Die Menschenrechte sind Frucht des säkularisierten Christentums

Die Debatte um die Urheberschaft der Menschenrechte, wie sie in der westlichen Moderne festgeschrieben wurde, tobt weiter: Sind sie gegen die Religion entstanden oder mit ihrer Hilfe? Der Versuch einer Antwort von Gastautor Alexander Görlach.
Von Anna Lutz
Alexander Görlach ist Gastwissenschaftler an der Harvard University, wo er am Center for European Studies und der Divinity School im Bereich Politik und Religion forscht. Der promovierte Linguist und Theologe ist auch Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Relations und ein Autor für die New York Times.

Sind die Menschenrechte christlichen Ursprungs oder sind sie es nicht? Diese Frage wird immer wieder diskutiert, meistens, ohne dabei in der Sache zu argumentieren, sondern die Pfründe der jeweiligen Gruppe zu sichern, die für sich die Urheberschaft auf die Menschenrechte der Aufklärungsepoche reklamiert. Dabei geht es bei den Menschenrechten nicht um eine Institution, die im Widerstreit mit einer anderen per Dekret die Menschenrechte erlassen oder qua Offenbarung aufgefunden hätte. Der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehen Jahrhunderte der Philosophie- und Geistesgeschichte voraus. Ihr In-die-Welt-treten ist mit konkreten geschichtlichen Ereignissen verbunden, die die Entwicklung und Reife der Denkenden in ein Programm und ein Manifest für künftige Formen des Regierens übersetzte.

Werte der Aufklärung = Werte des Christentums?

Die Rede ist von den Gedanken und Überzeugungen des Humanismus und den politischen Umstürzen der französischen und amerikanischen Revolution. Beide sind eingebettet in die Programmatik dessen, was wir heute die Moderne nennen. Eine Moderne, die gekennzeichnet ist durch eine neue Trennlinie, die die geistlichen und irdischen Dinge voneinander unterscheidet. Mit der Moderne bricht das Zeitalter des Säkularismus an. Es beschreibt den Weg der Annahmen des Denkens weg von einem religiösen zu einem wissenschaftlich-empirischen Weltbild. Die Erzählungen der Moderne bleiben dennoch weiterhin auf das Engste mit der Bild- und Wortsprache des Christentums verbunden. Die christliche Philosophie wird nicht über Nacht vollends überholt oder abgeschlossen. Vielmehr bleibt sie in der einen oder anderen Weise Stichwortgeber für alle Aufklärer und Religionskritiker der europäischen Moderne.

Da die Verflechtung der christlichen Erzählungen in den Bereichen des Geistlichen und des Weltlichen wegen der gemeinsamen Wurzeln bis auf den heutigen Tag in Europa so eng ist, hat bis dato eine abschließende Definition von Religion und Säkularismus verhindert. Daraus folgt, dass, wenn heute von der „Wiederkehr der Religion“ die Rede ist, unklar bleibt, was damit gemeint ist: eine Betonung der Wichtigkeit der Werte des Christentums für unsere Gesellschaft, die in der Debatte um eine Leitkultur und um das Abendland in den Vordergrund drängt? Oder eine Wiederbelebung des kirchlichen, spirituellen Lebens? Für Europa können wir nur vom Ersteren sprechen. Die Werte der Aufklärung werden zumindest bis zu einem gewissen Punkt als Werte des Christentums mit interpretiert und es war schließlich kein anderer als der große Aufklärer deutscher Zunge, Immanuel Kant, der in Religion keinen anderen Wert als den zur ethischen Zurüstung zu moralischem Handeln der menschlichen Person erkennen wollte.

Wer ist Urheber der Menschenrechte?

Das wissenschaftlich-empirische Paradigma hat den vormodernen Primat der theoretischen Spekulation der Theologie und Metaphysik nachhaltig abgelöst. In den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts konstatierte der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Elias Canetti in seinem Meisterwerk „Masse und Macht“ trocken: eine Mobilisierung durch das Christentum werde es in Europa nicht mehr geben, weil die Menschen den Glauben an das Jenseits verloren hätten. Das ist im Bereich des Politischen mehr als richtig beobachtet: Die res publica, der moderne Staat, kennt kein Ziel mehr, das räumlich und zeitlich über ihn hinauswiese, er glaubt an kein summum bonum (höchstes Gut) mehr, das er propagieren würde. Ihm ist lediglich ein inner-zeitliches bonum commune (allgemeines Wohlergehen der Gemeinschaft) vertraut.

Dennoch hat religiöses Sprechen und Denken einen Ort in der Welt der Gegenwart: Der Sprachphilosoph Alfred Jules Ayer (1910–1989) hat sich in seiner akademischen Laufbahn vor allem dem Wunsch gewidmet, metaphysisches Reden als Unsinn zu entlarven. Hier mag ein Gegeneinander von religiösem und säkularem Weltbild anklingen, das ja auch den Hintergrund des Streits über den Ursprung der Menschenrechte bildet, wie eingangs erwähnt.

So simpel denkt Ayer allerdings nicht: Solange Religion keine Seins-Aussagen über die Bestandteile einer objektiv erachteten Wirklichkeit macht, so Ayer, seien ihre Wortbeiträge als legitime poetische Sprachäußerungen zu verstehen und zu gestatten. Geistliches und Weltliches haben demnach ihren Ort, auch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, in der der Himmel gemeinhin, ein Gemeinplatz, als entzaubert gilt. Wenn Religion sich als nicht-wissenschaftliches Sprechen über die Welt und den Menschen legitim äußert, dann sind ihre Überlegungen und Aussagen zum Wesen und Ort des Menschen legitim. Religion, in Ayers Weltsicht, spricht dabei nicht normativ sondern assoziativ. Leistet das Säkulare nun den komplementären Part, teilen sich Welt und Religion die Urheberschaft über die Menschenrechte? So einfach ist es nicht!

Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden

Die großen Identitätsfragen unserer Zeit werden in vielen Teilen der Welt vor allem unter dem Rückgriff auf das religiöse Erbe und die Traditionen des Glaubens, kurz religiöse oder quasi-religiöse Narrative, geführt. Autokraten wie Herr Putin oder Herr Erdogan tun dies: Sie okkupieren das russisch-orthodoxe Christentum und den türkisch-sunnitischen Islam für ihre Herrschaftsansprüche. Dabei sind ihnen die Gläubigen nur so lange recht, wie sie gewillt sind, die Verschränkung von politischer Herrschaft mit der Mehrheitsreligion zu akzeptieren. Sollte jemand aber auf die Idee kommen, dissidentische Abweichung mit dem Glauben an Christentum oder Islam zu begründen, was beides möglich wäre, dann kann es sehr schmerzhaft werden: Prügelattacken, Inhaftierung, Ermordung gar.

In der Türkei waren Ende 2016 rund 80 Journalisten inhaftiert, einer von ihnen der Journalist Deniz Yüzcel, der für die Welt-Gruppe des Axel-Springer-Verlages über die Türkei schreibt. In einem Jahr, in dem weltweit rund 260 Journalisten inhaftiert waren, entfällt somit rund ein Drittel auf den autokratischen Staat, den Recep Erdogan am Bosporus errichtet hat. Schlimmer noch als in der Türkei geht es in Russland zu, wo Journalisten und andere Regimekritiker mitunter auch ermordet werden. Religiös-national verbrämte Narrative, mit denen die Herren Erdogan und Putin ihre Politik rechtfertigen, führen ihre Länder weg vom Modell einer freien, liberalen und aufgeklärten Demokratie. Vielmehr soll durch ihre Propaganda ihre autoritäre Herrschaft als gottgewollt legitimiert werden.

Aber auch die Rhetorik, die zu Brexit und Donald Trump geführt hat, war durchtränkt von herausgebrochenen Versatzstücken aus dem Inventar der Religion: der Glaube an Erwählung zum Beispiel, der die angelsächsische Welt bis heute prägt, und der dem biblischen Glauben an die Erwählung der zwölf Stämme Israels entlehnt ist. Dieser Glaube wurde im Bauch der Mayflower aus der Alten Welt an die Gestade der Neuen gespült. In anderen Teilen des Westens fragen Länder wie Frankreich und Deutschland nach ihrer Identität, ihrer „Leitkultur“, und verwenden Schlagworte wie Christliches Abendland oder jüdisch-christliches Erbe für diese Bestimmung.

Menschenrechte als Frucht christlicher Weltanschauung

Das Christentum der uns vorangegangenen Jahrhunderte hat die Säkularisierung erst ermöglicht, sie ist auf seinem geistigen Fundament gewachsen. Gegen eine natürliche Religion, deren Anhänger sich in archaischer, atavistischer Weise dem Verdikt eifersüchtiger Götter oder den unberechenbaren Kräfte der Natur entziehen möchten, setzt es gegen die totale Jenseitigkeit die Menschwerdung Gottes. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo drückt das in seinem Essay über „Glauben – Philosophieren“ so aus: Das Christentum sei als Opposition zur natürlichen Religion in die Geschichte eingetreten. Die Entäußerung Gottes, auf Griechisch kenosis, ist der Bruch mit dem Aberglauben der Vorzeit an Opfergaben und Schicksal. Eine säkulare Welt ist die Konsequenz dieser Entäußerung, eine Welt, die nicht von Abergläubischem bestimmt wird, sondern von Empirisch-Rationalem.

Christus wird in dieser Lesart zu einem Paten von Humanismus und Aufklärung, in einer gewissen Überhöhung, sogar zu deren Urheber. Denn die Erkenntnis der Menschenrechte, die Ablehnung von Krieg, der soziale Gedanke, sind für Vattimo allesamt Früchte der innerweltlichen, auf den Menschen bezogenen Verankerung der christlichen Weltanschauung.

Aufklärung von Ansprüchen und Widersprüchen des Christentums inspiriert

Aber Früchte welches Christentums? Des säkularisierten Christentums? Des politischen Christentums? Eines spirituellen, erweckten Christentums? Etablierte Religionen, anders als natürliche, tragen einen zivilisationsbildenden Kern in sich. Sie sind nie nur Spiritualität und Gotteserfahrung, sondern haben die Kodifizierung dieser Erfahrung erlebt und die institutionelle Verstetigung durch die Auslegung dieser Quellen gefestigt. Die Menschenrechte wurden innerhalb eines solchen etabliert-religiösen Rahmens zu Tage gefördert und ins Wort gefasst. Politisch werden sie daher heute verfochten und wird ihnen zur Durchsetzung verholfen nicht mittels einer religiösen Agenda oder Autorität, sondern durch den Konsens zivilisierter Nationen, die den Menschen als Menschen anerkennen und sehen und nicht als Mittel zu anderen Zwecken missbrauchen. Die Sprache der deutschen Aufklärung sticht ins Auge. Eine Aufklärung, die sicher insgesamt von den Ansprüchen und Widersprüchen des Christentums inspiriert war.

Auf den Anruf des Göttlichen wird in der Geschichte der Religion vielfältig reagiert. Kräfte der Beharrung stehen dabei stets denen des Wandels gegenüber. Die Spannkraft, mit der etablierte Religion Wandel bedingen oder erdulden kann, entscheidet über ihre Überlebensfähigkeit. Die lutherische Reformation kann auch in diesem Sinne gedeutet werden: weg von dem Aberglauben einer natürlichen Religion, deren Spuren sich tief in die universale lateinische Kirche das Spätmittelalters eingraviert hatten, hin zu einer erneuerten Praxis und modernisierten Theologie.

Christentum hat Vielfalt und Varianz erzwungen

Das Heil des Menschen wurde nach dem Reformationszeitalter nicht mehr exklusiv in sakramentaler Praxis, die als Auswuchs der natürlichen Religion von den Reformatoren abgelehnt wurde, gesehen, sondern im Blick auf das Wort, das man, in der Weise wie Humanismus und Aufklärung voranschritten, nicht mehr bei Gott, sondern völlig in der Welt wähnte: als auszulegendes und zu kontextualisierendes. In dem Moment, in dem Varianz in die Interpretation des Wortes kommt, in dem Moment, wo politische Herrschaft nicht mehr durch Zwang die Fiktion eines monolithisches Gemeinwesen aufrecht erhalten kann, da begingt die Freiheit des Christenmenschen, sola fide, sola scriptura. In diesem Sinne sind Meinungs- und Pressefreiheit Sprösslinge, zumindest aber doch Artverwandte des religiösen Ringens um eine neue Anschauung der Welt.

Humanismus, Reformation und Aufklärung haben das Christentum mit der Vielfalt menschlicher Existenz und der Varianz von Gotteserfahrung zuerst bekannt und dann vertraut gemacht. Das Christentum hat somit Vielfalt und Varianz erzwungen gegen das Christentum selber. Nicht nur in der Weise, dass Dissidenten gegen eine mächtige Kirche aufbegehrten (das auch), sondern durch das Durchdenken der Konsequenzen der christlichen Theologie von der Menschwerdung und Entäußerung. So wurde der Nährboden bereitet für eine politisch-religiöse Weltanschauung, die den Menschen am Ende auch auf der weltlichen Bühne als Hauptakteur in Freiheit setzen würde.

Die Freiheit des Christenmenschen besteht seither nicht mehr nur darin, dass der Mensch innerlich frei im Glauben sei. Sie geht weiter, in die Welt, und mündet dort in „Heldenmut für Königsthronen“, wie Schiller das in der „Ode an die Freude“, die eigentlich „Ode an die Freiheit“ getauft werden sollte, nennt, als insofern, dass der Mensch erst als autonomes Subjekt zum Mittelpunkt politisch-philosophischer Reflexion und dann, ab der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, zum Nukleus für alles politische Handeln wird, das sich seit diesem Moment, in der freien westlichen Welt, exklusiv aus der Würde und den Rechten dieses Menschen ableitet.

Von: Alexander Görlach

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