Der Theologe von Schloss Bellevue

Stephan Steinlein ist die rechte Hand des Bundespräsidenten. Der Mann, der die Geschicke Steinmeiers aus dem Hintergrund lenkt, hat in der DDR Theologie studiert, umgab sich mit Systemkritikern und wurde so Teil der Friedlichen Revolution. Ein Porträt von Anna Lutz
Von Anna Lutz
Stephan Steinlein ist seit fast zwei Jahrzehnten ein enger Vertrauter von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD)

Es gab eine Zeit, da hat Stephan Steinlein mit groben Arbeitshandschuhen glühenden Stahl gewalzt. Mithilfe von Zangen hat er die meterlangen rot-gelb glimmenden Stangen in überdimensionale Maschinen befördert, wo sie plattgedrückt und für den Bau vorbereitet wurden. Steinlein ist Kran gefahren und hat mit Schneidbrennern Stahl zerschnitten. Drei Jahre lang lernte er als Teenager den Beruf des Walzwerkers, stand täglich in lauten und dreckigen Bauhallen, schwitzte und sah am Ende des Tages wohl meistens aus, als hätte er einen Brand gelöscht: Voll Ruß, geschafft und müde von der Arbeit mit dem schweren Gerät. Heute trägt Steinlein graue Maßanzüge und verbringt seine Tage in einem klimatisierten Büro mitten im Berliner Tiergarten. Gleich neben Schloss Bellevue liegt das Bundespräsidialamt. Hier entstehen die Reden Frank-Walter Steinmeiers, hier entscheidet sich, wo er wann auftritt und ob er als nächstes Donald Trump oder Emmanuel Macron die Hand schüttelt. Stephan Steinlein ist Chef dieses Amtes – und damit der engste Berater des Bundespräsidenten.

pro trifft Steinlein kurz vor der Eröffnung des Evangelischen Kirchentags in Berlin. Wären da nicht die vielen Bäume, könnte der gebürtige Ostdeutsche das Spektakel rund um Reichstag und Brandenburger Tor von seinem Arbeitsplatz aus beobachten. Nur, dass es ihn nicht sonderlich interessiert. Zwar ist der 56-Jährige gläubiger Protestant, hat sogar Theologie studiert. Doch groß inszenierte Gottesdienste mit lauter Musik und buntem Programm sind ihm zuwider. Strenge Liturgie, alte Kirchenlieder, klare Textexegese – das ist Stephan Steinleins Welt. „Ich brauche keinen Pfarrer, der mir sein Herz ausschüttet“, sagt er und beklagt die „spirituelle Entleerung“ seiner Kirche.

Man sagt Steinlein nach, er gleiche seinem Chef, dem Bundespräsidenten, und das nicht nur wegen des Nachnamens. Nur so erkläre sich, dass die beiden es seit 18 Jahren miteinander aushielten. „So ähnlich sind wir uns nicht“, sagt er selbst, und wer beide Männer schon erlebt hat, weiß, dass das stimmt. Steinmeier ist im Umgang mit Journalisten oft sperrig und schwer greifbar. Steinlein hingegen gibt sich nahbar, kommt ins Plaudern, lacht während des Gesprächs, wirkt entspannt. Ihn verbinde vor allem die Neugierde mit seinem Vorgesetzten. Und der Wunsch, Frieden herzustellen in einer vielfältigen Welt. Steinlein berät Steinmeier, seit dieser Chef des Bundeskanzleramtes war, folgte ihm ins Bundesaußenministerium, in die Bundestagsfraktion, zurück ins Auswärtige Amt und nun ins Schloss Bellevue. Dass der Mann, der einst Stahl verarbeitete, eine solche Karriere hinlegen würde, mag selbst er kaum geglaubt haben. Denn die Voraussetzungen waren denkbar schlecht: Als Sohn eines systemkritischen Superintendenten in der DDR.

Steinlein wächst im brandenburgischen Finsterwalde auf. Er hat drei Geschwister, alle werden sich in ihrem künftigen Leben auf die ein oder andere Weise der Theologie widmen. „Man war nicht normal, man war anders als die anderen als Pfarrerskind“, erinnert sich Steinlein. Einerseits sei da die Erwartung gewesen, dass man sich vorbildlich benimmt, andererseits die Skepsis vor allem der Schulleiter gegenüber dem frommen Elternhaus. „Meine Mutter hat manchmal Angst gehabt, dass die Männer mit den Kleppermänteln unten klingeln und meinen Vater abholen“, erinnert sich Steinlein an seine Kindheit. Das sei nie passiert, aber die Angst immer da gewesen. „Man lebte in einem Land, wo jeder Polizist und jeder Lehrer ein potentieller Feind ist“, sagt er mit Blick auf die DDR. Seine Strategie gegen Angst und Misstrauen: Gut sein. Steinlein ist ein vorbildlicher Schüler und später ein hervorragender Student der Theologie am staatsunabhängigen evangelischen Berliner Sprachenkonvikt. Die Hochschule gilt als eine der Institutionen, an denen die Friedliche Revolution vorbereitet wurde.

Weg zum Glauben

„Ein weiter Weg“ sei es gewesen, vom mopedfahrenden, langhaarigen, rauchenden Hippie, als den sich Steinlein rückblickend beschreibt, hin zum ambitionierten Wissenschaftler, der das Neue Testament bis heute nur in Originalsprache liest. „Ich wollte mit dem Glauben nichts zu tun haben“, erinnert er sich. Nietzsche und Freud habe er als 16-Jähriger verschlungen, „Camus war meine Bibel“. Steinlein verweigert den Wehrdienst. Spätestens an diesem Punkt ist klar, dass ihm in der DDR eine normale berufliche Karriere nicht mehr offensteht. Nachdem er als Pfarrerskind schon nicht die reguläre Oberschule besuchen durfte und nur durch die Walzwerkerlehre zum Abitur kam, sind ihm nun auch die meisten akademischen Wege verwehrt. Walzwerktechnik hätte er studieren können und Ingenieur werden. Steinlein lacht heute bei dem Gedanken daran.

Später wird er sich für die Theologie entscheiden, auch das ist eine Option für den systemkritischen jungen Mann. Denn in dieser Zeit baut er Kontakte zu einer Jungen Gemeinde in Berlin auf. Die Kirche war Heimat der alternativen Szene in Pankow und später im Prenzlauer Berg. „Wir haben Kirchenlieder gesungen, aber jeder konnte leben, wie er wollte, ob gläubig oder nicht“, erinnert er sich. Mit bis zu 40 Gleichgesinnten sitzt er damals regelmäßig im Keller der Gemeinde, diskutiert die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann oder entsorgt symbolisch Kriegsspielzeug. „Wir wurden beobachtet“, sagt er. Und dennoch bot die Kirche ihm einen Raum, um Freiheit zu erleben. „Es gab keinen anderen.“

Mit dieser Erfahrung im Hintergrund beginnt er sein Theologiestudium. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus. „Es war für mich der einzige Weg, zu studieren“, sagt er. Einer seiner Lehrer am Sprachenkonvikt ist ausgerechnet der DDR-Kritiker Wolfgang Ullmann, Teil der späteren Bürgerbewegung und in den Neunzigern Abgeordneter der Grünen im Bundestag. Für Steinlein ist er bis heute eine Schlüsselfigur. Durch ihn kommt er zum Glauben. „Weil er uns beigebracht hat, dass Glaube und Vernunft kein Widerspruch sind“, sagt Steinlein. Fragt man ihn nach einem lebensverändernden Moment, winkt er ab: „Keine Bekehrung.“ Seine Evolution in Glaubensfragen habe sich schleichend abgespielt, sie sei ein Kontinuum. „Ich habe erkannt: Es gibt Wahrheit. Die Skepsis hat nicht das letzte Wort“, sagt er. Von diesem Punkt aus erobert der junge Steinlein sich die Welt neu, studiert Schriften von Aristoteles oder den Kirchenvätern im griechischen Original und diskutiert sie bei Kaffee oder Tee gemeinsam mit anderen Studenten im Wohnzimmer seines Lehrers.

Versöhnt mit der Vergangenheit

Mithilfe eines Stipendiums des Ökumenischen Rates darf Steinlein ein Jahr lang in Straßburg studieren. Dort lernt er seine Frau und das Leben im Westen kennen. Als die DDR zusammenbricht, gehört er längst zum Kreis derer, die sich bereits als Westdeutsche fühlen und den Niedergang des SED-Regimes gleichermaßen erhofft und erahnt haben. Das macht ihn zum Vertrauten der neuen Führung und auch zum Anwärter für politische Ämter im revolutionierten Staat. Zudem spricht er Französisch. Sechs Wochen lang ist er deshalb der letzte Botschafter der DDR in Paris. In der Botschaft erwartet ihn „die ganze alte Mannschaft“, wie er heute sagt. Mit 29 Jahren ist Steinlein plötzlich Vorgesetzter von ausschließlich systemtreuen Auslandsmitarbeitern. Vielleicht entdeckt er gerade hier, dass Vielfalt funktionieren kann. Über seine Mitarbeiter sagt er: „Wir wären uns in der DDR nie begegnet.“ Im Nachhinein ist er dankbar für die Begegnung und das Miteinander. „Ich habe den einzelnen Menschen nichts vorzuwerfen“, sagt er mit Blick auf die DDR. „Keine Bitterkeit.“

Im vereinten Deutschland absolviert er die Diplomatenausbildung des Auswärtigen Amtes. Steinlein war in seiner Karriere vieles: Theologe, Pressereferent, Diplomat und Gestalter von Politik – nur im Vordergrund stand er nie. „Ich habe kein Kamera-Gen“, sagt er. Tatsächlich scheint er es eher zu genießen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und sich nicht mit allzu vielen Interviews oder repräsentativen Auftritten herumschlagen zu müssen. Ist das Büro im Tiergarten die Endstation seiner Karriere? „Neinneinnein!“, sagt er eilig und lacht. „Auf keinen Fall!“ Im Grunde sei er ewiger Theologe, auch wenn er nicht als solcher arbeite: „Ich bin immer unterwegs und ich suche immer nach der Wahrheit.“ (pro)

Dieser Text ist der aktuellen Ausgabe 4/2017 des Christlichen Medienmagazins pro entnommen. Bestellen Sie pro kostenlos und unverbindlich unter Telefon 06441-915-151, per E-Mail an info@kep.de oder online.

Von: al

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