„Homosexuelle sollen in Würde einen Platz in der Gemeinde Jesu finden“

Der Psychiater und Psychotherapeut Martin Grabe leitet die Klinik Hohe Mark. In einem neuen Buch wirbt er für die Akzeptanz homosexueller Christen. Seine These: Die meisten Evangelikalen hätten sich nie ernsthaft mit den relevanten Bibelstellen auseinandergesetzt.
Von PRO
Dr. Martin Grabe ist Chefarzt der psychiatrischen Klinik Hohe Mark in Oberursel im Taunus. Sie gehört zum Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband.

pro: Herr Grabe, wann hatten Sie in der Klinik zuletzt mit einem homosexuellen Christen zu tun?

Martin Grabe: Als Chefarzt mit Verantwortung für mehr als 100 Patienten habe ich zu homosexuellen Christen in der Klinik oft eher indirekten Kontakt. Auf einer Station bin ich allerdings gleichzeitig Oberarzt, da sind die Begegnungen natürlich intensiver. Wir haben insgesamt sehr häufig homosexuelle Christen in der Abteilung.

Warum kommen sie zu Ihnen?

Sie kommen zu uns wegen verschiedenster psychischer Störungen, die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen. Das sind oft Depressionen, aber auch Angsterkrankungen, Zwänge oder psychosomatische Störungen. Die meisten homosexuellen Christen haben aber auch Probleme mit ihrer sexuellen Orientierung. Manche outen sich gar nicht erst, noch nicht einmal ihren Eltern gegenüber, weil sie Probleme fürchten, etwa dass sie in ihrer Gemeinde nicht mehr mitarbeiten dürfen. Andere haben ihre Gemeinde bereits verlassen. Wir haben auch immer wieder vor allem junge Männer hier, die sich selbst nicht akzeptieren können. Die allerwenigsten von ihnen erfahren ihre Homosexualität als unproblematisch.

Was wünschen sich diese Patienten? Dass sie heterosexuell werden? Oder dass sie als Homosexuelle akzeptiert werden?

Es geht natürlich zunächst um die Grunderkrankung. Die sexuelle Orientierung ist in aller Regel nicht das Hauptthema für Menschen, die zu uns kommen. Damit die Krankenkassen zahlen, muss ja bereits vorher eine Diagnose gestellt worden sein, mindestens also eine mittelschwere Depression, Angsterkrankungen oder psychosomatische Erkrankung. Meist ist es so, dass sie selbst nicht daran glauben, die sexuelle Orientierung ändern zu können, sie andererseits aber auch nicht annehmen können.

Sie berichten in Ihrem Buch „Homosexualität und christlicher Glaube“ von Menschen, deren sexuelle Orientierung sich im Zuge einer Therapie geändert hat, zum Beispiel wegen einer Depression. Allerdings deutlich häufiger hin zur Homosexualität.

Ja. Nicht selten entdecken Patienten erst im Zuge einer Therapie eine bislang verdrängte Homosexualität, weil es in unserer Gesellschaft immer noch viele Gründe dafür gibt, nicht lesbisch oder schwul sein zu wollen. Umgekehrt gibt es keinen Grund, nicht heterosexuell sein zu wollen. Deswegen gibt es so gut wie keinen Homosexuellen, der eine bislang verdrängte Heterosexualität entdeckt.

Wer sich öffentlich zum Thema Homosexualität positioniert, der muss mit heftiger Empörung rechnen, egal wie er sich äußert. Warum haben Sie trotzdem jetzt ein Buch geschrieben?

Ich habe es immer als Problem angesehen, wenn in Bezug auf homosexuelle Christen eine unreflektierte Ausgrenzungslinie gefahren wurde, gerade in lebendigen und frömmeren Gemeinden. 2009 warb ich in der Zeitschrift P&S in einem Artikel für eine Integration homosexueller Christen in Gemeinden, ohne allerdings Schlussfolgerungen für die konkrete Lebensgestaltung daraus zu ziehen. Trotz dieses behutsamen Stils gab es wütende Abbestellungen der Zeitschrift. Das Thema taugt dazu, eine Menge Ärger zu erzeugen. Gerade dort, wo Menschen sich dadurch gestört fühlen, dass sie über dieses Thema selbst nachdenken sollen.

Sie bitten die Leser gleich mehrfach darum, alle 96 Seiten Ihres kompakten Buches zu lesen. Sie haben Sorge, falsch verstanden zu werden.

Richtig. Weil gerade hier viele Menschen gleich abchecken wollen: Steht der auf meinem Standpunkt oder nicht? Als ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich so deutlich wie bei keinem anderen Buch zuvor das Gefühl gehabt, dass ich es jetzt schreiben soll. Ich empfand es als eine Aufgabe, die mir Gott in die Hände gelegt hat. Wobei es noch nicht allzu lange her ist, seit ich mich selber zu dem Standpunkt durchgerungen habe, den ich im Buch vertrete.

Warum?

Das Thema Homosexualität weckt in christlichen Kreisen erhebliche Ängste. Vordergründig betrachtet sind das Versündigungsängste: Ich muss aufpassen, kein falsches Wort zu sagen, damit niemand auf den falschen Weg kommt. Schließlich muss ich dafür einmal Rechenschaft ablegen. Es gibt aber auch tiefer liegende Gründe dafür, nämlich die in unserer Gesellschaft tief verankerten Ängste vor Homosexualität.

Sie schreiben, homosexuelle Christen müssen vor allem theologisch mit sich im Reinen sein, da könne es noch so viele humanistische Erklärungen und Antidiskriminierungsgesetze geben. Gerade das scheint schwierig.

Ich finde es bemerkenswert, wie wenige relevante Bibelstellen es überhaupt gibt – und dass diese angeblich biblischen Gründe einem bei näherem Hinsehen weitgehend unter den Fingern zerbröseln, dass sie größtenteils nicht einmal Argumente sind.

Die Vorbehalte gegenüber der Homosexualität kommen überhaupt nicht genuin aus dem christlichen Glauben. Stattdessen stammen sie aus Jahrhunderte alten gesellschaftlichen Vorurteilen. In anderen Kulturen wie in Griechenland galten homoerotische Beziehungen geradezu als eine edle Form von Sexualität. Der Widerstand gegen Homosexualität ist kein christlicher Ansatz, der gegen die böse Welt zu verteidigen ist. Sondern ein Ansatz, der, wenn man diesen Ausdruck einmal verwenden will, aus der bösen Welt kommt, den die Christen schließlich übernommen haben. Die theologischen Argumente dagegen sind sehr schwach.

Im Mai hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen“ beschlossen. Mit einer Handreichung informiert die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) über den Inhalt des neuen Gesetzes, mögliche Folgen und gibt Tipps, wie mit dem Gesetz umgegangen werden kann. Foto: Jordan McDonald on Unsplash
Im Mai hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen“ beschlossen. Mit einer Handreichung informiert die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) über den Inhalt des neuen Gesetzes, mögliche Folgen und gibt Tipps, wie mit dem Gesetz umgegangen werden kann.

Sie nennen insgesamt fünf Bibelstellen, in denen explizit von Homosexualität die Rede ist.

In zwei Bibelstellen im dritten Buch Mose wird homosexuelles Verhalten als sündhaft bezeichnet. Christen schließen daraus, dass Gott etwas gegen Homosexualität hat. In Wahrheit geht es dort um verheiratete Männer, die auch homosexuelle Kontakte eingehen, die also die Ehe brechen.

Jedenfalls geht es überhaupt nicht um sexuelle Kontakte im Rahmen einer verbindlichen Beziehung, das war gar nicht im Bereich des Denkbaren. Diese sexualethischen Vorschriften sind Teil des Gesetzes, das beschreibt, wie das herausgerufene Volk Gottes Gott rein gegenüber treten kann. Bei anderen dieser Gesetze kommt kein Christ auf die Idee, dass sie noch gültig sind. Zum Beispiel, dass es keinen sexuellen Kontakt zu einer Frau geben darf, die ihre Tage hat. Es geht also überhaupt nicht um verbindliche homosexuelle Beziehungen, sondern um die Frage, ob homosexuelle Seitensprünge im mosaischen Zeltlager in Ordnung sind. Darauf stand genauso die Todesstrafe wie auf heterosexuellen Seitensprüngen. Und, noch wichtiger: Die mosaischen Gesetze gelten nicht mehr! Das Gesetz ist durch Christus erfüllt.

Allerdings gibt es auch neutestamentliche Stellen. Am stärksten ist Römer 1. Darin stellt Paulus homosexuelle Praxis als das Gegenteil des „natürlichen Verkehrs“ dar. Viele Ausleger sagen, dass Paulus damit auf eine Schöpfungsordnung Bezug nimmt: Gott hat Mann und Frau füreinander geschaffen, was sich auch biologisch zeigt. Die katholische Kirche spricht vom „Naturrecht“, zu dem auch die Schöpfungsordnung gehöre.

Jetzt haben Sie aber zwei Stellen übersprungen, es gibt ja auch noch die Stellen im 1. Korintherbrief und im 1. Timotheusbrief. Die sollten wir wenigstens mit erwähnen, damit wir sie auch beiseitelegen können.

Nur zu.

In beiden Stellen geht es um käufliche Liebe mit vermutlich jugendlichen Prostituierten. So etwas hat in der Gemeinde keinen Platz. Eine erstaunlich moderne Position, mit der heutzutage niemand Probleme hat. Sexueller Umgang mit Jugendlichen ist tabu.

Bleibt noch die Stelle im Römerbrief.

Ja, aber hier ist wichtig, dass Paulus gerade nicht die Schöpfungstheologie erklären wollte, stattdessen geht es ihm um Erlösungstheologie. Als Einstieg beschreibt er, was mit Menschen passiert, wenn sie sich willentlich von Gott abwenden und irgendwelche selbst geschnitzten Figuren anbeten. Paulus nennt Beispiele dafür, was Menschen nach so einer bewussten Entscheidung gegen Gott tun. In diesem Zusammenhang sucht Paulus ein Beispiel, mit dem er seine Leser schnell überzeugen kann, auf welche verrückten Ideen Menschen also kommen können, wenn sie den Kontakt zu ihrem Schöpfer bewusst abgebrochen haben.

„… desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande über sich gebracht …“

Und damit sind römische Orgien gemeint. Römer waren, genau wie Juden auch, verheiratet. Wie wir aus vielen anderen Quellen wissen, schützte das aber in keiner Weise davor, promiskuitiv zu leben und sexuelle Kontakte hier und da zu suchen – und zur Luststeigerung offensichtlich auch homosexuelle. Paulus kann da als Jude nur noch den Kopf schütteln: Schaut, auf was für abgedrehte Gedanken Menschen kommen, wenn sie den Kontakt zu Gott ganz verloren haben. Es geht Paulus aber nicht darum, eine grundsätzliche Aussage zum Thema Homosexualität zu machen. Er will sagen, was mit Menschen passiert, die ihren eigentlichen Sinn des Lebens aus dem Blick verloren haben. Sie brauchen immer stärkere Reize, um noch irgendwie Lust empfinden zu können und ein Ziel im Leben zu haben. Das ist meilenweit weg von der Frage, was von einer treuen, verbindlichen homosexuellen Beziehung zu halten ist. Dieses Thema ist nicht mal gestreift mit diesem Punkt des Paulus.

Viele Neutestamentler verstehen diese Stelle ganz anders: Gleichgeschlechtlicher Sex, den Paulus hier nennt, ist demnach ein Beispiel dafür, wie der Mensch Gottes Ordnung verdreht, wenn er sich von ihr abwendet. Paulus bezeichnet Sex zwischen Mann und Frau als „natürlich“, und zwischen Frau und Frau sowie zwischen Mann und Mann als „widernatürlich“. Diese Interpretation liegt doch sehr viel näher am Text.

Nein, das würde ich anders sehen. Es geht Paulus um Menschen, die bewusst die Gottesferne wählen und dann dahingegeben werden, also um Menschen, die aktiv handeln. Und es geht um verheiratete Menschen, wie es in Rom nun mal üblich war, und die Orgien veranstalteten, bei denen es nicht nur hetero-, sondern auch homosexuellen Verkehr gab. Das ist für Paulus der Gipfelpunkt der verrückten Ideen von Menschen, die in Gottesferne leben.

Kritiker würden einwenden: Wenn es Paulus wirklich nur um Ehebruch geht, warum hat er das nicht genau so geschrieben und die Orgie beim Namen genannt? Paulus scheint es sehr stark um dieses „Vertauschen“ zu gehen. Wenn sich die gesamte theologische Argumentation auf diese besondere Interpretation der Römerstelle stützt, steigt in vielen Christen vielleicht wieder der Zweifel hoch: Und was ist, wenn diese Auslegung nicht stimmt?

Ja, ich möchte da auch teilweise zustimmen. Es steht eindeutig in der Stelle, dass heterosexueller Verkehr natürlich und homosexueller widernatürlich ist. Auch Jesus, der sich ja nie über Homosexualität geäußert hat, beschreibt die heterosexuelle Einehe als das einzig denkbare Ehemodell. Im ersten Buch Mose steht, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schafft, danach folgt das Vermehrungsgebot. Daraus könnte man die Schlussfolgerung ziehen: Alles, was nicht die heterosexuelle Einehe ist, ist widernatürlich. Dieses Gedankengebäude hat aber große Lücken: Im Alten Testament ist von vielen Männern wie David oder Abraham die Rede, die zwar als absolut vorbildlich gelten – aber mehrere Frauen hatten, was in der Bibel auch überhaupt nicht problematisiert wird.

An einer anderen Stelle durchbricht Paulus das Prinzip, als er sagt, dass für einen Christen die beste Art zu leben die Ehelosigkeit ist – wenn er die Gabe dazu hat. Dadurch könne er Gott ohne Ablenkung dienen. Aber weil er weiß, dass viele Menschen diese Gabe nicht haben, gesteht er ihnen zu, zu heiraten. Die Ehelosigkeit widerspricht aber dem Vermehrungsgebot – und damit der Schöpfungsordnung, die die Bibel offensichtlich nicht konsistent durchzieht. Der wichtigste Einwand gegen eine Verabsolutierung der Schöpfungsordnung ist aber, dass Gott souverän ist. Das ist eine viel grundlegendere Aussage. Jesus sagt seinen Jüngern: Es fällt kein einziger Spatz vom Dach, ohne dass Gott das will. Es geschieht also nichts auf dieser Welt, ohne dass es mit Gottes Willen zusammenhängt. Gott ist und bleibt der Schöpfer, und er steht über jeder „Schöpfungsordnung“.

Es entspricht also Gottes Willen, dass jeder Mensch so ist, wie er ist.

Ja! Bei Jesaja ist davon die Rede, wie unsinnig es ist, wenn der Ton mit dem Töpfer hadern und ihn dafür kritisieren würde, wie er ihn geformt hat. Deswegen ist es auch absurd, dass Menschen mit Gott diskutieren, warum er etwas auf eine bestimmte Weise geschaffen hat und dass das eine besser als das andere sei. Das umschließt auch die sexuelle Orientierung.

Sie nennen insgesamt fünf Bibelstellen, in denen explizit von Homosexualität die Rede ist.

In zwei Bibelstellen im dritten Buch Mose wird homosexuelles Verhalten als sündhaft bezeichnet. Christen schließen daraus, dass Gott etwas gegen Homosexualität hat. In Wahrheit geht es dort um verheiratete Männer, die auch homosexuelle Kontakte eingehen, die also die Ehe brechen.

Jedenfalls geht es überhaupt nicht um sexuelle Kontakte im Rahmen einer verbindlichen Beziehung, das war gar nicht im Bereich des Denkbaren. Diese sexualethischen Vorschriften sind Teil des Gesetzes, das beschreibt, wie das herausgerufene Volk Gottes Gott rein gegenüber treten kann. Bei anderen dieser Gesetze kommt kein Christ auf die Idee, dass sie noch gültig sind. Zum Beispiel, dass es keinen sexuellen Kontakt zu einer Frau geben darf, die ihre Tage hat. Es geht also überhaupt nicht um verbindliche homosexuelle Beziehungen, sondern um die Frage, ob homosexuelle Seitensprünge im mosaischen Zeltlager in Ordnung sind. Darauf stand genauso die Todesstrafe wie auf heterosexuellen Seitensprüngen. Und, noch wichtiger: Die mosaischen Gesetze gelten nicht mehr! Das Gesetz ist durch Christus erfüllt.

Allerdings gibt es auch neutestamentliche Stellen. Am stärksten ist Römer 1. Darin stellt Paulus homosexuelle Praxis als das Gegenteil des „natürlichen Verkehrs“ dar. Viele Ausleger sagen, dass Paulus damit auf eine Schöpfungsordnung Bezug nimmt: Gott hat Mann und Frau füreinander geschaffen, was sich auch biologisch zeigt. Die katholische Kirche spricht vom „Naturrecht“, zu dem auch die Schöpfungsordnung gehöre.

Jetzt haben Sie aber zwei Stellen übersprungen, es gibt ja auch noch die Stellen im 1. Korintherbrief und im 1. Timotheusbrief. Die sollten wir wenigstens mit erwähnen, damit wir sie auch beiseitelegen können.

Nur zu.

In beiden Stellen geht es um käufliche Liebe mit vermutlich jugendlichen Prostituierten. So etwas hat in der Gemeinde keinen Platz. Eine erstaunlich moderne Position, mit der heutzutage niemand Probleme hat. Sexueller Umgang mit Jugendlichen ist tabu.

Bleibt noch die Stelle im Römerbrief.

Ja, aber hier ist wichtig, dass Paulus gerade nicht die Schöpfungstheologie erklären wollte, stattdessen geht es ihm um Erlösungstheologie. Als Einstieg beschreibt er, was mit Menschen passiert, wenn sie sich willentlich von Gott abwenden und irgendwelche selbst geschnitzten Figuren anbeten. Paulus nennt Beispiele dafür, was Menschen nach so einer bewussten Entscheidung gegen Gott tun. In diesem Zusammenhang sucht Paulus ein Beispiel, mit dem er seine Leser schnell überzeugen kann, auf welche verrückten Ideen Menschen also kommen können, wenn sie den Kontakt zu ihrem Schöpfer bewusst abgebrochen haben.

„… desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande über sich gebracht …“

Und damit sind römische Orgien gemeint. Römer waren, genau wie Juden auch, verheiratet. Wie wir aus vielen anderen Quellen wissen, schützte das aber in keiner Weise davor, promiskuitiv zu leben und sexuelle Kontakte hier und da zu suchen – und zur Luststeigerung offensichtlich auch homosexuelle. Paulus kann da als Jude nur noch den Kopf schütteln: Schaut, auf was für abgedrehte Gedanken Menschen kommen, wenn sie den Kontakt zu Gott ganz verloren haben. Es geht Paulus aber nicht darum, eine grundsätzliche Aussage zum Thema Homosexualität zu machen. Er will sagen, was mit Menschen passiert, die ihren eigentlichen Sinn des Lebens aus dem Blick verloren haben. Sie brauchen immer stärkere Reize, um noch irgendwie Lust empfinden zu können und ein Ziel im Leben zu haben. Das ist meilenweit weg von der Frage, was von einer treuen, verbindlichen homosexuellen Beziehung zu halten ist. Dieses Thema ist nicht mal gestreift mit diesem Punkt des Paulus.

Viele Neutestamentler verstehen diese Stelle ganz anders: Gleichgeschlechtlicher Sex, den Paulus hier nennt, ist demnach ein Beispiel dafür, wie der Mensch Gottes Ordnung verdreht, wenn er sich von ihr abwendet. Paulus bezeichnet Sex zwischen Mann und Frau als „natürlich“, und zwischen Frau und Frau sowie zwischen Mann und Mann als „widernatürlich“. Diese Interpretation liegt doch sehr viel näher am Text.

Nein, das würde ich anders sehen. Es geht Paulus um Menschen, die bewusst die Gottesferne wählen und dann dahingegeben werden, also um Menschen, die aktiv handeln. Und es geht um verheiratete Menschen, wie es in Rom nun mal üblich war, und die Orgien veranstalteten, bei denen es nicht nur hetero-, sondern auch homosexuellen Verkehr gab. Das ist für Paulus der Gipfelpunkt der verrückten Ideen von Menschen, die in Gottesferne leben.

Kritiker würden einwenden: Wenn es Paulus wirklich nur um Ehebruch geht, warum hat er das nicht genau so geschrieben und die Orgie beim Namen genannt? Paulus scheint es sehr stark um dieses „Vertauschen“ zu gehen. Wenn sich die gesamte theologische Argumentation auf diese besondere Interpretation der Römerstelle stützt, steigt in vielen Christen vielleicht wieder der Zweifel hoch: Und was ist, wenn diese Auslegung nicht stimmt?

Ja, ich möchte da auch teilweise zustimmen. Es steht eindeutig in der Stelle, dass heterosexueller Verkehr natürlich und homosexueller widernatürlich ist. Auch Jesus, der sich ja nie über Homosexualität geäußert hat, beschreibt die heterosexuelle Einehe als das einzig denkbare Ehemodell. Im ersten Buch Mose steht, dass Gott den Menschen als Mann und Frau schafft, danach folgt das Vermehrungsgebot. Daraus könnte man die Schlussfolgerung ziehen: Alles, was nicht die heterosexuelle Einehe ist, ist widernatürlich. Dieses Gedankengebäude hat aber große Lücken: Im Alten Testament ist von vielen Männern wie David oder Abraham die Rede, die zwar als absolut vorbildlich gelten – aber mehrere Frauen hatten, was in der Bibel auch überhaupt nicht problematisiert wird.

An einer anderen Stelle durchbricht Paulus das Prinzip, als er sagt, dass für einen Christen die beste Art zu leben die Ehelosigkeit ist – wenn er die Gabe dazu hat. Dadurch könne er Gott ohne Ablenkung dienen. Aber weil er weiß, dass viele Menschen diese Gabe nicht haben, gesteht er ihnen zu, zu heiraten. Die Ehelosigkeit widerspricht aber dem Vermehrungsgebot – und damit der Schöpfungsordnung, die die Bibel offensichtlich nicht konsistent durchzieht. Der wichtigste Einwand gegen eine Verabsolutierung der Schöpfungsordnung ist aber, dass Gott souverän ist. Das ist eine viel grundlegendere Aussage. Jesus sagt seinen Jüngern: Es fällt kein einziger Spatz vom Dach, ohne dass Gott das will. Es geschieht also nichts auf dieser Welt, ohne dass es mit Gottes Willen zusammenhängt. Gott ist und bleibt der Schöpfer, und er steht über jeder „Schöpfungsordnung“.

Es entspricht also Gottes Willen, dass jeder Mensch so ist, wie er ist.

Ja! Bei Jesaja ist davon die Rede, wie unsinnig es ist, wenn der Ton mit dem Töpfer hadern und ihn dafür kritisieren würde, wie er ihn geformt hat. Deswegen ist es auch absurd, dass Menschen mit Gott diskutieren, warum er etwas auf eine bestimmte Weise geschaffen hat und dass das eine besser als das andere sei. Das umschließt auch die sexuelle Orientierung.

Das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube: Ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe ist Anfang Juli bei Francke erschienen, 96 Seiten, 10,95 Euro, ISBN 3963621729. Die Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg bringt im September ebenfalls ein Buch zu dem Thema heraus, Autor ist der homosexuelle zölibatär lebende Christopher Yuan. Foto: Francke
Das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube: Ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe ist Anfang Juli bei Francke erschienen, 96 Seiten, 10,95 Euro, ISBN 3963621729. Die Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg bringt im September ebenfalls ein Buch zu dem Thema heraus, Autor ist der homosexuelle zölibatär lebende Christopher Yuan.

Dieses Urteil steht dem Menschen also nicht zu. In Ihrem Buch erwähnen Sie homosexuelle Christen, die zölibatär leben, weil sie dem Willen Gottes entsprechen wollen. Wenn diese Christen das für sich entscheiden, ist das doch durchaus ihre Art, mit ihrer Geschaffenheit umzugehen.

Das stimmt auch. Zölibatär zu leben, ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, und nach Paulus sogar eine ziemlich gute. Gleichzeitig sagt Paulus selbst: Die meisten Menschen können das nicht. Das entspricht auch den Erfahrungen, die wir hier in der Klinik mit zölibatären Patienten machen. Bei den Männern unter ihnen gelingt es sehr selten.

Leiden diese Männer im Stillen darunter? Oder gehen sie heimlich eine Beziehung ein?

Sowohl als auch. Teilweise spielt sich das unter großen Schuldgefühlen ab, teilweise mit erstaunlich geringen Schuldgefühlen, weil sie inzwischen auch abgestumpft sind und nie darüber reden. Wir bekommen natürlich nur diejenigen zölibatär lebenden Menschen in Behandlung, die an irgendeiner Stelle ihres Lebens in eine Sackgasse geraten sind. Ich möchte also nicht behaupten, dass zölibatäres Leben nie gelingt. Bei Paulus zum Beispiel bin ich vollkommen davon überzeugt, dass es ihm gelungen ist, ganz und gar für seinen Herrn zu leben. Aber leider kommt das nur für eine sehr geringe Minderheit in Frage.

Sie schreiben, dass auch konservative Christen mit homosexuellen Geschwistern leiden. Sie stecken in einem Dilemma: Sie wollen ihrer theologischen Überzeugung treu bleiben, aber anderen auch keinen Zwangszölibat aufdrücken.

Und nach Paulus geht das auch nicht. Er schreibt ja auch, dass nur schräge Sachen dabei herauskommen, wenn jemand ohne Begabung zur Ehelosigkeit den Zölibat anstrebt. Selbst bei Ehepaaren, die sich geistlich zu viel vornehmen und zu lange enthaltsam sein wollen, rät Paulus: Lasst das mal sein, ihr bringt euch nur in Versuchung.

In den Landeskirchen gibt es schon lange Liberalisierungsbewegungen bis hin zur Trauung Homosexueller. Auch Freikirchen diskutieren vermehrt darüber. Sie schreiben: „Auch die derzeitige Meinungsänderung in den christlichen Kirchen erscheint eher als Anpassung an den gesellschaftlichen Mainstream und kaum als genuin theologische Erkenntnis.“ Was meinen Sie damit?

Das meine ich so: Es gibt nur ganz wenige Gemeinden, zum Beispiel unter Aussiedlergemeinden, in denen Homosexualität an sich schon als sündhaft angesehen wird. Der Mainstream in evangelikalen Gemeinden wie Baptisten und Freien evangelischen Gemeinden ist: Homosexuell zu fühlen, ist keine Sünde, sondern nur die homosexuelle Praxis. Vor drei, vier Jahrzehnten war das noch ganz anders. Damals war noch die ganze Gesellschaft davon überzeugt, dass Homosexualität eine Verirrung ist, …

… die bestraft werden müsse.

Bis 1973 stellte Paragraph 175 im Strafgesetzbuch homosexuelle Praxis unter Strafe. Evangelikale Christen denken jetzt weithin wesentlich liberaler. Aber theologisch wurde dieser Punkt nie wirklich reflektiert, zumindest nicht in Freikirchen. In diesem Punkt haben Christen also einfach den gesellschaftlichen Mainstream übernommen und unterliegen ansonsten weiter überlieferten Vorurteilen. Wir sollten uns aber nicht von dumpfen Vorurteilen leiten lassen, sondern ehrliche theologische Arbeit betreiben. Wir sollten uns die relevanten Verse genau anschauen und auch unsere Gesellschaft reflektieren: Warum hatte unsere Gesellschaft derart starke Vorurteile gegen homosexuelle Menschen? Übrigens vor allem gegen schwule Männer, die Frauen haben in dieser Hinsicht überhaupt nicht interessiert – weil sie wehrtechnisch nicht von Bedeutung waren. Die Ablehnung von Homosexualität gehört zur stark militaristischen Prägung unserer Gesellschaft, die bis zum Zweiten Weltkrieg das Empfinden bestimmte.

Und doch gibt es viele, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. 2017 verabschiedete die Deutsche Evangelische Allianz nach langen Gesprächen eine Erklärung, auch Sie waren daran beteiligt. Ein entscheidender Satz: „Die in der Bibel beschriebene homosexuelle Praxis ist mit dem Willen Gottes und damit dem biblischen Ethos unvereinbar.“ Die Allianz urteilt also nur über „die in der Bibel beschriebene homosexuelle Praxis“. Darauf, wie sie heutige homosexuelle Beziehungen bewertet, konnte sich die Allianz wohl nicht einigen. Werfen Sie Ihren Gesprächspartnern in der Allianz auch vor, „dumpfen Vorurteilen“ zu erliegen?

Ich wollte nur sagen, dass es sehr schwer ist, sich als evangelikaler Christ von einer Gewissensprägung zu befreien, die weit zurück reicht in die Vergangenheit unserer Gesellschaft. Christen sollten vom Heiligen Geist geleitet sein. Doch sie haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder angepasst und sogar Untaten mit christlichen Pseudoargumenten begründet: Kreuzzüge, die Unterdrückung der „schwarzen Rasse“ und viele Kriege. In Bezug auf homosexuelle Menschen haben Christen vor allem die mosaischen Bibelstellen beigesteuert, mit denen man auf den ersten Blick sehr einfach und schnell Homosexuelle abzuqualifizieren kann – auch wenn es, wie gesagt, bei näherer Betrachtung ein Trugschluss ist. Das finde ich traurig. Sehr oft haben Christen leider nicht Gottes Liebe in die Welt getragen, sondern mit christlichen Pseudoargumenten gesellschaftliche Verirrungen unterstützt. Natürlich gab es auch positive Beispiele, die ich im Buch aufgeführt habe.

Zum Beispiel die friedliche Revolution in der DDR, an der Christen entscheidend beteiligt waren.

Oder William Wilberforce, Dietrich Bonhoeffer, und andere, die sogar bereit waren, ihr Leben für ihre christlichen Überzeugungen aufzugeben. Aber in Bezug auf Homosexualität hat die Kirche lange Zeit die gesellschaftliche Verurteilung mit scheinbar christlichen Argumenten gestützt. Deswegen fällt es Christen jetzt auch schwerer als ihren Mitbürgern, ihr Fähnchen nach dem neuen Wind zu richten. Unsere Mitbürger sind zwar auch keine durch die Wolle durchgefärbten neuen Liberalen, das sieht man alleine schon daran, wie entsetzt die Familien nach einem Coming-Out reagieren. Bei uns Christen ist aber noch viel theologische Denkarbeit nötig, um aus der Generationen alten Gewissensprägung bei diesem Thema auf einen wirklich tragfähigen Grund zu kommen.

Angenommen, zwei Männer kommen zu Paulus in die Seelsorge. Sie vertrauen ihm an, dass sie entgegen der damaligen Praxis eine vertrauensvolle homosexuelle Beziehung führen wollen. Was hätte Paulus ihnen geraten?

Er wäre wahrscheinlich mit der Situation überfordert gewesen, weil sie undenkbar war. Nach damaliger und jetziger Gemeindetheologie wäre ihre Beziehung aber auch deswegen nicht in Ordnung gewesen, weil die beiden ohne den Segen der Gemeinde in wilder Ehe zusammen gelebt hätten.

Dann hätten die beiden Männer von Paulus also getraut werden müssen. Wirklich?

In der Gemeinde Jesu ist erst einmal ein Transformationsprozess nötig. Bis dahin hängen Betroffene in der Luft. So war es auch bei den Heidenchristen. Hätten sie vor dem Apostelkonzil für sich entschieden, die jüdischen Reinheitsgebote nicht halten zu wollen, wäre das aus der Sicht christlicher Ethik problematisch gewesen. Natürlich gab es Argumente dafür: Christus hat die Welt erlöst, und das Gesetz war ein Zuchtmeister auf Christus hin. Die eigentliche Lösung kam aber erst durch das Apostelkonzil, als die damalige Gemeinde Jesu den Beschluss gefasst hat, die Heidenchristen von der Bindung an die jüdischen Vorschriften zu befreien. Auch in der evangelikalen Gemeinde brauchen wir den Mut zu einer solchen Entscheidung.

Bis dahin müsste es noch zu einer theologischen Einigung kommen. Sie arbeiten in den entsprechenden Allianz-Gremien mit. Ist die Lösung nah?

Derzeit gibt es keine weiteren Allianz-Treffen zum Thema. Wir sind in einer Zeit des Umbruchs. Manche Menschen sind so stark durch ihr Gewissen gebunden, dass sie nicht bereit sind, sich auf eine ehrliche und tiefgehende inhaltliche Auseinandersetzung einzulassen. Stattdessen ist die Angst so stark, dass sie aggressiv reagieren und zum Beispiel diejenigen am liebsten aus dem Amt entfernen, die nicht ihrer Meinung sind. Auf der anderen Seite sehe ich die Gefahr, dass wir als Christen – wie schon so oft – den Weg des geringsten Widerstandes gehen und irgendwelche frommen Argumente finden für das, was sowieso schon alle meinen.

Stattdessen würde es uns weiterbringen, wenn wir ehrlich in diese Fragen investieren, uns Zeit nehmen, darüber beten, den Heiligen Geist bitten, uns Erkenntnis zu geben um das Thema tiefer zu durchdringen als bisher. Die meisten Evangelikalen haben trotz ihrer oft sehr festen Meinung wahrscheinlich noch nicht einmal die relevanten Bibelstellen nachgeschlagen.

Alle evangelikalen Theologen haben das aber wahrscheinlich schon bis zum Erbrechen getan. Einigen können sie sich trotzdem nicht.

Und das liegt an zwei mächtigen geistigen Kräften, die beide nicht von Gott kommen: die alten Traditionen, die aus einer militaristischen Vergangenheit herrühren, und die Angst vor Außenseitertum. Beides hilft wenig weiter, um zu einer überzeugenden Linie zu kommen. Mit diesem Buch wollte ich es den Menschen, die die Wahrheit wollen, ermöglichen, tiefer zu schürfen und neue Gedanken zu fassen. Ich wünsche mir, dass wir aus einer tiefen geistlichen Überzeugung heraus als christliche evangelikale Gemeinschaft eine neue Jesus-gemäße Linie vorgeben können, die es homosexuellen Menschen ermöglicht, in Würde in der Gemeinde Jesu einen Platz zu finden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Urteil steht dem Menschen also nicht zu. In Ihrem Buch erwähnen Sie homosexuelle Christen, die zölibatär leben, weil sie dem Willen Gottes entsprechen wollen. Wenn diese Christen das für sich entscheiden, ist das doch durchaus ihre Art, mit ihrer Geschaffenheit umzugehen.

Das stimmt auch. Zölibatär zu leben, ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, und nach Paulus sogar eine ziemlich gute. Gleichzeitig sagt Paulus selbst: Die meisten Menschen können das nicht. Das entspricht auch den Erfahrungen, die wir hier in der Klinik mit zölibatären Patienten machen. Bei den Männern unter ihnen gelingt es sehr selten.

Leiden diese Männer im Stillen darunter? Oder gehen sie heimlich eine Beziehung ein?

Sowohl als auch. Teilweise spielt sich das unter großen Schuldgefühlen ab, teilweise mit erstaunlich geringen Schuldgefühlen, weil sie inzwischen auch abgestumpft sind und nie darüber reden. Wir bekommen natürlich nur diejenigen zölibatär lebenden Menschen in Behandlung, die an irgendeiner Stelle ihres Lebens in eine Sackgasse geraten sind. Ich möchte also nicht behaupten, dass zölibatäres Leben nie gelingt. Bei Paulus zum Beispiel bin ich vollkommen davon überzeugt, dass es ihm gelungen ist, ganz und gar für seinen Herrn zu leben. Aber leider kommt das nur für eine sehr geringe Minderheit in Frage.

Sie schreiben, dass auch konservative Christen mit homosexuellen Geschwistern leiden. Sie stecken in einem Dilemma: Sie wollen ihrer theologischen Überzeugung treu bleiben, aber anderen auch keinen Zwangszölibat aufdrücken.

Und nach Paulus geht das auch nicht. Er schreibt ja auch, dass nur schräge Sachen dabei herauskommen, wenn jemand ohne Begabung zur Ehelosigkeit den Zölibat anstrebt. Selbst bei Ehepaaren, die sich geistlich zu viel vornehmen und zu lange enthaltsam sein wollen, rät Paulus: Lasst das mal sein, ihr bringt euch nur in Versuchung.

In den Landeskirchen gibt es schon lange Liberalisierungsbewegungen bis hin zur Trauung Homosexueller. Auch Freikirchen diskutieren vermehrt darüber. Sie schreiben: „Auch die derzeitige Meinungsänderung in den christlichen Kirchen erscheint eher als Anpassung an den gesellschaftlichen Mainstream und kaum als genuin theologische Erkenntnis.“ Was meinen Sie damit?

Das meine ich so: Es gibt nur ganz wenige Gemeinden, zum Beispiel unter Aussiedlergemeinden, in denen Homosexualität an sich schon als sündhaft angesehen wird. Der Mainstream in evangelikalen Gemeinden wie Baptisten und Freien evangelischen Gemeinden ist: Homosexuell zu fühlen, ist keine Sünde, sondern nur die homosexuelle Praxis. Vor drei, vier Jahrzehnten war das noch ganz anders. Damals war noch die ganze Gesellschaft davon überzeugt, dass Homosexualität eine Verirrung ist, …

… die bestraft werden müsse.

Bis 1973 stellte Paragraph 175 im Strafgesetzbuch homosexuelle Praxis unter Strafe. Evangelikale Christen denken jetzt weithin wesentlich liberaler. Aber theologisch wurde dieser Punkt nie wirklich reflektiert, zumindest nicht in Freikirchen. In diesem Punkt haben Christen also einfach den gesellschaftlichen Mainstream übernommen und unterliegen ansonsten weiter überlieferten Vorurteilen. Wir sollten uns aber nicht von dumpfen Vorurteilen leiten lassen, sondern ehrliche theologische Arbeit betreiben. Wir sollten uns die relevanten Verse genau anschauen und auch unsere Gesellschaft reflektieren: Warum hatte unsere Gesellschaft derart starke Vorurteile gegen homosexuelle Menschen? Übrigens vor allem gegen schwule Männer, die Frauen haben in dieser Hinsicht überhaupt nicht interessiert – weil sie wehrtechnisch nicht von Bedeutung waren. Die Ablehnung von Homosexualität gehört zur stark militaristischen Prägung unserer Gesellschaft, die bis zum Zweiten Weltkrieg das Empfinden bestimmte.

Und doch gibt es viele, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt haben. 2017 verabschiedete die Deutsche Evangelische Allianz nach langen Gesprächen eine Erklärung, auch Sie waren daran beteiligt. Ein entscheidender Satz: „Die in der Bibel beschriebene homosexuelle Praxis ist mit dem Willen Gottes und damit dem biblischen Ethos unvereinbar.“ Die Allianz urteilt also nur über „die in der Bibel beschriebene homosexuelle Praxis“. Darauf, wie sie heutige homosexuelle Beziehungen bewertet, konnte sich die Allianz wohl nicht einigen. Werfen Sie Ihren Gesprächspartnern in der Allianz auch vor, „dumpfen Vorurteilen“ zu erliegen?

Ich wollte nur sagen, dass es sehr schwer ist, sich als evangelikaler Christ von einer Gewissensprägung zu befreien, die weit zurück reicht in die Vergangenheit unserer Gesellschaft. Christen sollten vom Heiligen Geist geleitet sein. Doch sie haben sich im Lauf der Geschichte immer wieder angepasst und sogar Untaten mit christlichen Pseudoargumenten begründet: Kreuzzüge, die Unterdrückung der „schwarzen Rasse“ und viele Kriege. In Bezug auf homosexuelle Menschen haben Christen vor allem die mosaischen Bibelstellen beigesteuert, mit denen man auf den ersten Blick sehr einfach und schnell Homosexuelle abzuqualifizieren kann – auch wenn es, wie gesagt, bei näherer Betrachtung ein Trugschluss ist. Das finde ich traurig. Sehr oft haben Christen leider nicht Gottes Liebe in die Welt getragen, sondern mit christlichen Pseudoargumenten gesellschaftliche Verirrungen unterstützt. Natürlich gab es auch positive Beispiele, die ich im Buch aufgeführt habe.

Zum Beispiel die friedliche Revolution in der DDR, an der Christen entscheidend beteiligt waren.

Oder William Wilberforce, Dietrich Bonhoeffer, und andere, die sogar bereit waren, ihr Leben für ihre christlichen Überzeugungen aufzugeben. Aber in Bezug auf Homosexualität hat die Kirche lange Zeit die gesellschaftliche Verurteilung mit scheinbar christlichen Argumenten gestützt. Deswegen fällt es Christen jetzt auch schwerer als ihren Mitbürgern, ihr Fähnchen nach dem neuen Wind zu richten. Unsere Mitbürger sind zwar auch keine durch die Wolle durchgefärbten neuen Liberalen, das sieht man alleine schon daran, wie entsetzt die Familien nach einem Coming-Out reagieren. Bei uns Christen ist aber noch viel theologische Denkarbeit nötig, um aus der Generationen alten Gewissensprägung bei diesem Thema auf einen wirklich tragfähigen Grund zu kommen.

Angenommen, zwei Männer kommen zu Paulus in die Seelsorge. Sie vertrauen ihm an, dass sie entgegen der damaligen Praxis eine vertrauensvolle homosexuelle Beziehung führen wollen. Was hätte Paulus ihnen geraten?

Er wäre wahrscheinlich mit der Situation überfordert gewesen, weil sie undenkbar war. Nach damaliger und jetziger Gemeindetheologie wäre ihre Beziehung aber auch deswegen nicht in Ordnung gewesen, weil die beiden ohne den Segen der Gemeinde in wilder Ehe zusammen gelebt hätten.

Dann hätten die beiden Männer von Paulus also getraut werden müssen. Wirklich?

In der Gemeinde Jesu ist erst einmal ein Transformationsprozess nötig. Bis dahin hängen Betroffene in der Luft. So war es auch bei den Heidenchristen. Hätten sie vor dem Apostelkonzil für sich entschieden, die jüdischen Reinheitsgebote nicht halten zu wollen, wäre das aus der Sicht christlicher Ethik problematisch gewesen. Natürlich gab es Argumente dafür: Christus hat die Welt erlöst, und das Gesetz war ein Zuchtmeister auf Christus hin. Die eigentliche Lösung kam aber erst durch das Apostelkonzil, als die damalige Gemeinde Jesu den Beschluss gefasst hat, die Heidenchristen von der Bindung an die jüdischen Vorschriften zu befreien. Auch in der evangelikalen Gemeinde brauchen wir den Mut zu einer solchen Entscheidung.

Bis dahin müsste es noch zu einer theologischen Einigung kommen. Sie arbeiten in den entsprechenden Allianz-Gremien mit. Ist die Lösung nah?

Derzeit gibt es keine weiteren Allianz-Treffen zum Thema. Wir sind in einer Zeit des Umbruchs. Manche Menschen sind so stark durch ihr Gewissen gebunden, dass sie nicht bereit sind, sich auf eine ehrliche und tiefgehende inhaltliche Auseinandersetzung einzulassen. Stattdessen ist die Angst so stark, dass sie aggressiv reagieren und zum Beispiel diejenigen am liebsten aus dem Amt entfernen, die nicht ihrer Meinung sind. Auf der anderen Seite sehe ich die Gefahr, dass wir als Christen – wie schon so oft – den Weg des geringsten Widerstandes gehen und irgendwelche frommen Argumente finden für das, was sowieso schon alle meinen.

Stattdessen würde es uns weiterbringen, wenn wir ehrlich in diese Fragen investieren, uns Zeit nehmen, darüber beten, den Heiligen Geist bitten, uns Erkenntnis zu geben um das Thema tiefer zu durchdringen als bisher. Die meisten Evangelikalen haben trotz ihrer oft sehr festen Meinung wahrscheinlich noch nicht einmal die relevanten Bibelstellen nachgeschlagen.

Alle evangelikalen Theologen haben das aber wahrscheinlich schon bis zum Erbrechen getan. Einigen können sie sich trotzdem nicht.

Und das liegt an zwei mächtigen geistigen Kräften, die beide nicht von Gott kommen: die alten Traditionen, die aus einer militaristischen Vergangenheit herrühren, und die Angst vor Außenseitertum. Beides hilft wenig weiter, um zu einer überzeugenden Linie zu kommen. Mit diesem Buch wollte ich es den Menschen, die die Wahrheit wollen, ermöglichen, tiefer zu schürfen und neue Gedanken zu fassen. Ich wünsche mir, dass wir aus einer tiefen geistlichen Überzeugung heraus als christliche evangelikale Gemeinschaft eine neue Jesus-gemäße Linie vorgeben können, die es homosexuellen Menschen ermöglicht, in Würde in der Gemeinde Jesu einen Platz zu finden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Nicolai Franz

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Eine Antwort

  1. Kommt denn niemand darauf, dass Paulus mit seinem „Pfahl im Fleisch“ Betroffener war und sich einer festen Beziehung durch Weiterreisen entziehen konnte?
    Theologinnen in der Allianz? Das Weib schweige in der Gemeinde? Paulus hat wohl nie eine Frau geliebt, aber der „Herr“ in bezug auf Jesus ist bei jedem Christen gebräuchlich geworden…zeigt Paulus hier in seiner homosex. Veranlagung seine weibl.Seite? Betet er auch mit der Anrede „Gott , Vater“?

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