Von der Äbtissin zur Reformatorin

„Haben wir zwei Evangelien, eins für die Männer und eins für die Frauen?“, fragte einst die Genfer Reformatorin Marie Dentière. Sie löste damit einen gewaltigen Skandal aus. Dabei sind die Schriften Dentières heute so aktuell wie vor 500 Jahren. Ein Beitrag von Debora Sommer zur Themenwoche Reformation
Von PRO
Seit 2002 ist ihr Name auf dem Reformationsdenkmal in Genf verewigt: Marie Dentière

Es musste erst ein Besucher aus Südafrika kommen, damit ich auf meine Wissenslücke aufmerksam wurde. Mit unserem Gast schlenderte ich im vergangenen Sommer am imposanten Reformationsdenkmal der Schweizer Stadt Genf vorbei: Eine rund 100 Meter lange Skulpturenwand aus dem Jahr 1917, am Rande des idyllischen Universitätsparks Parc des Bastions. Das Denkmal erinnert an die internationale Wirkungsgeschichte der Genfer Reformation. Als Blickfang in der Mitte der Mauer stehen von links nach rechts die riesigen Skulpturen von Guillaume Farel (einer der ersten Reformatoren, die in Genf wirkten), Johannes Calvin (Reformator und Begründer des Calvinismus), Théodore de Bèze (Nachfolger Calvins und erster Rektor der Genfer Akademie) und John Knox (Gründer der schottischen Kirche). Das war mir bekannt. Denn in den Jahren zuvor war ich zwecks Nachforschungen für meine Doktorarbeit immer wieder in den Archiven der Stadt Genf, in unmittelbarer Nähe zum Reformationsdenkmal, zu Besuch gewesen.

Doch an jenem Tag stach mir etwas ins Auge, das mir bisher entgangen war. Der Name einer Frau: Marie Dentière. Die Mauer war – wie ich später erfuhr – im November 2002, anlässlich des Reformationsfestes, um die Namen von drei Vorläufern der Reformation ergänzt worden: Petrus Waldes, John Wyclif und Jan Hus. Zusammen mit diesen wurde auch zum ersten Mal der Name einer Frau, nämlich Marie Dentière, enthüllt. Ihr Name war mir bis dahin völlig unbekannt. Wer war diese Frau? Und was machte sie so bedeutend, dass ihr Name auf dem Reformationsdenkmal verewigt wurde?

Flucht aus dem Kloster

Dentière wurde um 1490 oder 1495 in Tournai im französischsprachigen Teil des heutigen Belgien geboren. Sie stammte aus dem niederen Adel und war schon früh leidenschaftlich an Gottes Wort interessiert. Daher ging sie bereits in jungen Jahren ins Kloster, wo sie eine theologische Ausbildung erhielt. Später wurde sie Äbtissin in einem Augustinerinnenkonvent im Süden des heutigen Belgien. Dentières Leben veränderte sich grundlegend, als sie Luthers Schriften las. Sie nahm den neuen Glauben an, floh Anfang der 1520er Jahre aus dem Kloster und heiratete den ehemaligen Priester und späteren Prediger Simon Robert. Nach dessen Tod wurde der Prediger Antoine Froment ihr zweiter Ehemann. Dentière, aus deren beiden Ehen mindestens drei Töchter hervorgingen, ließ sich im Jahr 1535 mit ihrer Familie in Genf nieder. Froment war ein Weggefährte des Genfer Reformators Guillaume Farel und gehörte selber zu den Hauptakteuren der reformatorischen Bewegung von Genf.

Reformatorische Schriften

Es war offensichtlich, dass Dentière die reformatorische Entwicklung mitgestalten wollte. Dabei gehörte sie zu den wenigen Frauen der Reformationszeit, die sich auch theologisch äußerten. Dies fand vor allem in folgenden zwei Werken Ausdruck: Im Jahr 1536 erschien anonym eine historische Abhandlung, in der Dentière lebhaft die Geschehnisse in Genf von 1504 bis 1536 schilderte. Dabei ließ sie keinen Zweifel daran, dass Gott selbst dafür gesorgt hatte, dass die Stadt Genf zum rechten (reformatorischen) Glauben finden konnte. In ihrem „Epistre très utile“ („sehr nützlichen Brief“) aus dem Jahr 1539 diskutierte Dentière aus streng reformierter Sicht die Dogmen und Riten der römischen Kirche und kritisierte sie rigoros. Hintergrund des Briefes war die Frage der Königin von Navarra, wieso Farel und Calvin aus Genf vertrieben worden waren. Dentière antwortete der Königin auf ihre Frage in einem offenen Brief.

Reformatorisches Gedankengut

Wortgewaltig nahm Dentière zu den Diskussionen ihrer Zeit Stellung. In Übereinstimmung mit den zeitgenössischen männlichen reformierten Theologen betonte sie, dass Jesus Christus der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch sei und dass Gottes Wort als einziger Maßstab für gottgefälliges Handeln zu gelten habe. Sie fand deutliche Worte gegen den Heiligenkult, Pilgerreisen, Bilderverehrung, Fastenzeiten, Speisevorschriften und das Zölibat. Dentière sah in der Reformation zudem eine Chance zur Neubewertung der Rolle der Frau in der neuen Kirche. Die reformatorische Wiederentdeckung des Allgemeinen Priestertums schloss ihrer Meinung nach eine aktive Mitarbeit von Frauen ein.

Dentières Brief an die Königin von Navarra enthielt einen Abschnitt mit der Überschrift „Die Verteidigung der Frauen“. Darin ermutigte sie die Frauen, die Bibel zu lesen und sich ins öffentliche Leben einzubringen. Wie alle Reformatoren war sie der Überzeugung, Ausbildung sei der Schlüssel zu verlässlicher Bibelauslegung. Dies galt ihrer Meinung nach auch für Frauen. Diese sollten überdies die Heilige Schrift nicht nur lesen, sondern auch predigen dürfen. „Haben wir zwei Evangelien, eins für die Männer und eins für die Frauen?“, fragte sie in ihrem Brief. Zum Kampf der Reformation gegen Missstände in der Kirche aller Art gehörte nach Dentière ganz wesentlich auch der Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen. Ihre Reden und Schriften lösten einen Skandal aus. Die meisten Bücher, die ihre Texte enthielten, wurden beschlagnahmt und vernichtet. Selbst Calvin und Farel, die sie sehr geschätzt hatten, distanzierten sich wegen ihrer Verteidigungsschrift für Frauen von ihr. Die Akademie, die Calvin 1559 in Genf gründete, richtete sich nur an Jungen. Mädchen erhielten keine Schulbildung über die Grundschule hinaus. Nachdem man Dentière den Mund verboten hatte, wurde im ganzen 16. Jahrhundert in Genf kein einziges Wort von einer Frau mehr gedruckt.

Reformatorisches Wirken

Dentières reformatorischem Wirken blieb ein unmittelbarer Erfolg versagt. Ungeachtet aller Ablehnung kämpfte sie weiter. So richtete sie in der Genfer Gegend unter anderem ein Pensionat für junge Mädchen ein. Hier ermöglichte sie ihren drei Töchtern einen Zugang zu den biblischen Sprachen. Eine ihrer Töchter verfasste später sogar eine hebräische Grammatik.

Als die vergessene Reformatorin Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, stellte man erstaunt fest, dass ihre Schriften kaum etwas von ihrer Aktualität eingebüßt hatten. Zur Erinnerung an eine Frau, die großen Anteil an der Durchsetzung der Reformation in Genf gehabt hatte, wurde ihr Name im Jahr 2002 schließlich in das internationale Reformationsdenkmal eingemeißelt.

Von Debora Sommer

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