„Der Mensch braucht eine intakte Gottesbeziehung“

Der Wiener Theologe Ulrich Körtner hat an den elf Leitsätzen zur Zukunft der Evangelischen Kirche in Deutschland einiges auszusetzen. Im Gespräch mit pro erklärt er, was er theologisch in dem Papier und in seiner Kirche generell vermisst und warum peppige Sprache die Kirche nicht rettet. Eine überarbeitete Fassung des Zukunftspapiers wird die EKD-Synode Anfang November diskutieren.
Von PRO
Prof. Dr. Ulrich Körtner, Jahrgang 1957, ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er hat zudem zwei Ehrendoktortitel.

pro: Was war Ihre erste Reaktion, als Sie die elf Leitsätze zur Zukunft der EKD gelesen haben?

Ulrich Körtner: Ich war von dem Dokument einigermaßen enttäuscht. Natürlich ist es ein Strategiepapier, da verwendet man heute ja so einen gewissen Sprech, der dazu passt. Aber man merkt schon, dass der Text mit der heißen Nadel gestrickt wurde. Vieles bleibt im Unklaren, wirkt wolkig und durch die Manager-Sprache trostlos. Hingegen wird es regelrecht rabiat, wenn es um die EKD und ihren Führungsanspruch geht, in Form eines imperativen Futurs: „Das wird so und so geschehen.“ Das erweckt eher den Eindruck eines Befehls und nicht eines Diskussionsanstoßes. Was ich aber am stärksten kritisiere: Es hat keine nennenswerten theologischen Inhalte.

Wie meinen Sie das?

Die Kirche gibt seit Jahren keine Antwort auf die Frage, warum es auch heutzutage noch gut sein soll, Kirchenmitglied zu sein. Das rächt sich jetzt. Was im Zukunftspapier über Kirche, also die Ekklesiologie steht, ist folgerichtig absolut unzureichend. Es heißt zum Beispiel: „Die Kirche der Zukunft bleibt Gottes Kirche.“ Dass es die Kirche Jesu Christi ist, wird so ausdrücklich gar nicht gesagt. Das Papier heißt: „Kirche auf gutem Grund“. Halbwegs kundigen Bibellesern kommt sofort 1. Korinther 3 in den Sinn: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Doch davon steht nichts in dem Papier. Theologie ist aber wichtig, sie hat eine grundlegende Steuerungsfunktion, wenn die Kirche sich die Frage nach ihrer Zukunft stellt, was ihre Aufgabe ist und was sie über Bord werfen soll – auch in Finanzfragen. Um diese Fragen zu beantworten, selbst auf Ebene der Gemeinden, ist eine theologische Reflexion unverzichtbar. Einer der wenigen zitierten Bibelverse ist „Hinaus ins Weite“ aus 2. Samuel 22,20.

Klingt wie ein Kirchentagsmotto.

Und der Kontext wird nicht näher beleuchtet, nämlich das Abschiedsgebet des Königs David, bevor er stirbt. Darin dankt er Gott, dass er ihn vor den Fängen der Feinde gerettet und „hinaus ins Weite“ geführt hat. Bei der EKD ist von diesen Taten Gottes keine Rede mehr, das „ins Weite“ gerät zum bloßen Stichwortgeber, weil es sich eben nett anhört. Die EKD leitet daraus ab: Die Kirche soll sich so verwandeln, dass sie „hinaus ins Weite“ treten kann. Ein Motivationskick also. Reformatorische Kirchen nehmen für sich in Anspruch, Kirche des Wortes zu sein. Früher sprach man noch von „alleine die Schrift“. Und heute? Null.

Sie haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben, dass Gott in kirchlichen Appellen wie auch im Zukunftspapier der EKD zum „religiösen Add-On“ gerät.

Im Text wird zwar von Gott gesprochen, von seinen Verheißungen, auf die man vertrauen kann. Aber von einem echten Wirken Gottes in der Welt und in der Kirche ist nicht die Rede. Stattdessen findet sich eine „Vorbild-Christologie“: Wir wollen Jesus von Nazareth nacheifern und uns für ein Zukunftsmodell der Humanität einsetzen. Dass die Kirche mit Gottes Wirken rechnet, dass er sie erhält und trägt, dass man auf ihn sein Vertrauen setzt und Hoffnung aus ihm schöpft – diese Dinge werden nicht wirklich angesprochen. Was übrig bleibt, sind die ethischen Lieblingsthemen des Ratsvorsitzenden und des theologischen Vizepräsidenten des EKD-Kirchenamtes.

Für die meisten Menschen ist es doch klar, dass Christen Menschen sind, die zu ihrem Gott beten und mit seinem Eingreifen im Hier und Jetzt rechnen.

Das stimmt, doch hier und auch in anderen Papieren der EKD fehlen solche Bekenntnisse immer häufiger. Gott hat sich – so könnte man meinen – aus der Kirche zurückgezogen. Wenn vom Handeln die Rede ist, sind damit immer nur die kirchlichen Akteure gemeint. Dass Gott der Herr der Geschichte ist oder wie der Theologe Rudolf Bultmann sagt, „die alles bestimmende Wirklichkeit“, bleibt außen vor. Das klingt am Ende auch nicht besser als wenn säkulare Humanisten sagen, dass nur die Menschen es in der Hand haben, die Welt zum Guten zu verändern.

Vermuten Sie dahinter ein deistisches Gottesverständnis? Das würde bedeuten, dass Gott am Anbeginn der Zeit mal den Anstoß gegeben hat, um alles ins Rollen zu bringen, sich dann aber aus dem Weltenlauf verabschiedet hat.

Mag sein, dass er eben noch als Motivator dient. Es gibt heute theologische Positionen, die das so auch ausdrücklich sagen. Insofern ist das Zukunftspapier auch das Ergebnis der theologischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Ich habe nichts davon gelesen, dass es irgendwo heißt: „Wir vertrauen darauf, dass Gott uns durch diese Zeiten führen wird.“ Ich weiß, dass das schwierige Themen sind, weil ich diese Fragen als Dogmatiker auch theoretisch entfalten muss. Aber in einem kirchlichen Papier, wo es um die Zukunft geht, muss dieser Aspekt vorkommen. Stichwort Zukunft: Das Papier spricht von Zukunft nur als gestaltbaren Raum unseres Planens – und weniger im Sinne dessen, was in der Bibel mit dem „Reich Gottes“ verbunden ist oder mit der Ankunft Gottes in der Welt. Ein gehaltvoll theologischer Zukunftsbegriff wird nicht weiter entfaltet.

Andererseits bildet das Papier schlicht die theologische Realität eines wichtigen Teils der kirchlichen Leitungsebene ab. Die ist ja nicht unbedingt dafür bekannt, ständig mit dem geschichtlichen Eingreifen Gottes zu rechnen. Daher beschreibt das Papier die Kirche doch ganz gut.

So könnte man argumentieren. Deshalb bin ich ja auch weit davon entfernt, einzelne Personen zu kritisieren. Vielmehr muss man sich fragen, warum diese Kirche sich so entwickelt hat, wenn solche Papiere offensichtlich für den Mainstream als konsensfähig gelten können. Wenn das tatsächlich so ist, mache ich mir ernsthafte Sorgen um die Zukunft der Kirche. Die Kirche muss nach evangelischem Verständnis verkündigen, was Gott an dem Menschen tut. Und zwar nicht nur in der Vergangenheit, indem er Jesus auf die Welt geschickt hat, sondern hier und jetzt. Als gläubiger Christ glaube ich, dass mich Gott durch mein Leben führt.

Das ist es doch auch, was ich erwarte, wenn ich einen Gottesdienst besuche: Nicht irgendwelche Moralpredigten, sondern dass ich erfahre, was Gott an uns tut. Wo kann ich sein Wirken in meinem Leben erkennen, in der Kirche, in der Welt? Natürlich bin ich nicht naiv, oft sind das natürlich kontrafaktische Aussagen. Das Wirken Gottes wird oft sogar gegen den Augenschein geglaubt. Die Kirche spielt neue Mitgliedschaftsformen durch, mit denen man Menschen locken kann. Ich bin zwar auch für neue Modelle, aber: Die wichtigere Frage ist, wie man die bei der Stange halten kann, die schon in der Kirche sind und brav ihre Kirchensteuer zahlen.

Was würde die Menschen denn wieder in die Kirchen ziehen?

Viele Menschen haben das Gefühl, es fehle ihnen gar nichts, nicht einmal Gott, wenn sie nicht mehr zur Kirche gehören. Das laste ich niemandem an, auch nicht der Kirche. Die Menschen fragen schlicht nicht mehr nach Gott. Auch wenn das nicht originell klingt: Wir müssen den Fokus darauf richten, was wir inhaltlich zu sagen haben. Warum ist die Lehre der Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben für die menschliche Existenz wichtig? Wir müssen von Gott, wie Karl Barth es formulierte, als dem „ganz Anderen“ und dem „Verstörenden“ sprechen – und nicht nur als Quelle zur Befriedigung von irgendwelchen spirituellen Bedürfnissen. Paulus fragt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“

Das eigene Leben ist eben ein verdanktes Dasein. Wir müssen verkündigen, was es heißt, als Geschöpf Gottes und aus Dankbarkeit heraus zu leben. Deswegen verstehe ich nicht, wieso der Aspekt der Verkündigung und Seelsorge in so einem Strategiepapier nicht deutlicher hervorgehoben wird. Denn diese Zusammenhänge werden dann verständlich, wenn der Sinn der Rede von der Sünde deutlich gemacht wird: Die Welt und der Mensch sind erlösungsbedürftig, weil sie von Hause aus in einer zutiefst gestörten Beziehung zu Gott stehen. Vieles, was das Leben zerstört, hat damit zu tun, dass der Mensch Versöhnung mit Gott braucht. Das ist ein dezidiert religiöses Thema – und es genügt daher nicht, einfach nur gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen. Das gehört unbedingt dazu, ist aber nicht das Zentrum.

Was ist denn das Zentrum?

Das Zentrum ist, dass der Mensch eine intakte Gottesbeziehung braucht – auch wenn das hausbacken klingen mag. Wenn die Kirche nicht mehr plausibel machen kann, was mit Sünde gemeint ist und warum der Mensch überhaupt Vergebung und Erlösung braucht, dann brauche ich auch keine Kirche.

„Das eigene Leben ist ein verdanktes Dasein. Wir müssen verkündigen, was es heißt, als Geschöpf Gottes und aus Dankbarkeit heraus zu leben.“

Wenn man sich die Verlautbarungen der Kirche – zumindest ab einer gewissen Leitungsebene – anhört, klingen Ihre Sätze nicht hausbacken, sondern eher ungewöhnlich. Auf katholischer Seite fallen solche Worte öfter.

Ich sage es ganz schlicht, wie Paulus es ausdrückt: „Gott hat die Welt mit sich versöhnt.“ Das muss man gar nicht frömmelnd oder evangelikal ausdrücken, in dem Sinne: „Jesus ist auch für dich gestorben.“ Da antworten dann manche: „Na, das hätte er jetzt für mich aber wirklich nicht machen müssen.“ Im Grunde geht es trotzdem darum, obwohl ich nun wirklich kein evangelikaler Christenmensch bin: Es ist die steile These des Evangeliums von der Versöhnung Gottes mit der Welt. Diese Erlösungsbedürftigkeit spüren heute viele Menschen nicht. Doch es gibt sie. Etwa da, wo wir von einer tiefsitzenden Lebensangst umgetrieben werden.

In unserer Gesellschaft ist das zum Beispiel die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Wir sind eine durch und durch „tribunalisierte“ Gesellschaft, so hat es der Philosoph Odo Marquard genannt. Das Weltgericht findet täglich statt: Jeder urteilt über andere, in den Medien finden öffentliche Prozesse statt, alle ziehen übereinander her. Nicht nur im Netz, sondern auch auf dem Schulhof, wo sich die Jugendlichen fragen, ob sie überhaupt noch angesagt sind. Es herrscht eine stille Verzweiflung. Wir leben im Zeitalter des Narzissmus und ständig herrscht die Angst, nicht beachtet zu werden. Wir wollen aber wenigstens die 15 Minuten Promi-Aufmerksamkeit haben, die uns Andy Warhol prognostiziert hat und die sich heute in den sozialen – oder asozialen – Medien niederschlagen. Wenn man in diesem Kontext von der Beziehung zu Gott spricht, können Menschen auch heute nachvollziehen, was es heißt, erlösungsbedürftig zu sein.

Das klingt wieder nach der innerweltlichen Deutung des Glaubens, die Sie eben kritisiert haben. Humanisten können auch sagen: Du bist als Mensch wertvoll – aber um das zu glauben, brauchst du keinen Gott.

Es mag naiv klingen, aber mir geht es nicht darum, um jeden Preis nach einem öffentlichen Schaukampf mit einem säkularen Humanisten mit mindestens Eins zu Null in der Verlängerung vom Platz zu gehen. Sondern ich sage, was ich zu sagen habe – und setze dann auf die Selbstdurchsetzungskraft des Wortes. Nicht meines Wortes, sondern des Evangeliums. Bei Predigten sage ich: „Ich habe den Text auf diese Weise verstanden“ und nicht: „So ist es.“ Wir müssen mehr Wert auf die Glaubenssprache legen. Manche fordern, wir müssten vor allem peppiger reden: Jesus und seine Jünger, das sei eine Gang von Rappern gewesen, das klinge doch gleich cooler. Darum geht es aber nicht, sondern darum: Verstehen wir eigentlich noch, was in der Bibel steht: Sünde, Vergebung, Erlösung, Versöhnung? Häufig werden dann Metaphern bemüht, etwa bei der Auferstehung: „Morgens stehen wir auch alle auf, und dann sind wir wieder ganz tapfer.“ Stattdessen geht es darum, sich um den Kern des Glaubens zu bemühen, ihn zu pflegen und sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen. Danach kann man schauen, welche Gemeindestrukturen in welcher Form um des Evangeliums willen erhalten bleiben müssen.

Ihre Kritik zielt also nicht nur auf die Leitsätze des Zukunftspapiers, sondern auf die Kirche an sich. Wenn man an Dinge wie Ostern, Auferstehung oder Jüngstes Gericht im traditionellen Sinne nicht glaubt, warum sollte man sie dann in Leitsätze packen?

Die Leitsätze sind für mich nur ein Symptom für einen bestimmten Zustand. Davon bin ich auch nicht ausgenommen. Verstehen Sie mich bitte recht. Ich spreche hier nicht als jemand, der vom hohen Ross herab über andere herziehen will. Das liegt mir fern. Ich weiß es nicht besser als andere, sondern bin ebenfalls Teil dieser Kirche. Auch ich muss mich fragen, was ich selber – ob im Hörsaal oder auf der Kanzel – dazu beigetragen habe, dass ein solches Papier entstehen konnte. Das „Wachsen gegen den Trend“ im Papier „Kirche der Freiheit“ führte auch nur in den Burnout, weil die Verantwortlichen Verrenkungen machten, die aber zu nichts führten. Wir brauchen Gelassenheit im Sinne eines echten Gottvertrauens.

Lange schwamm die Kirche noch im Geld. Durch die Kurzarbeit während Corona sind viele Einnahmen weggebrochen. Langfristig wird es einen radikalen Wandel geben, weil mehr Menschen sterben, als neue hinzukommen. Wo soll die Kirche den Rotstift ansetzen?

Das ortsgemeindliche Leben ist das A und O der Kirche, darauf kann man nicht verzichten. In urbanen Gegenden mag es funktionieren, dass einzelne kirchliche Leuchtturmprojekte genügen, aber in ländlichen Regionen braucht es die buchstäbliche Kirche im Dorf. In dem Zusammenhang ist es verblüffend, dass von der Pfarrerschaft in diesem Papier überhaupt nicht die Rede ist. Für viele Menschen ist der Pfarrer oder die Pfarrerin das Gesicht der Kirche. Ehrenamtliche müssen wertgeschätzt, gefördert, aber nicht überfordert werden. Im Papier gibt es ein Problem: Einerseits kündigt die EKD an, Institutionen und Referate zu Spezialthemen abzubauen, andererseits schlägt sie einen zentralistischen Ton an. Sie bittet die Landeskirchen, zu überlegen, was sie abgeben können. Der Öffentlichkeitsauftrag soll nicht beschnitten werden, aber reden soll dann nur noch das kirchliche Leitungspersonal.

Der Theologe Jürgen Moltmann sprach vor Jahren von der Zukunft der Kirche als „Freiwilligkeitskirche“. Das wäre eine epochale Veränderung.

Wir brauchen so etwas wie eine weltoffene Theologie der Diaspora. Dazu habe ich auch ein Papier mit initiiert. Die Diaspora ist die Grundsituation christlichen Glaubens in der Welt, das war schon im Neuen Testament so. Das sollte man mit einer volkskirchlichen niederschwelligen Mentalität verbinden. Eine höhere Autonomie der Ortsgemeinde wie bei Freikirchen hört sich auf den ersten Blick gut an, aber es droht dabei auch die Gefahr des Separatismus und der Entsolidarisierung, etwa wenn Ortsgemeinden sich vor allem durch Spenden finanzieren würden. Die Frage ist dann auch, welche Spenden man annehmen würde. Auch die eines Waffenherstellers? Wir müssen die Gemeindeebene trotzdem stärken.

In welcher Form wird es die Kirche in 30 Jahren noch geben?

Meine Horrorvision wären holländische Verhältnisse, wo die Volkskirche auf 15 Prozent der Bevölkerung geschrumpft ist. Die Kirchen müssen sich darauf einstellen, Kirche der Diaspora zu sein. Nicht nur in dem Sinne, dass Christen zur Minderheit wird. Sondern dass der Glaube der Welt auch immer ein Stück fremd bleibt. Das wandernde Gottesvolk hat hier keine bleibende Stadt. Aber es muss dabei der Welt zugewandt sein und seinen Öffentlichkeitsauftrag weiter ausfüllen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Wenn man sich die Verlautbarungen der Kirche – zumindest ab einer gewissen Leitungsebene – anhört, klingen Ihre Sätze nicht hausbacken, sondern eher ungewöhnlich. Auf katholischer Seite fallen solche Worte öfter.

Ich sage es ganz schlicht, wie Paulus es ausdrückt: „Gott hat die Welt mit sich versöhnt.“ Das muss man gar nicht frömmelnd oder evangelikal ausdrücken, in dem Sinne: „Jesus ist auch für dich gestorben.“ Da antworten dann manche: „Na, das hätte er jetzt für mich aber wirklich nicht machen müssen.“ Im Grunde geht es trotzdem darum, obwohl ich nun wirklich kein evangelikaler Christenmensch bin: Es ist die steile These des Evangeliums von der Versöhnung Gottes mit der Welt. Diese Erlösungsbedürftigkeit spüren heute viele Menschen nicht. Doch es gibt sie. Etwa da, wo wir von einer tiefsitzenden Lebensangst umgetrieben werden.

In unserer Gesellschaft ist das zum Beispiel die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Wir sind eine durch und durch „tribunalisierte“ Gesellschaft, so hat es der Philosoph Odo Marquard genannt. Das Weltgericht findet täglich statt: Jeder urteilt über andere, in den Medien finden öffentliche Prozesse statt, alle ziehen übereinander her. Nicht nur im Netz, sondern auch auf dem Schulhof, wo sich die Jugendlichen fragen, ob sie überhaupt noch angesagt sind. Es herrscht eine stille Verzweiflung. Wir leben im Zeitalter des Narzissmus und ständig herrscht die Angst, nicht beachtet zu werden. Wir wollen aber wenigstens die 15 Minuten Promi-Aufmerksamkeit haben, die uns Andy Warhol prognostiziert hat und die sich heute in den sozialen – oder asozialen – Medien niederschlagen. Wenn man in diesem Kontext von der Beziehung zu Gott spricht, können Menschen auch heute nachvollziehen, was es heißt, erlösungsbedürftig zu sein.

Das klingt wieder nach der innerweltlichen Deutung des Glaubens, die Sie eben kritisiert haben. Humanisten können auch sagen: Du bist als Mensch wertvoll – aber um das zu glauben, brauchst du keinen Gott.

Es mag naiv klingen, aber mir geht es nicht darum, um jeden Preis nach einem öffentlichen Schaukampf mit einem säkularen Humanisten mit mindestens Eins zu Null in der Verlängerung vom Platz zu gehen. Sondern ich sage, was ich zu sagen habe – und setze dann auf die Selbstdurchsetzungskraft des Wortes. Nicht meines Wortes, sondern des Evangeliums. Bei Predigten sage ich: „Ich habe den Text auf diese Weise verstanden“ und nicht: „So ist es.“ Wir müssen mehr Wert auf die Glaubenssprache legen. Manche fordern, wir müssten vor allem peppiger reden: Jesus und seine Jünger, das sei eine Gang von Rappern gewesen, das klinge doch gleich cooler. Darum geht es aber nicht, sondern darum: Verstehen wir eigentlich noch, was in der Bibel steht: Sünde, Vergebung, Erlösung, Versöhnung? Häufig werden dann Metaphern bemüht, etwa bei der Auferstehung: „Morgens stehen wir auch alle auf, und dann sind wir wieder ganz tapfer.“ Stattdessen geht es darum, sich um den Kern des Glaubens zu bemühen, ihn zu pflegen und sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen. Danach kann man schauen, welche Gemeindestrukturen in welcher Form um des Evangeliums willen erhalten bleiben müssen.

Ihre Kritik zielt also nicht nur auf die Leitsätze des Zukunftspapiers, sondern auf die Kirche an sich. Wenn man an Dinge wie Ostern, Auferstehung oder Jüngstes Gericht im traditionellen Sinne nicht glaubt, warum sollte man sie dann in Leitsätze packen?

Die Leitsätze sind für mich nur ein Symptom für einen bestimmten Zustand. Davon bin ich auch nicht ausgenommen. Verstehen Sie mich bitte recht. Ich spreche hier nicht als jemand, der vom hohen Ross herab über andere herziehen will. Das liegt mir fern. Ich weiß es nicht besser als andere, sondern bin ebenfalls Teil dieser Kirche. Auch ich muss mich fragen, was ich selber – ob im Hörsaal oder auf der Kanzel – dazu beigetragen habe, dass ein solches Papier entstehen konnte. Das „Wachsen gegen den Trend“ im Papier „Kirche der Freiheit“ führte auch nur in den Burnout, weil die Verantwortlichen Verrenkungen machten, die aber zu nichts führten. Wir brauchen Gelassenheit im Sinne eines echten Gottvertrauens.

Lange schwamm die Kirche noch im Geld. Durch die Kurzarbeit während Corona sind viele Einnahmen weggebrochen. Langfristig wird es einen radikalen Wandel geben, weil mehr Menschen sterben, als neue hinzukommen. Wo soll die Kirche den Rotstift ansetzen?

Das ortsgemeindliche Leben ist das A und O der Kirche, darauf kann man nicht verzichten. In urbanen Gegenden mag es funktionieren, dass einzelne kirchliche Leuchtturmprojekte genügen, aber in ländlichen Regionen braucht es die buchstäbliche Kirche im Dorf. In dem Zusammenhang ist es verblüffend, dass von der Pfarrerschaft in diesem Papier überhaupt nicht die Rede ist. Für viele Menschen ist der Pfarrer oder die Pfarrerin das Gesicht der Kirche. Ehrenamtliche müssen wertgeschätzt, gefördert, aber nicht überfordert werden. Im Papier gibt es ein Problem: Einerseits kündigt die EKD an, Institutionen und Referate zu Spezialthemen abzubauen, andererseits schlägt sie einen zentralistischen Ton an. Sie bittet die Landeskirchen, zu überlegen, was sie abgeben können. Der Öffentlichkeitsauftrag soll nicht beschnitten werden, aber reden soll dann nur noch das kirchliche Leitungspersonal.

Der Theologe Jürgen Moltmann sprach vor Jahren von der Zukunft der Kirche als „Freiwilligkeitskirche“. Das wäre eine epochale Veränderung.

Wir brauchen so etwas wie eine weltoffene Theologie der Diaspora. Dazu habe ich auch ein Papier mit initiiert. Die Diaspora ist die Grundsituation christlichen Glaubens in der Welt, das war schon im Neuen Testament so. Das sollte man mit einer volkskirchlichen niederschwelligen Mentalität verbinden. Eine höhere Autonomie der Ortsgemeinde wie bei Freikirchen hört sich auf den ersten Blick gut an, aber es droht dabei auch die Gefahr des Separatismus und der Entsolidarisierung, etwa wenn Ortsgemeinden sich vor allem durch Spenden finanzieren würden. Die Frage ist dann auch, welche Spenden man annehmen würde. Auch die eines Waffenherstellers? Wir müssen die Gemeindeebene trotzdem stärken.

In welcher Form wird es die Kirche in 30 Jahren noch geben?

Meine Horrorvision wären holländische Verhältnisse, wo die Volkskirche auf 15 Prozent der Bevölkerung geschrumpft ist. Die Kirchen müssen sich darauf einstellen, Kirche der Diaspora zu sein. Nicht nur in dem Sinne, dass Christen zur Minderheit wird. Sondern dass der Glaube der Welt auch immer ein Stück fremd bleibt. Das wandernde Gottesvolk hat hier keine bleibende Stadt. Aber es muss dabei der Welt zugewandt sein und seinen Öffentlichkeitsauftrag weiter ausfüllen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Nicolai Franz

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