Wenn ein Stück Metall Familien zusammenführt

Das unscheinbare Amulett wurde vor einem Jahr im ehemaligen Vernichtungslager Sobibor entdeckt. Dadurch konnten zahlreiche Angehörige der Frankfurter Familie Cohn aufgespürt werden. Am Montag haben 34 von ihnen die Verlegung der vier Stolpersteine miterlebt – auch zwei sehr kurzentschlossene Amerikaner.
Von PRO
Da sie kein Grab besuchen können, haben die Angehörigen Blumen an den neuen Stolpersteinen der Familie Cohn niedergelegt

Einen solchen Ansturm von Journalisten dürfte die Thomasiusstraße in Frankfurt am Main noch nicht erlebt haben: Redakteure, Kameraleute und Fotografen drängen sich vor dem Haus Nummer 10–12. Im Mittelpunkt des Interesses stehen vier kleine, mit Messing überzogene quadratische Steine. Es sind Stolpersteine für eine jüdische Familie, wie sie häufig in Deutschland verlegt werden: Richard und Else Cohn mit ihren Töchtern Karolina und Gitta. Am 12. November 1941 wurden sie von der Markthalle aus nach Minsk ins besetzte Weißrussland deportiert. Sechs Tage dauerte die Fahrt zum Ghetto, es gab kein Wasser, viele Menschen starben auf dem Transport. Das weitere Schicksal der Familie blieb im Dunkeln.

Der Andrang der Journalisten ist groß Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Der Andrang der Journalisten ist groß

Doch im Herbst 2016 machten Archäologen auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibor in Polen eine Entdeckung, die einen Stein ins Rollen brachte: ein kleines Amulett aus Metall. Jüdische Kinder bekamen solche Talismane oft zur Geburt geschenkt – zum Schutz. Auf diesem Anhänger ist unter den hebräischen Worten „Mazal tov“ (viel Glück) ein Datum eingraviert: 3. Juli 1929, dazu der Hinweis „Frankfurt am Main”. Die Rückseite zeigt den hebräischen Buchstaben He, die Abkürzung für die Gottesbezeichnung „HaSchem“ (Der Name).

Der Jerusalemer Holocauststätte Yad Vashem gelang es anhand der von der Claims Conference finanzierten Datenbanken und der Deportationslisten, das Geburtsdatum einem Frankfurter Mädchen zuzuordnen: Karolina Cohn. Daraufhin machte sich der israelische Ahnenforscher Chaim Motzen auf die Suche nach lebenden Verwandten. Auf drei Kontinenten stieß er auf Nachkommen der Familien Cohn und Eisemann – der Herkunftsfamilie von Else Cohn.

Die vier Stolpersteine warten darauf ... Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Die vier Stolpersteine warten darauf …
... vor der Thomasiusstraße 10 verlegt zu werden Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
… vor der Thomasiusstraße 10 verlegt zu werden

Und so bevölkern an diesem Montagmorgen nicht nur Journalisten und interessierte Frankfurter die Thomasiusstraße, sondern auch 34 Angehörige von Richard, Else, Karolina und Gitta Cohn. Sie sind aus Israel, Kanada, den USA oder Japan angereist. Zwei der Gäste hat Motzen erst am Donnerstag als Verwandte ausgemacht – Denise Stanaland und ihren Sohn Shawn Ruby. Stanalands Mutter, die Deutschland 1938 verlassen konnte, war eine Cousine von Karolina Cohn. Am Freitag erhielt ihre Familie in Texas den Anruf, und einen Tag später setzten sich die Beiden kurzentschlossen in ein Flugzeug, um nach Deutschland zu fliegen. Die Strapazen der weiten Reise sind ihnen nicht anzumerken.

„Es schnürt einem die Kehle zu“

Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) blickt in seiner Ansprache auf einen weiteren Termin, der ihm an diesem Tag bevorsteht: den Geburtstagsbesuch bei einer 100-jährigen Frankfurterin. Da sei ihm der Gedanke gekommen: „Was wäre, wenn es anders wäre?“ Dann könnte er vielleicht im Juli 2019 Karolina Cohn zum 90. Geburtstag gratulieren. Doch wie es ihrer Familie nach der Deportation ergangen ist und ob sie nach der Auflösung des Minsker Ghettos im Jahr 1943 nach Sobibor transportiert wurden, sei unbekannt. In der „Todesfabrik“ Sobibor seien Juden nicht durch Zyklon B vergast worden, sondern durch Abgase. „Es schnürt einem die Kehle zu, weil es eben so anders gekommen ist“, ergänzt das Stadtoberhaupt. „Wir dürfen nie wieder zulassen, dass so etwas geschieht.“

Hätte Karolina Cohn gerne zum 90. Geburtstag gratuliert: OB Feldmann, hier mit dem Klarinettisten Roman Kuperschmidt Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Hätte Karolina Cohn gerne zum 90. Geburtstag gratuliert: OB Feldmann, hier mit dem Klarinettisten Roman Kuperschmidt

Die Claims Conference vertritt gegenüber der deutschen Bundesregierung die Ansprüche der jüdischen NS-Opfer auf Entschädigung und Restitution. Vizepräsident Greg Schneider weist während der Zeremonie darauf hin, dass Anne Frank ein ähnliches Amulett besaß. Sie war vier Wochen älter als Karolina. Anne sei durch ihr persönliches Zeugnis bekannt geworden. „Hat Karolina es nicht verdient, dass man ihrer ebenso gedenkt?“ Viel wüssten wir nicht über das Mädchen, das mit elf Jahren aus Frankfurt deportiert wurde. Doch Schneider stellt sich nach eigenen Worten manchmal vor, dass die junge Jüdin das Amulett auf dem Weg in die Gaskammer absichtlich fallen ließ, damit es der Nachwelt zum Zeugnis werde. „Die Opfer der Scho’ah, die überlebenden wie die toten, haben ein Recht darauf, dass die Welt ihre Namen kennt und erfährt, was ihnen widerfahren ist“, betont der Amerikaner.

Greg Schneider hat eine Nachbildung des Amuletts mitgebracht – das Original befindet sich im Majdanek-Museum in Polen Foto: Rafael Herlich
Greg Schneider hat eine Nachbildung des Amuletts mitgebracht – das Original befindet sich im Majdanek-Museum in Polen

Der Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, Ruediger Mahlo, betont: „Ohne den Fund des Amuletts im Vernichtungslager Sobibor hätte die Nachwelt nichts vom Leben, Leiden und vom Tod von Karolina Cohn erfahren. Auch wenn die Nachrichten über Karolina und ihre Familie bis heute ausgesprochen spärlich sind, so wird doch ihr Name durch die Verlegung des Stolpersteins für immer öffentlich in Stein gemeißelt sein. Auch dank der breiten Berichterstattung durch die internationalen Medien wird ihr Name aus dem Dunkel der Geschichte hervorgeholt.“

Schüler präsentieren Forschungsprojekt

Neuntklässler der Frankfurter Anne-Frank-Schule haben sich in einem Projekt mit Karolina beschäftigt. Sie haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie wohl lebte und welche Träume sie möglicherweise hatte. In der Thomasiusstraße stellen zwei Mädchen und ein Junge die Ergebnisse in einem Rollenspiel vor. Es geht darum, weshalb es sinnvoll ist, sich mit dem Scho’ah-Opfer zu beschäftigen. Auch die Diskussion über das Für und Wider der Stolpersteine greifen sie auf. Den oft geäußerten Vorwurf, dadurch trampelten die Menschen auf der Erinnerung an die Ermordeten herum, kontert eine Schülerin mit den Worten, die Steine würden dadurch im Gegenteil poliert.

Die drei Schüler der Anne-Frank-Schule – links neben ihnen steht Denise Stanaland mit einer Rose Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Die drei Schüler der Anne-Frank-Schule – links neben ihnen steht Denise Stanaland mit einer Rose

Still wird es, als ein Frankfurter Rabbiner 76 Jahre und einen Tag nach der Deportation für die Scho’ah-Opfer der Familien Cohn und Eiseman das Kaddisch verliest. Mit diesem Gebet gedenken Juden ihrer Verstorbenen. Die angereisten Verwandten legen Rosen an den Stolpersteinen ab, die vom Künstler Gunter Demnig an ihrem letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt wurden: Thomasiusstraße 10. Ein Grab, an dem die sichtlich bewegten Angehörigen trauern könnten, existiert nicht.

Bevor Rabbi Julian Chaim Soussan das Kaddisch-Gebet spricht, verliest Ahnenforscher Motzen die Namen der ermordeten Mitglieder der Familien Cohn und Eisemann Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Bevor Rabbi Julian Chaim Soussan das Kaddisch-Gebet spricht, verliest Ahnenforscher Motzen die Namen der ermordeten Mitglieder der Familien Cohn und Eisemann

Karolinas Vater war ein Tapezierer, der sein Handwerk jedoch aufgrund einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg nicht ausüben konnte. Er schlug sich mit dem Vertrieb von Zeitschriften durch, die Mutter trug als Schneiderin zum mageren Familieneinkommen bei. An eine Flucht aus Nazideutschland war nicht zu denken, die Familie war auf finanzielle Unterstützung von der jüdischen Gemeinde angewiesen. Am 8. November 1941, dem neunten Geburtstag der jüngeren Tochter Gitta, wurde sie aufgefordert, sich zur „Abwanderung“ bereitzuhalten – damit beschönigten die Nationalsozialisten die Deportation nach Osteuropa.

„Ein kleines Stück Metall verbindet Familien in Vergangenheit und Gegenwart“

Vermutlich besuchte Karolina die jüdische Schule im Philantropin, die 1942 geschlossen wurde. Eine andere Möglichkeit gab es für jüdische Kinder nicht mehr. Unterlagen sind darüber nicht erhalten. Doch die Lichtigfeldschule im Philantropin erscheint als angemessener Ort, um die Gedenkveranstaltung fortzusetzen. Barry Eiseman und seine Schwester Michelle erzählen hier von ihrem Vater Moritz, einem Bruder von Else Cohn. Er konnte rechtzeitig in die USA auswandern, seine Geschwister haben den Holocaust nicht überlebt, er konnte ihnen nicht helfen. Der Vater starb 1970, ohne seinen Kindern von dem Schicksal der deutschen Verwandten erzählt zu haben. Erst durch das Amulett erfuhren sie davon. „Ein kleines Stück Metall verbindet Familien in der Vergangenheit und in der Gegenwart“, sagt Barry Eiseman.

In Sobibor, wo das Amulett entdeckt wurde, leiten die Archäologen Joram Haimi und Wojciech Mazurek seit zehn Jahren die Ausgrabungen. In dieser Zeit sind der Israeli und der Pole nicht nur Kollegen geworden, sondern sehr gute Freunde. Ihr erstes Ziel war die Entdeckung der Gaskammern – das gelang ihnen 2014. Sie freuen sich, dass nun niemand mehr die Tatsache dieses Vernichtungslagers leugnen kann. Die Nazis hatten seinerzeit versucht, alle Spuren von dem Massenmord in Sobibor zu beseitigen. Wald hat sich auf dem Gelände ausgebreitet. Ein Arbeitslager gab es dort nicht. Von der Rampe kamen die meisten Häftlinge sofort in die Baracke, in der sie sich entkleiden mussten und geschoren wurden. Hier haben die Archäologen das Amulett entdeckt. Von der Baracke aus führte der Weg über die sogenannte „Himmelfahrtsstraße“ direkt in die Gaskammern.

Nur wenige Häftlinge haben Sobibor überlebt, einzelnen gelang die Flucht. 50 Pläne haben Überlebende und Aufseher von dem Lager gezeichnet – alle sind unterschiedlich, wie die beiden Archäologen in ihrer Präsentation betonen. Doch nun können sie anhand der Funde rekonstruieren, wie das Vernichtungslager aufgebaut war. Auch Massengräber wurden dort freigelegt. Zahlreiche Artefakte sind bei den Ausgrabungen zum Vorschein gekommen: Amulette wie das von Karolina, Parfümflakons, aber auch Türschilder aus Messing. Die hätten die Juden mitgenommen, weil sie dachten, sie könnten sie am neuen Wohnort an der Tür ihres Hauses anbringen, merkt Haimi im Gespräch mit Israelnetz kopfschüttelnd an. Offensichtlich wollten sie jeden Gedanken daran verdrängen, dass die Verschleppung möglicherweise ihr Todesurteil bedeuten könnte.

Ein altes Foto berührt alle

Ahnenforscher Motzen wiederum berichtet den aufmerksamen Zuhörern in der Aula, welche persönlichen Dokumente der Familie Cohn gefunden wurden. Ein Klassenfoto von Karolinas Jahrgang – wenn sie die jüdische Schule besucht hat, müsste sie auf dem Bild zu sehen sein. Die ehemalige Schülerin, die es zur Verfügung gestellt hat, erinnert sich nicht an das Mädchen. Motzen macht es spannend: Erst präsentiert er eine Postkarte aus Bayreuth, die 1932 zu Verwandten nach New York geschickt wurde. Darauf haben fünf Mitglieder der Familien Cohn und Eiseman unterschrieben. Aus derselben Zeit stammt ein kleines Familienfoto, auf dem neben mehreren Erwachsenen, darunter Richard und Else Cohn, ein kleines Mädchen zu sehen ist. Ein Gebäude, das heute noch existiert, zeigt, dass es ebenfalls in Bayreuth aufgenommen wurde. Und das Mädchen ist, wie Motzen nun endlich preisgibt, mit mehr als 90-prozentiger Sicherheit die kleine Karolina.

Auf diesem Foto ist mit ziemlich großer Sicherheit Karolina Cohn zu sehen Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Auf diesem Foto ist mit ziemlich großer Sicherheit Karolina Cohn zu sehen

Noch während des abschließenden Musikstückes stehen Angehörige auf und gehen zu dem Israeli, der in der ersten Reihe sitzt. Als der letzte Ton verklungen ist, gibt es kein Halten mehr. Alle umringen Motzen, wollen einen Blick auf das Bild erhaschen, es fotografieren. Die 34 Gäste, die teilweise sehr weit angereist sind, haben durch Karolinas Amulett nicht nur eine neue Familie gewonnen. Denise Stanaland und Shawn Ruby werden bereits am Mittwoch nach Texas zurückkehren – mit gemischten Gefühlen der Trauer und der Freude. Doch dieses besondere Ereignis war die Spontanität wert, wie der Sohn auf eine entsprechende Frage von pro versichert. Und so werden sie es keinen Augenblick bereuen, die Strapazen der Reise auf sich genommen zu haben. Die Stolpersteine, die Erzählungen und die alte Fotografie eröffnen ihnen und den anderen Gästen eine Brücke in die Vergangenheit, die unmittelbar mit ihnen verknüpft ist.

Von: Elisabeth Hausen

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