses Vorwärtskommen passt nicht in ein Leben, das sich heutzutage im übertragenen Sinn viel auf der Überholspur der Autobahn und auf der ICE-Strecke abspielt. Eines steht fest: Gott hat mich von der Überholspur heruntergenommen und auf einen Pfad gestellt, auf dem ich nur einen Schritt nach dem anderen machen kann.“ Aber diese Schritte macht er mit ihm.

Heute freut es ihn, wenn er Menschen von seiner Geschichte erzählen kann, „wenn ich ihm damit dienen kann!“, sagt er. Am 20. Oktober wird er zum Beispiel bei der Jahrestagung des Vereins Christen in der Wirtschaft sprechen. Und selbst wenn es früher für ihn kaum denkbar gewesen wäre, sich von Gott in einen vollzeitlichen missionarischen Dienst berufen zu lassen, kann er sich das heute gut für seinen Lebensweg vorstellen. Für Stähling sind vor allem zwei Texte aus der Bibel wichtig geworden: „Im Buch des Predigers wird deutlich, dass all unser Streben und Mühen im Grunde nur Haschen nach Wind sind. Da bezieht der Prediger alles mit ein: Geld, Bildung, Weisheit, Ruhm.“ Und im Psalm 119 wird über allem gepriesen, wie wertvoll Gottes Gebote, Weisungen und seine Ordnung sind. „In diesen 176 Versen steht unter anderem das Wort: ‚Ehe ich gedemütigt wurde, irrte ich‘“, sagt Stähling, und er zitiert weiter: „‚Es ist gut, dass du mich gedemütigt hast, denn so lernte ich deine Ordnungen kennen.‘ Für mich wurde klar: Wenn Gott mich demütigt, dann sind Coaches und Lebensberater die falschen Instrumente gegen diese Demütigung. Wenn Gott mich demütigt, dann geht es darum, dass ich mich nach ihm und seinem Wort richte. Das habe ich so erlebt und das erfahre ich so.“

Von: Jörn Schumacher

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