„Das Reformationsjubiläum war missionarisch“

Michael Diener ist Pietist und sitzt im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für pro blickt er auf das Reformationsjubiläum zurück. Ein Gespräch über protestantischen Größenwahn, die missionarische Kraft des Lutherjahres und ein Seelsorgeriesenrad.
Von PRO
Michael Diener ist enttäuscht von der Reichweite des Reformationsjubiläums, aber dennoch überzeugt davon, dass es die Menschen bewegt hat

pro: Herr Diener, gibt es für die Evangelische Kirche in Deutschland ein Leben nach dem 31. Oktober 2017?

Michael Diener: Definitiv. Aus der breiten Gestaltung des Reformationsjubiläums sollen Kraft und Erkenntnisse wachsen, wie Kirche-sein im 21. Jahrhundert geht, wie wir Glauben heute leben und was Evangelium heute bedeutet.

Was war Ihr Highlight des Reformationsjubiläums?

Bei so vielen tausend Veranstaltungen seit Herbst 2016 ist das gar nicht einfach zu sagen. Sehr beeindruckt hat mich der Europäische Stationenweg, bei dem über 60 europäische Städte mit einem Geschichtenmobil besucht wurden. Überall lässt sich die Geschichte der Reformation entdecken. In einer Zeit, in der Europa derart angefochten ist, hat sich die Kraft des Reformationsjubiläums genau dort gezeigt – auch mit Blick auf die Ökumene. Das hat mich berührt und überrascht.

Was hat Sie enttäuscht?

Enttäuscht hat mich, dass wir unsere heutige Gesellschaft nicht durchflutet haben mit der Botschaft der Freiheit eines Christenmenschen und dem Leben aus Gnade. Da hatte ich höhere – wohl leider zu hohe – Erwartungen und bin ernüchtert, dass wir an viele Menschen nicht wirklich herangekommen sind. Wir haben die erhofften Zahlen für Kartenverkäufe bei der Wittenberger Weltausstellung und beim Kirchentag nicht erreicht. Daraus müssen wir schließen, dass ein Teil unserer zentralen Angebote weniger attraktiv war, als wir dachten. Aber es gab ja, etwa auch im Rahmen der Kirchentage auf dem Weg, Kneipengespräche oder offene Veranstaltungen ohne Eintritt – da sind die Menschen gekommen. Das Jubiläum ist für uns ein Forschungslabor, wir können viel darüber lernen, welche Formen die Menschen interessieren und welche nicht.

In Wittenberg gab es neben den Aktionen der einzelnen Landeskirchen vor allem Kunstinstallationen zu sehen. Ein verspiegelter Hügel, Grünzeug, das in der Luft wächst, Exponate von Ai Weiwei. Wieso glaubt die Kirche, sie könne mit derlei Einrichtungen das Gros der Bevölkerung erreichen anstatt nur eine kunstaffine Minderheit?

Für den Bibelturm am Bahnhof brauchten Sie keine große künstlerische Affinität. Auch die Pavillons aus Kirche und Ökumene haben andere Zugänge eröffnet. Der Gnadauer Pavillon lag direkt neben dem „verspiegelten Hügel“ und wurde über 11.000 Mal besucht. Das Asisi-Panorama haben bisher Hundertausende bestaunt und wertvolle Einblicke in die Zeit der Reformation erhalten. Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ war wiederum für kulturinteressierte Menschen ein echtes Highlight. Sicherlich waren manche Angebote künstlerisch zu ambitioniert – andere konnten die Besucher aber abholen. Wir haben vielmehr unterschätzt, dass die meisten Gäste nur für einen Tag nach Wittenberg gekommen sind und dann vor allem die klassischen Lutherstätten besuchten. Viele hatten keine Zeit mehr für die Pavillons oder anderes. Das war unser Hauptproblem.

„Größer gesprungen, als wir hätten springen müssen“

Haben die Veranstalter am Ende vielleicht zu offen die eigenen hohen Erwartungen hinausposaunt? In Pressekonferenzen war die Rede von 5.000 Besuchern in Wittenberg täglich. Am Ende kamen statt 500.000 nur knapp 300.000 Gäste.

Ich sehe es nicht als Fehler, dass wir als Kirche große Erwartungen geäußert haben – das ist mir lieber als eine Kirche, die keine Erwartungen hat. Selbst dann, wenn wir sie am Ende nicht erfüllen konnten. Wenn wir schon auf die Zahlen schauen: Die Veranstaltungen der Landeskirchen haben zum Teil fulminante Rückmeldungen bekommen. Die hessen-nassauische Kirche etwa hat alleine über 10.000 Veranstaltungen im Reformationsjahr gezählt. Das Nordkirchenschiff, das anlässlich der Reformation vier Wochen lang von Stralsund bis Hamburg segelte, war zum Beispiel ein großer Erfolg, ebenso unser Konficamp in Wittenberg. Wir haben neben den Besucherzahlen vor allem erwartet, dass die Botschaft der Reformation in diesem Jahr in unserer Gesellschaft neu Gehör findet. Das sehen wir als erfüllt an.

Dennoch steht das Reformationsjubiläum in der Kritik …

Kritik gab es vor allem an Teilen des Wittenberger Programms. Andererseits war Kirche schon lange nicht mehr so präsent in Öffentlichkeit und Medien. Ich nehme wahr, dass es eine gewisse Häme gibt. Die Kritik reicht von einer unangemessen großen Präsenz in Gesellschaft und Öffentlichkeit bis hin zu Vorwürfen, die Evangelische Kirche habe die Kernanliegen der Reformation nicht genügend vertreten. Aber ich finde es gut, dass unser Staat Räume für Religion eröffnet. Und ich finde sehr wohl, dass die großen Themen der Reformation „Gnade, Gottvertrauen, Freiheit, Bibel“ eine zentrale Rolle gespielt haben.

Der Bahnhof in Wittenberg wurde für die Weltausstellung und den Kirchentag komplett umgebaut, damit er die Massen an Touristen überhaupt bewältigen konnte, die Veranstaltungen in Wittenberg haben 25 Millionen Euro gekostet, 50 Millionen das Jubiläum insgesamt – manche würden Ihnen protestantischen Größenwahn vorwerfen …

Ich bedaure nicht, dass wir an einigen Stellen größer gesprungen sind als wir vielleicht hätten springen müssen. Wenn Sie sich einmal entschieden haben, das Reformationsjubiläum global und mit weltpolitischer Bedeutung zu feiern, dann müssen Sie das auch ernst nehmen. Die Umbauten an den Lutherstätten, teilweise auch durch den Staat finanziert, sind doch gut. Der Staat investiert in Kultur und Geschichte. Wir haben sicherlich nicht jeden einzelnen Euro richtig ausgegeben. Aber ich würde nicht von Größenwahn sprechen. Diese Reformation hat Europa mitgeprägt. Wie hätten wir das sonst feiern sollen? Mit Hagebuttentee in Gemeindehäusern? Ich zum Beispiel bin ja immer noch begeistert von unserem Seelsorgerad …

… einem Riesenrad auf der Weltausstellung, in dem Seelsorger saßen, denen sich Gäste während der Fahrt anvertrauen konnten. Es zählt zu den umstrittensten Installationen in Wittenberg.

Das Leben spielt sich zwischen Höhen und Tiefen ab, es gibt Phasen des Überblicks und Phasen, in denen man sich ganz unten fühlt. Das in einem Rad darzustellen und etwas Touristisches mit der Thematik der Seelsorge zu verbinden, finde ich richtig.

Haben die Veranstalter am Ende vielleicht zu offen die eigenen hohen Erwartungen hinausposaunt? In Pressekonferenzen war die Rede von 5.000 Besuchern in Wittenberg täglich. Am Ende kamen statt 500.000 nur knapp 300.000 Gäste.

Ich sehe es nicht als Fehler, dass wir als Kirche große Erwartungen geäußert haben – das ist mir lieber als eine Kirche, die keine Erwartungen hat. Selbst dann, wenn wir sie am Ende nicht erfüllen konnten. Wenn wir schon auf die Zahlen schauen: Die Veranstaltungen der Landeskirchen haben zum Teil fulminante Rückmeldungen bekommen. Die hessen-nassauische Kirche etwa hat alleine über 10.000 Veranstaltungen im Reformationsjahr gezählt. Das Nordkirchenschiff, das anlässlich der Reformation vier Wochen lang von Stralsund bis Hamburg segelte, war zum Beispiel ein großer Erfolg, ebenso unser Konficamp in Wittenberg. Wir haben neben den Besucherzahlen vor allem erwartet, dass die Botschaft der Reformation in diesem Jahr in unserer Gesellschaft neu Gehör findet. Das sehen wir als erfüllt an.

Dennoch steht das Reformationsjubiläum in der Kritik …

Kritik gab es vor allem an Teilen des Wittenberger Programms. Andererseits war Kirche schon lange nicht mehr so präsent in Öffentlichkeit und Medien. Ich nehme wahr, dass es eine gewisse Häme gibt. Die Kritik reicht von einer unangemessen großen Präsenz in Gesellschaft und Öffentlichkeit bis hin zu Vorwürfen, die Evangelische Kirche habe die Kernanliegen der Reformation nicht genügend vertreten. Aber ich finde es gut, dass unser Staat Räume für Religion eröffnet. Und ich finde sehr wohl, dass die großen Themen der Reformation „Gnade, Gottvertrauen, Freiheit, Bibel“ eine zentrale Rolle gespielt haben.

Der Bahnhof in Wittenberg wurde für die Weltausstellung und den Kirchentag komplett umgebaut, damit er die Massen an Touristen überhaupt bewältigen konnte, die Veranstaltungen in Wittenberg haben 25 Millionen Euro gekostet, 50 Millionen das Jubiläum insgesamt – manche würden Ihnen protestantischen Größenwahn vorwerfen …

Ich bedaure nicht, dass wir an einigen Stellen größer gesprungen sind als wir vielleicht hätten springen müssen. Wenn Sie sich einmal entschieden haben, das Reformationsjubiläum global und mit weltpolitischer Bedeutung zu feiern, dann müssen Sie das auch ernst nehmen. Die Umbauten an den Lutherstätten, teilweise auch durch den Staat finanziert, sind doch gut. Der Staat investiert in Kultur und Geschichte. Wir haben sicherlich nicht jeden einzelnen Euro richtig ausgegeben. Aber ich würde nicht von Größenwahn sprechen. Diese Reformation hat Europa mitgeprägt. Wie hätten wir das sonst feiern sollen? Mit Hagebuttentee in Gemeindehäusern? Ich zum Beispiel bin ja immer noch begeistert von unserem Seelsorgerad …

… einem Riesenrad auf der Weltausstellung, in dem Seelsorger saßen, denen sich Gäste während der Fahrt anvertrauen konnten. Es zählt zu den umstrittensten Installationen in Wittenberg.

Das Leben spielt sich zwischen Höhen und Tiefen ab, es gibt Phasen des Überblicks und Phasen, in denen man sich ganz unten fühlt. Das in einem Rad darzustellen und etwas Touristisches mit der Thematik der Seelsorge zu verbinden, finde ich richtig.

Seelsorge oder schöne Aussicht?

Wurde das Seelsorgeangebot denn wahrgenommen oder haben die Leute einfach die schöne Aussicht genossen?

Die Auswertungen haben wir noch nicht. Ich weiß nur, dass die Zahl der Seelsorger gegen Ende verringert wurde, weil das Angebot nicht so sehr wahrgenommen wurde. Umgekehrt haben diejenigen, die dort als Seelsorger im Dienst waren, von sehr guten Gesprächen berichtet. Nur weil die Idee ungewöhnlich ist, ist sie nicht falsch.

Die Theologen Friedrich Schorlemmer und Christian Wolff kritisieren, das pompöse Reformationsjahr sei eine große kirchliche Selbsttäuschung und vergesse den Fakt, dass die Kirche in der Gesellschaft kaum noch eine Rolle spielt …

Diese Kritik bezieht sich wohl vorrangig auf die Situation im Osten. Ich glaube nicht, dass wir uns einer Selbsttäuschung hingegeben haben. Unsere Mitarbeitenden bemühen sich, dort Tag für Tag mit Menschen unterwegs zu sein. Die Kirche hat mit dem Reformationsjubiläum versucht, diese Arbeit zu unterstützen. Die Kirchentage auf dem Weg haben gezeigt, dass wir Menschen im Osten erreichen können.

Das sieht nicht jeder so. In Leipzig wurden statt 50.000 Tickets nur 15.000 verkauft. Der damalige Ministerpräsident Tillich sprach Medienberichten zufolge in einem Saal für Tausende vor wenigen Dutzend Menschen.

Manche Veranstaltungen sind gefloppt, das stimmt. Andere nicht. Insgesamt glaube ich, dass wir mit den Kirchentagen auf dem Weg dennoch viele erreicht und zudem viel dabei gelernt haben.

War das Reformationsjubiläum missionarisch genug?

Wenn missionarisch bedeutet, dass wir die frohe Botschaft des evangelischen Glaubens in die Gesellschaft hineintragen, nämlich, dass Gott die Menschen liebt, befreit und erlöst hat und in die Gemeinschaft mit sich ruft, dann war das eine missionarische Veranstaltung. Nicht jedes einzelne Format war missionarisch, aber der Grundakzent. Wir wollten die Menschen teilhaben lassen an dem, was unser Leben reich macht.

Herr Diener, vielen Dank für das Gespräch!

Wurde das Seelsorgeangebot denn wahrgenommen oder haben die Leute einfach die schöne Aussicht genossen?

Die Auswertungen haben wir noch nicht. Ich weiß nur, dass die Zahl der Seelsorger gegen Ende verringert wurde, weil das Angebot nicht so sehr wahrgenommen wurde. Umgekehrt haben diejenigen, die dort als Seelsorger im Dienst waren, von sehr guten Gesprächen berichtet. Nur weil die Idee ungewöhnlich ist, ist sie nicht falsch.

Die Theologen Friedrich Schorlemmer und Christian Wolff kritisieren, das pompöse Reformationsjahr sei eine große kirchliche Selbsttäuschung und vergesse den Fakt, dass die Kirche in der Gesellschaft kaum noch eine Rolle spielt …

Diese Kritik bezieht sich wohl vorrangig auf die Situation im Osten. Ich glaube nicht, dass wir uns einer Selbsttäuschung hingegeben haben. Unsere Mitarbeitenden bemühen sich, dort Tag für Tag mit Menschen unterwegs zu sein. Die Kirche hat mit dem Reformationsjubiläum versucht, diese Arbeit zu unterstützen. Die Kirchentage auf dem Weg haben gezeigt, dass wir Menschen im Osten erreichen können.

Das sieht nicht jeder so. In Leipzig wurden statt 50.000 Tickets nur 15.000 verkauft. Der damalige Ministerpräsident Tillich sprach Medienberichten zufolge in einem Saal für Tausende vor wenigen Dutzend Menschen.

Manche Veranstaltungen sind gefloppt, das stimmt. Andere nicht. Insgesamt glaube ich, dass wir mit den Kirchentagen auf dem Weg dennoch viele erreicht und zudem viel dabei gelernt haben.

War das Reformationsjubiläum missionarisch genug?

Wenn missionarisch bedeutet, dass wir die frohe Botschaft des evangelischen Glaubens in die Gesellschaft hineintragen, nämlich, dass Gott die Menschen liebt, befreit und erlöst hat und in die Gemeinschaft mit sich ruft, dann war das eine missionarische Veranstaltung. Nicht jedes einzelne Format war missionarisch, aber der Grundakzent. Wir wollten die Menschen teilhaben lassen an dem, was unser Leben reich macht.

Herr Diener, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Anna Lutz

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