Auch Missbrauchstäter dürfen um Vergebung bitten

Ein katholischer Pfarrer predigt über Vergebung für Täter von sexuellem Missbrauch, im Gottesdienst gibt es einen Eklat. Lag er so daneben? Jesus hatte noch radikalere Positionen zu dem Thema. Ein Kommentar von Jonathan Steinert
Von PRO
Die Bitte um Vergebung hat eng damit zu tun, das Böse nicht tun zu wollen und es zu bereuen

Muss man Missbrauchstätern vergeben? Der katholische Pfarrer Ulrich Zurkuhlen darf in Münster nicht mehr predigen, weil er genau das gefordert hatte. Er erklärte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) seine Position, die im Gottesdienst zu einem Eklat geführt hatte: „Mein Thema war Vergebung. Dabei habe ich auch sinngemäß die Bemerkung gemacht, dass es gut oder nötig wäre, dass Verantwortliche der Kirche allmählich den sogenannten Verbrechern ein Wort der Vergebung schenken sollten.“ Den genauen Wortlaut seiner Predigt wisse er nicht mehr, da er frei gesprochen habe.

„Man kann theologisch gesehen auch Priestern vergeben, die sich an Minderjährigen vergangen haben“, sagte er. Diesen Gedanken habe er in seiner Predigt weiter ausführen wollen, aber das sei im Aufschrei der Gottesdienstbesucher untergegangen, sodass er habe abbrechen müssen. Rund 70 Besucher und Sänger des Chores hätten die Heilig-Geist-Kirche verlassen. „Vergebung gilt auch für jeden, der schuldig geworden ist.“ Eine strafrechtliche Aufarbeitung der Fälle von Missbrauch Minderjähriger in der Kirche sei davon unabhängig, machte Zurkuhle gegenüber der dpa seinen Punkt.

Der leitende Pfarrer der Pfarrei, zu der die Gemeinde gehört, ist anderer Auffassung: „Kein Täter hat ein Recht auf Vergebung“, sagte Stefan Rau. Ist das so?

Wer ist ohne Sünde?

Tatsächlich ist Vergebung ein zentrales Thema in der Bibel: Petrus fragte Jesus, wie oft er vergeben müsse, wenn ihm jemand geschadet hat: „‚Ist’s genug siebenmal?‘ Jesus sprach zu ihm: ‚Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.‘“ (Matthäus 18,21–22). Damit meint Jesus nicht eine konkrete Anzahl von Vergebungsakten, sondern: immer wieder.

Direkt im Anschluss macht Jesus im Gleichnis vom sogenannten Schalksknecht deutlich, dass sich jeder Mensch an anderen versündigt. Keiner ist ohne Schuld – das führt Jesus den heutigen Bibellesern und seinen damaligen Zeitgenossen beschämend eindrucksvoll vor Augen, als diese eine in flagranti ertappte Frau anschleppten. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“, sagte er nur.

Jeder Mensch ist also immer wieder auf Vergebung angewiesen und soll sie daher auch anderen erweisen. Und noch entscheidender: Jeder Mensch ist auf die Gnade Gottes angewiesen. Keiner könnte seinen heiligen Ansprüchen gerecht werden und ihn mit sozialem Engagement, ehrenamtlichem oder hauptberuflichem Dienst in der Kirche oder durch sonstigen frommen Lebenswandel beeindrucken. Jeder Mensch ist vor Gott fehlbar und unvollkommen. „Jesus nimmt die Sünder an“, heißt es in einem alten Kirchenlied. Das ist Gnade, das ist die Botschaft des Evangeliums.

Vergebung hat mit Reue zu tun

Deshalb hängt Jesus auch die zwischenmenschliche Vergebung so hoch. Wer Gnade erfahren hat, soll selbst gnädig sein. Jesus knüpft daran sogar die Vergebung Gottes – was zunächst wie ein Widerspruch zu Gottes bedingungsloser Gnade wirkt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6,14–15).

Diese Aussage von Jesus stammt aus der Bergpredigt, seiner wohl wichtigsten Rede. Dort sagt er das im Zusammenhang mit dem Vaterunser: Jesus erklärt seinen Jüngern, wie sie beten, und warum sie das so tun sollen. Zu diesem Gebet gehört die Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Das beten Christen aller Konfessionen. Weiter geht es übrigens so: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“

Die Bitte um Vergebung hat also ganz eng damit zu tun, das Böse nicht tun zu wollen. Und wenn es doch dazu kam, es zu bereuen. „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“, schreibt der Apostel Johannes in seinem ersten Brief (Kapitel 1,9).

Kirche muss Vergebung predigen

So gesehen stimmt es: Ein Recht auf Vergebung hat man nicht. Dass Gott vergibt, ist Gnade. Auch von anderen Menschen lässt sie sich nicht einfordern. Aber jeder darf darum bitten. Auch Priester, die Kinder misshandelt haben. Was natürlich nicht heißt, dass ihre Taten damit ohne Konsequenzen bleiben sollen. Menschlich gesehen widerstrebt es einem. So etwas zu vergeben scheint eine menschenunmögliche, nicht zumutbare Aufgabe. Hat Jesus zu viel verlangt?

Das ist kaum zu beantworten, ohne selbst Opfer zu sein. Auf jeden Fall ist gegenseitige Vergebung existenziell für das Miteinander und sicherlich auch für die eigene seelische Verfassung. Das bestätigen auch Psychologen. Im Fall dieser Eklat-Predigt ist eine Beurteilung schwierig, wenn man nicht dabei war. Natürlich hat es einen seltsamen Beigeschmack, wenn ein Kleriker sagt, es sei Zeit, seinen Kollegen zu vergeben. Und natürlich sind Missbrauchstäter Kriminelle und nicht nur „sogenannte Verbrecher“. Es stellt sich die Frage nach Reue, nach Buße. Auch seelsorgerlich war der Bezug auf Missbrauch womöglich deplatziert.

Wenn die Kirche keine Vergebung mehr predigte, könnte sie ihren Laden zumachen. Das Ideal der Vergebung entspricht dem Kern der biblischen Botschaft. Aber gerade im Kontext von sexuellem Missbrauch und anderen schlimmen Leiderfahrungen ist größte Behutsamkeit, Einfühlung und Demut gefragt. Denn Menschen mit einer theologischen Wahrheit zu erschlagen, wird ihren Glauben nicht stärken.

Anmerkung: Pfarrer Ulrich Zurkuhlen hat sich später, nachdem dieser Kommentar veröffentlicht wurde, gegenüber dem WDR relativierend über den Missbrauch in der Kirche geäußert. Daraufhin hat Bischof Felix Genn ihn in den Ruhestand versetzt und ihm den Dienst als Seelsorger, die öffentliche Zelebration der Messe und die Predigt verboten, ebenso soll sich Zurkuhlen nicht mehr öffentlich zum Thema äußern.

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