Seelsorge zwischen Beat und Pop

Beziehungsprobleme, Übergewicht, Krankheit und Tod – das sind Themen bei der Radioseelsorge des Jugendsenders bigFM. Seit zwölf Jahren können die Hörer mit ihren Problemen in der Sendung nighttalk anrufen und mit einem Geistlichen sprechen. Das Format ist einzigartig im säkularen Radio.
Von PRO
Ernst Kusterer alias BigPater Ernst gibt jungen Radiohörern seit zwölf Jahren seelsorgerliche Ratschläge
Die letzten Takte von Justin Timberlakes „Mirrors“ dudeln an diesem Sonntagabend gegen 22:45 Uhr vor sich hin. Eine Mischung aus R&B und Pop – eben das, was junge Leute so hören. Dann wird es leise im abgedunkelten gläsernen Radiostudio von Deutschlands größtem privaten Jugendsender, bigFM. Das Schild „On Air“ leuchtet rot auf. Jetzt ist die Zeit für eine einzigartige kirchliche Seelsorgesendung im Radio gekommen: „Wir wollen bis Mitternacht über das sprechen, was euch umtreibt, was euch Sorgen macht, und natürlich dafür eine Lösung finden“, verspricht eine helle, freundliche Stimme den Hörern da draußen. Moderatorin Béatrice Krist sitzt vor leuchtenden Studiomonitoren, Reglern und Knöpfen. Vor dem nächsten Musiktitel appelliert sie: „BigPater Ernst von der Katholischen Kirche ist heute für euch da. Ruft jetzt kostenfrei beim bigFM nighttalk an.“ Ernst Kusterer ist Seelsorger und wird sich heute Abend der Sorgen und Nöte der Anrufer annehmen. Der 71-Jährige sitzt auf einem Barhocker, schwarze Kopfhörer auf den Ohren, das Mikrofon, in das er gleich sprechen wird, hängt vor ihm. Er wirkt in sich gekehrt und konzentriert. Wer in den nächsten 75 Minuten mit seinen Problemen bei ihm in der Sendung landet, weiß er noch nicht. „Als ich mit der S-Bahn hergefahren bin, habe ich erstmal für den Abend gebetet“, beschreibt der Seelsorger sein Ritual. Wegen seiner Leibesfülle – und in Anspielung auf den Namen des Senders – wird er auch „BigPater“ genannt. Ahmed, der erste Anrufer des Abends, hat Übergewicht und wird in der Berufsschule gemobbt. Bei den Frauen hat er auch nicht so viel Erfolg. „Ist es normal, wenn man deswegen auch Selbstmordgedanken hat?“, fragt er. „Sowas solltest du dir aus dem Kopf schlagen“, sagt BigPater Ernst mit ernster Stimme. „Mein Rat: Such dir einen Arzt, der dich beim Abnehmen unterstützt.“ Nach gut drei Minuten Gespräch stimmt Ahmed dem Vorschlag zu. Der nighttalk ist in Deutschland im säkularen Radio einmalig: Zwar gibt es zahlreiche Talksendungen wie beispielsweise Domian, aber keinen vergleichbaren Talk im Jugendprogramm mit einem Pfarrer. Der Impuls dafür kam vom Sender bigFM selbst, weil sich seine Hörer regelmäßig mit Problemen an die Redaktion wandten. Insgesamt rund 700 nighttalks hat es seit 2003 gegeben. Etwa 16.000 Hörer aus Baden-Württemberg, dem Saarland, Rheinlandpfalz und Teilen Nordrhein-Westfalens schalten die Sendung laut Reichweitenerhebung jeden Sonntagabend ein.

Liebe ist das Thema Nummer eins

Kaum hat Kusterer ein Gespräch beendet, folgt der nächste Aufruf an die Nachtschwärmer da draußen: „Was beschäftigt euch? Ruft jetzt an!“ Etwa 70 Anrufer werden bis Mitternacht versucht haben, durchzukommen. Um Spaßanrufe zu vermeiden und vielseitige Themen zu sammeln, sortiert eine Mitarbeiterin die eingehenden Telefonate und trifft eine Vorauswahl. Einige Gespräche werden vorher aufgezeichnet. Vier kommen schließlich in jede Sendung. Nach einem Song von der britischen Girlgroup Sugababes ist Max in der Leitung: Nach drei Jahren trennte sich seine Freundin von ihm, weil er sich mit einer anderen Frau geschrieben hatte. Aber vieles ist noch ungeklärt, seine Ex-Freundin meldet sich immer wieder „mit lieben SMS“ bei ihm. Kusterer bringt es auf den Punkt: „Ich vermute, dass deine Freundin Zeit braucht, um sich bewusst zu werden, was sie will. Lasst euch Zeit und reflektiert in ein paar Wochen nochmal. Vielleicht ist die Liebe dann wieder ganz neu da.“ Beziehungsthemen sind Dauerbrenner in der Sendung. Und das schon seit zwölf Jahren. So lange macht Kusterer Radioseelsorge. „Es ist Wahnsinn, was an Beziehungsproblemen herrscht. Der Druck ist so enorm heute. Freunde, Familie und Job – jeder hat Ansprüche. Die jungen Leute kommen schwer damit klar“, erklärt er zwischen zwei Talks. Zukunftsängste und Mobbing gehören ebenfalls zu den Themen. Die Anrufer sind zwischen 14 und 29 Jahre alt und kommen meist aus der spaß- und erlebnisorientierten modernen Unterschicht und unteren Mittelschicht. „Wir erreichen mit dem Format junge Menschen, die wenig Berührung zur Kirche haben“, ergänzt Kusterer. Katholisch will er die Anrufer nicht machen, jeglicher Missionierungseifer liegt ihm fern. Auch wenn er dafür manchmal kritisiert wird: „Ich kann bei den jungen Leuten nicht mit frommen Sprüchen oder großer Theologie daherkommen. Ich will den Anrufern Mut machen, sich von Experten beraten zu lassen, und sie auch aufbauen. Indem ich ihnen sage ‚Ich bete für dich‘ oder ‚Ich denke an dich‘, hilft das vielen schon weiter.“ „Jan, das ist ja ganz kompliziert, das ist ja eine Dreiecksbeziehung!“, sagt Kusterer, während er die wichtigsten Punkte aus dem Gespräch auf einem Blatt als Gedankenstütze notiert. Wie bei jedem Anruf, versucht der Pater auch jetzt in maximal acht Minuten Rat zu geben. Jan ist 19 Jahre alt. Kompliziert ist sein Liebesleben deshalb, weil er eine Affäre mit der Freundin seiner Ex-Freundin hatte. Genau die hat sich jetzt in ihn verliebt, obwohl die Affäre aus seiner Sicht nur „rein körperlich“ war. „Du musst die Sache in die Hand nehmen und klar sagen, was du willst“, rät BigPater Ernst. Auch wenn Jan einige Nachfragen stellt, scheint ihn die Antwort zu befriedigen. „Wir denken an dich!“, ruft der Seelsorger ihm noch hinterher, bevor der Anrufer aus der Leitung verschwindet und „Deutschlands biggsten Beats“ weicht.

„Wir beten ganz fest mit dir“

Wenn es in die Situation passt, betet BigPater Ernst im Radio für Anrufer. So macht es auch sein Kollege Heiko Bräuning, der zusammen mit einer Pfarrerin die evangelische Stimme der Sendung ist. „Der haut auch mal einen Bibelspruch raus“, sagt Kusterer. Die Katholische und Evangelische Kirche wechseln sich zweiwöchentlich mit dem Talk ab. Das Format hat den Anspruch, die Anrufer zu beraten und wenn notwendig im Hintergrund an geeignete kirchliche Beratungseinrichtungen zu vermitteln. Es gibt dabei Themen, die Kusterer unter die Haut gehen. Einsame Fernfahrer rufen an, Kinder aus Heimen, auch einen Anruf aus dem Gefängnis gab es schon. Der Seelsorger berichtet von einer Sendung am Heiligen Abend: „Da hat ein 14-jähriges Mädchen angerufen, die an dem Tag erfahren hat, dass sie schwanger ist.“ Und er erinnert sich an eine 25-Jährige mit zwei gescheiterten Ehen; zwei Kinder, lebt von Hartz-IV und hat zwei Tage vor der Sendung erfahren, dass sie Krebs hat. „Die hat dann richtig geweint am Telefon.“ Der 13 Jahre alte Jonas trauert um seinen Opa. Der ist gestern gestorben. Jonas erzählt mit kindlicher Stimme von der Krankheit seines Opas. „Das ist eine ganz schlimme Situation“, bringt BigPater Ernst die Lage auf den Punkt. Seiner Mimik ist anzusehen: Das nimmt ihn mit. Er will dem Jungen Trost zusprechen: „Du kannst beten, an sein Grab gehen. Und du solltest mit Freunden immer wieder drüber reden, was du mit deinem Opa alles erlebt hast. Wir beten ganz fest mit dir!“ Vielleicht nimmt es Kusterer mit, weil er sich in seiner Rolle selbst als Großvater sieht – und die jungen Hörer ihn offenbar auch, sie könnten seine Enkel sein. Kusterer gehört dem Orden der Salesianer Don Boscos in Stuttgart an. Das ist ein katholischer Orden mit dem Schwerpunkt Jugendseelsorge. „In manchen Situationen sind Großeltern wichtiger als Eltern oder Gleichaltrige“, sagt der Pater. Für ihn ist es deshalb wichtig, authentisch zu bleiben und sich nicht mit einer aufgesetzten Jugendsprache anzubiedern.

Ein Geistlicher als Radiostar

Die Hörer richten ihre Anliegen nicht nur per Telefon an den BigPater, sondern auch per Facebook und Mail. Einige davon werden in der Sendung vorgelesen. Ähnlich wie bei der Sendung BigPRAY: An drei Abenden in der Woche formuliert Kusterer im wöchentlichen Wechsel mit den evangelischen Kollegen Kurzgebete in diesem zweiminütigen Verkündigungsformat. Dabei greift er Anliegen auf, die täglich per Mail eingehen. Rund 200.000 Hörer werden damit an jedem Sendetag erreicht. Bei der Gestaltung der kirchlichen Beiträge haben die Kirchenredaktionen freie Hand: „Es ist für uns eine große Chance, Menschen auf eine andere Art zu erreichen“, sagt Kusterer. Als BigPater Ernst ist er in all den Jahren zu einem versteckten Radiostar für junge Menschen geworden. Selbst Autogrammkarten hat der Sender für ihn drucken lassen, die er bei Schulbesuchen verteilt. Nächstes Jahr wird er in den Ruhestand gehen und die Radioseelsorge von katholischer Seite abgeben. Auch wenn er sonntags lang wach bleiben muss: „Es erfüllt mich, weil ich weiß, dass ich den Leuten helfen kann.“ Mit den Jahren ist er gelassener geworden. Trotzdem dauert es seine Zeit, bis Kusterer nach einer Sendung innerlich zur Ruhe kommt. Einschlafen wird er heute erst sehr viel später. (pro)
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