„Finde Ruhe, George! Du hast die Welt verändert.“

Am Dienstag ist der bei einer gewaltsamen Festnahme getötete George Floyd beerdigt worden. Schon am vergangenen Donnerstag hatte der Prediger und Bürgerrechtler Al Sharpton auf einem Gedenkgottesdienst in Minneapolis eine bemerkenswerte Trauerrede gehalten. Das Christliche Medienmagazin pro dokumentiert sie in gekürzter Form.
Von Nicolai Franz
In der Chicago Avenue in Minneapolis haben viele Menschen Blumen in Gedenken an George Floyd niedergelegt

Ich will, dass wir nicht hier sitzen und denken, das sei eine gewöhnliche Beerdigung. George Floyd dürfte nicht tot sein. Er starb nicht an einer Krankheit, sondern an einer Fehlfunktion der Strafjustiz. Er starb, weil es am richtigen Verhalten fehlte, das in diesem Land gelehrt wird: Wenn du ein Verbrechen begangen hast, ist es egal, ob du eine blaue Jeans oder eine blaue Uniform trägst – du musst für deine Verbrechen bezahlen.

Ich sah neulich jemanden vor einer Kirche stehen, nachdem es zu Gewalt gekommen war. Er hielt eine Bibel in seiner Hand. Ich predige seit meiner Kindheit, doch ich habe noch nie jemanden eine Bibel auf diese Weise halten sehen – aber gut. Falls er heute zuschaut, würde ich ihn bitten, diese Bibel einmal zu öffnen. Und Prediger 3 zu lesen: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“

Wer sich die Straßen in diesem Land, in Europa und der ganzen Welt anschaut, sollte wissen, in welcher Zeit wir gerade leben.

Zunächst: Wir dürfen die Bibel nicht als Requisite benutzen. Und denjenigen, die eine andere Agenda als die der Gerechtigkeit verfolgen, sei gesagt: Diese Familie hier wird nicht zulassen, dass ihr George als Requisite benutzt.

Viel zu viele Menschen kommen damit durch, wenn sie etwas vertuschen. Ich bin in Brownsville aufgewachsen. Wir hatten Kakerlaken. Es gibt etwas, das man über Kakerlaken wissen muss: Wenn du das Licht auslässt, wird eine Kakerlake deinen Essenstisch hochkrabbeln und sich ein Fünf-Gänge-Menü gönnen. Wenn du aber das Licht anschaltest, dann kannst du ihnen hinterherlaufen und sie aufspüren. Und damit habe ich mein ganzes Leben in diesem Land zugebracht: Kakerlaken zu jagen.

„Nehmt euer Knie von unserem Nacken!“

Als ich mit Georges Familie sprach, hörte ich, dass seine letzten Worte „I can’t breathe“ („Ich kann nicht atmen“) waren, während er ein Knie im Nacken hatte. Ich kam letzten Donnerstag hier an. Als ich an der Stelle stand, packte mich ein Gedanke: George Floyds Geschichte ist die Geschichte der Schwarzen. Denn seit 401 Jahren ist der Grund dafür, dass wir nie die sein konnten, die wir sein wollten, dass ihr euer Knie in unserem Nacken habt.

  • Wir waren schlauer als die verwahrlosten Schulen, in die ihr uns gesteckt habt. Aber ihr hattet euer Knie in unserem Nacken.

  • Wir konnten Unternehmen führen, anstatt uns auf der Straße herumzutreiben. Aber ihr hattet euer Knie in unserem Nacken.

  • Wir hatten kreative Fähigkeiten, wir konnten tun, was jeder andere auch konnte, aber ihr konntet euer Knie nicht von unserem Nacken nehmen.

Was George Floyd zugestoßen ist, geschieht jeden Tag in diesem Land, in den Schulen, im Gesundheitssystem und in jedem Bereich des amerikanischen Lebens. Es ist Zeit, in Georges Namen aufzustehen und zu sagen: Nehmt euer Knie von unserem Nacken!

Wir dachten, dass vielleicht wir das Problem sind. Aber sogar bei den Schwarzen, die den Durchbruch geschafft haben, habt ihr das Knie nicht von unseren Nacken genommen:

  • Michael Jordan gewann alle möglichen Titel, und ihr habt bei ihm nach Schmutz gegraben, weil ihr uns euer Knie in den Nacken halten musstet.

  • Weiße Hausfrauen schauten gerne die Sendung einer schwarzen Frau im Fernsehen, Oprah Winfrey. Aber ihr legtet euch trotzdem mit ihr an, weil ihr euer Knie nicht aus unserem Nacken nehmen könnt.

  • Der Sohn einer alleinerziehenden Mutter erarbeitet sich Bildung und steigt zum Präsidenten der Vereinigten Staaten auf. Und ihr fragt ihn nach seiner Geburtsurkunde – weil ihr euer Knie nicht aus unserem Nacken nehmen könnt.

Der Grund, warum wir durch die Straßen marschieren, ist: Wir sind wie George. Wir konnten nicht atmen. Nicht weil mit unseren Lungen etwas nicht stimmte, sondern weil ihr euer Knie nicht aus unserem Nacken nahmt. Wir wollen keine Gefälligkeiten! Lasst einfach ab von uns! Dann können wir sein und tun, was wir sein und tun wollen.

Es gab weltweite Proteste. Manche Menschen haben geplündert. Niemand in dieser Familie duldet Plünderungen oder Gewalt. Doch eine Sache sollten wir bedenken: Es gibt einen Unterschied zwischen denen, die nach Frieden rufen – und denen, die nach Ruhe rufen. Manche von euch wollen keinen Frieden. Sondern Ruhe. Ihr wollt, dass wir die Klappe halten und stumm leiden.

Die überwältigende Mehrheit der Demonstranten wollte keine Fenster einschlagen. Sondern sie wollten Mauern einreißen. Sie wollten nichts stehlen, sondern sich die Gerechtigkeit zurückholen, die ihr uns gestohlen habt. Die, die das Gesetz gebrochen haben, sollen dafür zahlen. Doch dasselbe gilt für die Polizisten, ohne die es diese Beerdigung nicht gäbe.

Wir haben kein Problem damit, Gewalt zu verurteilen, Mr. Governor. Wir haben kein Problem, Mr. Mayor, Plünderungen zu verurteilen. Aber es scheint so, als habe die Strafjustiz ein Problem damit, ein Video anzuschauen und einfach zu erkennen, dass es einen hinreichenden Verdacht (für den Tathergang; Anm. d. Red.) gibt und dass es sehr lange dauert, bis ihr endlich das tut, was ihr tun müsst.

Mehr Hoffnung als je zuvor

Im Zusammenhang mit der Strafjustiz habe ich schon viele Reden, auch Trauerreden gehalten auf den meisten der Beerdigungen, die wir in Verbindung damit in den vergangenen Jahrzehnten hatten, habe Märsche angeführt und getan, was wir tun mussten. Ich sehe hier Martin III. (der anwesende Sohn von Martin Luther King, Jr.; Anm. d. Red.). Wir saßen zusammen im Gefängnis, als wir diese Kämpfe ausgefochten haben, so wie sein Vater schon vorher.

Aber ich habe heute mehr als je zuvor Hoffnung. Und damit komme ich auf unseren Text im Buch der Prediger zurück: „Alles hat seine Zeit und seine Stunde.“ Wenn ich dieses Mal sehe, wie auf manchen Märschen mehr junge Weiße als Schwarze waren, dann weiß ich: Es ist „eine andere Zeit und eine andere Stunde“. Als ich sah, dass Menschen in Deutschland für George Floyd auf die Straße gingen, ist das „eine andere Zeit und eine andere Stunde“. Als sie vors Parlament in London, England, zogen und sagten: „Es ist eine andere Zeit und eine andere Stunde“, dann sage ich euch: Amerika, dies ist die Zeit, in der Strafjustiz für Rechenschaft zu sorgen.

Ein weißes Mädchen überrascht den Pastor

Vor Jahren ging ich auf einen Marsch, und eine junge weiße Frau sagte mir ins Gesicht: „Nigger, geh nach Hause.“ Als ich letzten Donnerstag hier auf dem Weg zum Flughafen war, hielt ich neben dem Polizeirevier an und sprach mit einem Reporter. Da schaute mich ein höchstens elf Jahre altes weißes Mädchen an und zog an meinem Sakko. Ich schaute mich um und wappnete mich auf das, was nun kommen sollte. Doch sie schaute mich an und sagte: „No justice, no peace“ (keine Gerechtigkeit, kein Friede).

Es ist eine andere Zeit! Und eine andere Stunde!

Vorigen Oktober habe ich mich wegen der Zeitumstellung bei einem Termin verspätet. Meine Uhr war noch auf die falsche Zeit, eine Stunde zu spät, eingestellt. Ihr Kongressabgeordneten, wenn ihr nicht eure Uhren umstellt, werdet ihr eine Stunde zu spät dran sein, nicht weil eure Uhr falsch geht, sondern weil ihr sie nicht vorgestellt habt. Ich bin gekommen, um denen in Washington zu sagen, die über eine Militarisierung des Landes sprechen, die denken, sie könnten denen drohen, die genug von den Übergriffen haben: Ihr könnt zwar ins Fernsehen kommen, aber ihr tretet zur falschen Zeit auf! Die Zeit ist vorbei, in der ihr euch der Rechenschaft entziehen konntet! Die Zeit für eure Ausreden ist vorbei, die Zeit für eure Verzögerungstaktiken ist vorbei, für leere Worte und Versprechen, für eure Blockaden und eure Versuche, den Arm des Gesetzes aufzuhalten! Dies ist die Zeit, in der wir nicht aufhören, bis wir das ganze Justizsystem geändert haben!

Am 28. August ist das 57. Jubiläum des Marsches in Washington. Wir gehen dorthin zurück, Martin. Dort stand dein Vater im Schatten des Lincoln Memorial und sagte: „I have a dream.“ Wir gehen diesen August zurück dorthin, um diesen Traum wiederzubeleben, uns neu dazu zu bekennen und aufzustehen. In der einen Ära kämpften wir gegen die Sklaverei, in einer anderen mussten wir gegen Jim Crow (Die „Jim Crow Laws“ waren Gesetze, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts die Rassentrennung in den Südstaaten festlegten; Anm. d. Red.) kämpfen, in einer anderen Ära erkämpften wir uns das Wahlrecht. In der heutigen Ära geht es um das Verhalten der Polizei und der Strafjustiz. Wir müssen zurück nach Washington, um aufzustehen, Schwarze, Weiße, Latinos, Araber, um im Schatten Lincolns zu sagen: Dies ist die Zeit, diese Ungerechtigkeit zu stoppen!

George Floyd rief nach seiner Mutter

Am Schluss will ich über die religiöse Seite sprechen. Ich erinnere mich, dass ich beschämt war, als ich las, dass George in seinem Leid nach seiner Mama gerufen hatte. Ich rief seinen Bruder an und fragte, ob ich mit seiner Mutter sprechen kann. Aber er sagte, seine Mutter sei gestorben. Aber er hat doch nach ihr gerufen!

Ich habe damit gerungen, denn ich wurde von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen. Manchmal waren unsere Mütter das einzige, was zwischen uns und unseren Herausforderungen stand. Sie waren die einzigen, die drohende Gefahren bannen konnten, die einzigen, die dafür sorgten, dass Essen auf dem Tisch stand. Daher weiß ich, warum George nach seiner Mama gerufen hat.

„Gott sitzt immer noch auf dem Thron“

Meine Mutter starb vor acht Jahren, aber ich versuche immer noch, mit ihr zu sprechen. Manchmal rufe ich ihr Handy an, nur um ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören. Quincy, eines von Georges fünf Kindern, sagte, vielleicht habe er nach seiner Mutter gerufen, weil sie in der Stunde seines Todes ihre Hände ausgestreckt und gesagt hat: „Komm, George, du bist hier willkommen, wo das Böse vergeht, wo die Bedrückten Ruhe finden.“

Es gibt einen Ort, wo die Polizei nicht ihre Knie in deinen Nacken drückt, George! Es gibt einen Ort, wo die Staatsanwälte nicht trödeln. Vielleicht hat Mama gesagt: „Komm, George, es gibt einen Gott, der immer noch hoch oben sitzt. Aber er schaut nach unten und er wird aus dem Nichts einen Weg bahnen. Dieser Gott sitzt immer noch auf dem Thron.“

Vertrauen auf Gottes heiliges Wort

Vor einigen Jahren sagte Reverend Jesse Jackson: „Haltet die Hoffnung aufrecht.“ Präsident Obama hat ein Buch über Hoffnung geschrieben. Ich habe die Hoffnung in meinem Leben manchmal schon aufgegeben. Aber es gibt eine Schwester der Hoffnung, das ist der Glaube. Glaube ist die Grundlage von allem, worauf wir hoffen, und ein Nichtzweifeln an dem, was wir nicht sehen. Glaube ist, wenn du einen Stapel Rechnungen, aber kein Geld hast, du aber trotzdem sagst, dass er dich versorgen wird. Glaube ist, wenn du keine Medizin im Schrank hast, während du krank bist, und du sagst: Er ist der Arzt, der noch keinen Patienten verloren hat. Er wird meine Tränen abwischen.

Wir sind nicht durch Glück oder irgendeinen Glauben so weit gekommen. Sondern durch den Glauben an den Herrn, im Vertrauen auf sein heiliges Wort, mit dem er mich noch niemals, niemals hat hängen lassen.

Gott wird einen Weg für seine Kinder bahnen. Geh nach Hause, George! Finde Ruhe, George! Du hast die Welt verändert. Wir werden weitermarschieren. Wir werden weiterkämpfen.

Von: Nicolai Franz

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