„Ich stelle fest: Ich habe vieles nicht unter Kontrolle“

Die Politik nimmt die strengen Maßnahmen gegen das Coronavirus schrittweise zurück. Die Entwicklung der Fallzahlen zeigt, dass sie gewirkt haben, sagt die Virologin und Theologin Mirjam Schilling. Im pro-Interview erklärt sie, wieso das Virus trotzdem noch gefährlich ist, warum sich Forscher zuweilen widersprechen und was Christen in der Krise anderes zu bieten haben als die Wissenschaft.
Von PRO
Mirjam Schilling arbeitet als Virologin an der Universität Oxford und schreibt gerade an einer Doktorarbeit in Theologie

pro: In Großbritannien gibt es bereits rund 30.000 Tote im Zusammenhang mit dem Coronavirus, in Deutschland sind es bisher weniger als 8.000. Sie leben in England, wie nehmen Sie die Coronakrise dort wahr?

Mirjam Schilling: Wir sind den deutschen Entwicklungen mit dem Lockdown ungefähr drei Wochen hinterher. Aber wir haben deutlich mehr Fälle und mehr Tote zu beklagen. Das war auch zu erwarten. Auf der einen Seite hatte Deutschland im Vergleich zu Großbritannien ein deutlich besser vorbereitetes Gesundheitssystem. Zum Beispiel ist Deutschland führend in Europa bei der Anzahl der Intensivbetten. Und die Regelungen und Maßnahmen wurden hier im Verhältnis zur Fallzahl deutlich später gestartet als in Deutschland. Insgesamt ist die Entwicklung aber positiv, die Fallzahlen sinken langsam.

Die Zahl der Neuinfektionen nimmt auch in anderen Ländern mittlerweile ab. Haben wir in Europa das Schlimmste überstanden?

Das kann man so nicht sehen. Wir stehen mit Sicherheit erst am Anfang der Pandemie. Die Fallzahlen sinken ja hauptsächlich deshalb, weil vergleichsweise schnell sehr strikt reagiert wurde. Es wird uns mit Sicherheit noch eine Weile beschäftigen, wie wir die Fallzahlen gering halten können.

Die Zahl der Neuinfektionen ging in Deutschland schon Mitte März allmählich zurück und danach gab es erst den richtigen Lockdown. Kam er zu spät kam, oder hat er überhaupt eine Auswirkung auf die Fallzahlen?

Das muss man differenziert anschauen. Das eine ist die Reproduktionszahl. Das heißt, wie viele andere steckt ein Infizierter neu an. Diese Zahlen sind in Deutschland relativ früh zurückgegangen, weil, so glaube ich, einfach das Bewusstsein in der Masse ankam, dass es hier ein Virus gibt und dass man Vorsichtsmaßnahmen treffen muss. Auf der anderen Seite ist die Frage: Wie viele Fälle gibt es insgesamt? Das Gesundheitssystem kann nur mit einer bestimmten Zahl an Kranken umgehen. Das Stichwort „Abflachen der Kurve“ war wichtig, viele Maßnahmen zielten in diese Richtung, die Fallzahlen insgesamt zu reduzieren. In Deutschland wurde das Stück für Stück umgesetzt, und man sieht, dass das einen deutlichen Einfluss auf die Fallzahlen hatte.

Es gibt auch Wissenschaftler, die das Virus nicht für gefährlicher halten als ein normales Grippevirus. Als Laie kommt einem das widersprüchlich vor und man fragt sich, wie angemessen welche Schritte sind. Was sagen Sie? Ist das Virus wirklich so gefährlich, dass Kontaktbeschränkungen, Versammlungsverbote, das Herunterfahren der Wirtschaft notwendig waren?

Tatsächlich kann es für Laien erst einmal unverständlich sein, warum das aktuelle Coronavirus so viel schlimmer bewertet wird als Grippe. Mehrere 100.000 Menschen sterben jedes Jahr weltweit an der Grippe. Bisher bewegen sich die Todeszahlen durch Corona im unteren Bereich dessen. Allerdings reden wir über einen kleinen Zeitraum von drei, vier Monaten. Während eine Grippesaison in der Regel von Oktober bis Mai geht. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, und wir sehen durch dieses exponentielle Wachstum, wie schnell sich Todeszahlen nach oben schrauben können. Bei einem Grippevirus steckt ein Infizierter im Durchschnitt ein, zwei weitere Leute an, bei Corona sind es gleich zwei bis vier. Der Hauptunterschied liegt in der Art und Weise, wie das Virus funktioniert. Das Coronavirus vermehrt sich vor allem in den oberen Atemwegen. Dadurch scheiden wir es sehr schnell aus, unter Umständen bis zu zwei Wochen, bevor die Symptome eintreten. Bei vielen anderen Viren treten die Symptome schneller auf. Dadurch kann so eine Infektion viel früher eingedämmt werden, weil jemand, der krank ist und sich auch so fühlt, einfach zu Hause bleibt.

„Es gibt am Ende immer einen Rest Unsicherheit.“

Aber warum sind die Meinungen der Forscher teilweise widersprüchlich?

Die breite Öffentlichkeit erlebt jetzt vielleicht zum ersten Mal live mit, wie Wissenschaft funktioniert. Wissenschaft ist ein langwieriges Prozedere aus Einzeluntersuchungen, die dann hoffentlich ein Gesamtbild ergeben, das uns hilft, die Realität besser nachzuvollziehen. Es ist nicht so, dass wir ein Experiment machen und dann das fertige Ergebnis haben. Im Moment werden viele Studien veröffentlicht, die ganz natürlich auch alle ihre Begrenzungen haben. Wissenschaftler diskutieren dann darüber und es gibt am Ende immer einen Rest Unsicherheit, den man ohne eine weitere Studie nie ganz ausräumen kann. In der Kommunikation ist das daher sehr herausfordernd, insbesondere, weil jetzt immer politische Schlussfolgerungen und Maßnahmen auf diesen Ergebnissen basieren müssen.

Wenn derzeit die Maßnahmen gelockert werden, warnen Politiker und Wissenschaftler, dass wir auf eine zweite Infektionswelle zugehen könnten. Sehen Sie die Gefahr auch?

Ja, das ist eine Gefahr. Der Großteil der deutschen Bevölkerung ist immunologisch noch völlig naiv, eben weil wir die Fallzahlen sehr niedrig gehalten haben. Das heißt, das Immunsystem der meisten Menschen hat keine Erfahrung, wie es mit diesem Virus umgehen soll. Sobald die Einschränkungen gelockert werden, trifft das Virus, was immer noch gleich infektiös und pathogen ist wie vorher, auf nach wie vor immunologisch naive Menschen. Das Ansteckungsrisiko hat sich nicht verändert.

Aber es ist nicht vorstellbar, dass wir das öffentliche Leben einfach auf Dauer stilllegen, bis vielleicht nächstes Jahr ein Impfstoff da ist. Also müssen wir irgendwie mit dem Virus leben. Wie kann das aussehen?

Rein aus wissenschaftlicher Sicht natürlich wäre das Sinnvollste, zu warten, bis wir einen Impfstoff haben. Dass das nicht praktikabel ist, ist logisch. Die Wirtschaft leidet enorm, die mentale Gesundheit der Menschen ebenfalls. Deswegen gibt es aktuell Versuche, eine Kompromisslösung zu finden – maximaler Abstand mit minimalen wirtschaftlichen Folgen. Das heißt: immer noch sehr strikte Hygienemaßnahmen, die Maskenpflicht, Infektionsketten nachverfolgen und dann Menschen lokal isolieren, wo sich viele infizieren, und nicht mehr landesweit; parallel natürlich der Versuch, möglichst viele therapeutische Optionen bereitzustellen. Es gibt schon viele Versuche, Patienten mit Antikörpern zu behandeln. Medikamente, die bereits für andere Erkrankungen eingesetzt werden, werden auch gegen Corona getestet. Vermutlich haben wir bald mehr medikamentöse Optionen zur Verfügung, was etwas Spielraum schafft, bis ein Impfstoff bereitsteht.

Aber warum sind die Meinungen der Forscher teilweise widersprüchlich?

Die breite Öffentlichkeit erlebt jetzt vielleicht zum ersten Mal live mit, wie Wissenschaft funktioniert. Wissenschaft ist ein langwieriges Prozedere aus Einzeluntersuchungen, die dann hoffentlich ein Gesamtbild ergeben, das uns hilft, die Realität besser nachzuvollziehen. Es ist nicht so, dass wir ein Experiment machen und dann das fertige Ergebnis haben. Im Moment werden viele Studien veröffentlicht, die ganz natürlich auch alle ihre Begrenzungen haben. Wissenschaftler diskutieren dann darüber und es gibt am Ende immer einen Rest Unsicherheit, den man ohne eine weitere Studie nie ganz ausräumen kann. In der Kommunikation ist das daher sehr herausfordernd, insbesondere, weil jetzt immer politische Schlussfolgerungen und Maßnahmen auf diesen Ergebnissen basieren müssen.

Wenn derzeit die Maßnahmen gelockert werden, warnen Politiker und Wissenschaftler, dass wir auf eine zweite Infektionswelle zugehen könnten. Sehen Sie die Gefahr auch?

Ja, das ist eine Gefahr. Der Großteil der deutschen Bevölkerung ist immunologisch noch völlig naiv, eben weil wir die Fallzahlen sehr niedrig gehalten haben. Das heißt, das Immunsystem der meisten Menschen hat keine Erfahrung, wie es mit diesem Virus umgehen soll. Sobald die Einschränkungen gelockert werden, trifft das Virus, was immer noch gleich infektiös und pathogen ist wie vorher, auf nach wie vor immunologisch naive Menschen. Das Ansteckungsrisiko hat sich nicht verändert.

Aber es ist nicht vorstellbar, dass wir das öffentliche Leben einfach auf Dauer stilllegen, bis vielleicht nächstes Jahr ein Impfstoff da ist. Also müssen wir irgendwie mit dem Virus leben. Wie kann das aussehen?

Rein aus wissenschaftlicher Sicht natürlich wäre das Sinnvollste, zu warten, bis wir einen Impfstoff haben. Dass das nicht praktikabel ist, ist logisch. Die Wirtschaft leidet enorm, die mentale Gesundheit der Menschen ebenfalls. Deswegen gibt es aktuell Versuche, eine Kompromisslösung zu finden – maximaler Abstand mit minimalen wirtschaftlichen Folgen. Das heißt: immer noch sehr strikte Hygienemaßnahmen, die Maskenpflicht, Infektionsketten nachverfolgen und dann Menschen lokal isolieren, wo sich viele infizieren, und nicht mehr landesweit; parallel natürlich der Versuch, möglichst viele therapeutische Optionen bereitzustellen. Es gibt schon viele Versuche, Patienten mit Antikörpern zu behandeln. Medikamente, die bereits für andere Erkrankungen eingesetzt werden, werden auch gegen Corona getestet. Vermutlich haben wir bald mehr medikamentöse Optionen zur Verfügung, was etwas Spielraum schafft, bis ein Impfstoff bereitsteht.

„Wir sind es nicht gewohnt, dass wir persönlich Dinge nicht allein entscheiden können oder nicht unter Kontrolle haben.“

Wie würden Sie die Lage aus theologischer Sicht bewerten?

Die theologische Antwort dazu ist eine ethische – und auf jeden Fall eine schwierige. Man muss sich der Realität stellen, dass wir im Moment eine Extremsituation erleben und in der Spannung stehen: Ist es wichtiger, Leben zu schützen, oder ist es wichtiger, Jobs und Existenzen zu schützen? Das ist ein ethisches Dilemma und kann nicht nur auf politischer Ebene entschieden werden. Ich finde es wichtig, dass uns bewusst ist, dass es eine Pandemie ist, die uns was kostet. Die tragische Realität ist, dass es manche mehr kosten wird als andere. Als Einzelne müssen wir versuchen, was in unserer Macht steht, um andere zu schützen.

Es gibt immer lauter werdende Stimmen, auch von Christen, die aufgrund der Anti-Coronamaßnahmen Sorge haben, dass wir politisch auf einen Totalitarismus zusteuern –mit dauerhaften Freiheitsbeschränkungen und Überwachungen. Teilen Sie diese Sorge?

Aktuell teile ich sie nicht, weil ich glaube: Im Moment ist klar, dass diese Pandemie ein extremer Zustand ist, auf den auch mit zum Teil extremen Maßnahmen reagiert werden muss. Die Balance der eigenen Freiheit ist sowieso eine, die immer relativ ist. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der westlichen Welt in einer sehr behüteten Umgebung gelebt, ohne größere Kriege oder Naturkatastrophen. Wir sind es nicht gewohnt, dass wir persönlich Dinge nicht allein entscheiden können oder nicht unter Kontrolle haben. Daher ist es jetzt einfach, die Schuld bei einer Institution wie der Politik zu suchen. Das ist eine persönliche Wahrnehmungsfrage. Ist es mein Recht, völlig frei zu entscheiden? Oder sollte mein Handeln nicht vielmehr davon getrieben sein, was im Moment realistisch ist in der Gemeinschaft, in der ich lebe? Das ist schon ein westliches Problem. Denn es gibt ganz viele Menschen weltweit, die sowieso wenig frei entscheiden können. Zum Beispiel, weil es Umweltkatastrophen oder Hungersnöte oder schwierige Probleme gibt, die sowieso zur Handlung drängen, ohne dass sich diese luxuriöse Frage – Wie viel Freiheit habe ich in meinem Leben, wie viel Handlungsspielraum, wie viele Entscheidungsmöglichkeiten? – überhaupt stellt.

Wie würden Sie die Lage aus theologischer Sicht bewerten?

Die theologische Antwort dazu ist eine ethische – und auf jeden Fall eine schwierige. Man muss sich der Realität stellen, dass wir im Moment eine Extremsituation erleben und in der Spannung stehen: Ist es wichtiger, Leben zu schützen, oder ist es wichtiger, Jobs und Existenzen zu schützen? Das ist ein ethisches Dilemma und kann nicht nur auf politischer Ebene entschieden werden. Ich finde es wichtig, dass uns bewusst ist, dass es eine Pandemie ist, die uns was kostet. Die tragische Realität ist, dass es manche mehr kosten wird als andere. Als Einzelne müssen wir versuchen, was in unserer Macht steht, um andere zu schützen.

Es gibt immer lauter werdende Stimmen, auch von Christen, die aufgrund der Anti-Coronamaßnahmen Sorge haben, dass wir politisch auf einen Totalitarismus zusteuern –mit dauerhaften Freiheitsbeschränkungen und Überwachungen. Teilen Sie diese Sorge?

Aktuell teile ich sie nicht, weil ich glaube: Im Moment ist klar, dass diese Pandemie ein extremer Zustand ist, auf den auch mit zum Teil extremen Maßnahmen reagiert werden muss. Die Balance der eigenen Freiheit ist sowieso eine, die immer relativ ist. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der westlichen Welt in einer sehr behüteten Umgebung gelebt, ohne größere Kriege oder Naturkatastrophen. Wir sind es nicht gewohnt, dass wir persönlich Dinge nicht allein entscheiden können oder nicht unter Kontrolle haben. Daher ist es jetzt einfach, die Schuld bei einer Institution wie der Politik zu suchen. Das ist eine persönliche Wahrnehmungsfrage. Ist es mein Recht, völlig frei zu entscheiden? Oder sollte mein Handeln nicht vielmehr davon getrieben sein, was im Moment realistisch ist in der Gemeinschaft, in der ich lebe? Das ist schon ein westliches Problem. Denn es gibt ganz viele Menschen weltweit, die sowieso wenig frei entscheiden können. Zum Beispiel, weil es Umweltkatastrophen oder Hungersnöte oder schwierige Probleme gibt, die sowieso zur Handlung drängen, ohne dass sich diese luxuriöse Frage – Wie viel Freiheit habe ich in meinem Leben, wie viel Handlungsspielraum, wie viele Entscheidungsmöglichkeiten? – überhaupt stellt.

„Martin Luther und sein Umgang mit der Pest etwa ist eine gute Größe, um sich einzuloten bei der Frage: Wie kann man als Christ gesund auf einen Notstand reagieren?“, sagt Mirjam Schilling. In einem früheren Beitrag für pro beschreibt sie genauer, was man in Corona-Zeiten von Luther lernen kann. Foto: Harald Lange, fotolia
„Martin Luther und sein Umgang mit der Pest etwa ist eine gute Größe, um sich einzuloten bei der Frage: Wie kann man als Christ gesund auf einen Notstand reagieren?“, sagt Mirjam Schilling. In einem früheren Beitrag für pro beschreibt sie genauer, was man in Corona-Zeiten von Luther lernen kann.

Wie nehmen Sie den Umgang von Christen und Kirchen in dieser Krise wahr?

Viele Kirchen und christliche Träger haben sehr viel Aufwand betrieben und waren aktiv darum bemüht, mit den Mitteln, die sie haben, Gläubige und die Gesellschaft generell zu unterstützen. Von der praktischen Nachbarschaftshilfe bis hin zu virtuellen Jugendclubs, Online-Gottesdiensten, der Erstellung von Material wie Zeitschriften, Audiodateien, Videos. Man spürt, dass Kirche eine sehr lange Erfahrungstradition hat, wie auf Not, Hoffnungslosigkeit und Trauer reagiert werden kann. Ich glaube, dass die Bibel in der Hinsicht ein sehr ehrliches Bild von der Welt zeichnet. Und auch Kirchenväter waren nicht gefeit vor der Tragik, die eine Pandemie oder ein Krieg mit sich bringt. Martin Luther und sein Umgang mit der Pest etwa ist eine gute Größe, um sich einzuloten bei der Frage: Wie kann man als Christ gesund auf einen Notstand reagieren? Wir können ein bisschen selbstbewusster damit haushalten, weil wir da etwas haben, was die Naturwissenschaft und auch die Politik nicht bieten können: Einen großen Raum, um Lebensfragen zu diskutieren, mit Trauer umzugehen; Raum, nach Hoffnung zu suchen.

Welche inhaltlichen Chancen sehen Sie konkret, um mit der christlichen Botschaft in dieser Krise anzuknüpfen?

Ich stelle gerade fest: Ich habe vieles nicht unter Kontrolle. Das ordnet mich ein in den Gesamtzusammenhang der Welt – dass ich eben nicht Gott bin, sondern ein Mensch. Das ist eine geistliche Wahrheit, die ist hart zu verdauen. Aber es kann auch befreiend wirken, zu sehen: Ich bin limitiert, habe aber eine größere Hoffnung, in die ich mich hinein verankern kann, die außerhalb steht, sowohl zeitlich als auch räumlich. Das verändert meine Perspektive. Ich glaube, wir sind es nicht mehr gewohnt, zu klagen. Diese Konfrontation mit Leid – zumindest meine Generation hat sehr wenig Erfahrung mit. Aber das ist etwas zutiefst Biblisches und zutiefst Menschliches. Das anzuerkennen, kann uns eine gewisse Freiheit geben. Auch das Gebet ist etwas, das wir anzubieten haben für unser Umfeld. Und dann gibt es die ethische Diskussion, zu der Christen etwas beitragen können.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Doktorarbeit aus theologischer Perspektive mit Viren. Was kann uns ein Virus aus theologischer Sicht mitteilen?

Das Virus an sich sagt erst mal nichts. Das Interessante ist, dass Viren ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems sind für Pflanzen, Tiere und für uns. Die wenigsten Viren machen uns tatsächlich krank. Wir haben Sequenzen von Viren in unserem eigenen Erbgut. Oft herrscht das Bild vom Virus als Krankheitserreger vor. Das ist ein sehr kurzsichtiger Gedanke. Fragen, die man theologisch diskutieren kann, berühren zum Beispiel „gut“ und „böse“. Gibt es da überhaupt eine Grenze? Sind Viren gut und böse? Hat Gott Viren geschaffen? Dann gibt es die Frage: Was sagt das über meine eigene Identität und mein Wesen aus, wenn ich teilweise aus Virusgenom bestehe? Bin ich Teil des Virus, ist das Virus Teil von mir? Und natürlich gibt es die Diskussion um die These des Atheisten und Physikers Richard Dawkins: Ist Religion ein Virus oder nicht?

Vielen Dank für das Gespräch!

Wie nehmen Sie den Umgang von Christen und Kirchen in dieser Krise wahr?

Viele Kirchen und christliche Träger haben sehr viel Aufwand betrieben und waren aktiv darum bemüht, mit den Mitteln, die sie haben, Gläubige und die Gesellschaft generell zu unterstützen. Von der praktischen Nachbarschaftshilfe bis hin zu virtuellen Jugendclubs, Online-Gottesdiensten, der Erstellung von Material wie Zeitschriften, Audiodateien, Videos. Man spürt, dass Kirche eine sehr lange Erfahrungstradition hat, wie auf Not, Hoffnungslosigkeit und Trauer reagiert werden kann. Ich glaube, dass die Bibel in der Hinsicht ein sehr ehrliches Bild von der Welt zeichnet. Und auch Kirchenväter waren nicht gefeit vor der Tragik, die eine Pandemie oder ein Krieg mit sich bringt. Martin Luther und sein Umgang mit der Pest etwa ist eine gute Größe, um sich einzuloten bei der Frage: Wie kann man als Christ gesund auf einen Notstand reagieren? Wir können ein bisschen selbstbewusster damit haushalten, weil wir da etwas haben, was die Naturwissenschaft und auch die Politik nicht bieten können: Einen großen Raum, um Lebensfragen zu diskutieren, mit Trauer umzugehen; Raum, nach Hoffnung zu suchen.

Welche inhaltlichen Chancen sehen Sie konkret, um mit der christlichen Botschaft in dieser Krise anzuknüpfen?

Ich stelle gerade fest: Ich habe vieles nicht unter Kontrolle. Das ordnet mich ein in den Gesamtzusammenhang der Welt – dass ich eben nicht Gott bin, sondern ein Mensch. Das ist eine geistliche Wahrheit, die ist hart zu verdauen. Aber es kann auch befreiend wirken, zu sehen: Ich bin limitiert, habe aber eine größere Hoffnung, in die ich mich hinein verankern kann, die außerhalb steht, sowohl zeitlich als auch räumlich. Das verändert meine Perspektive. Ich glaube, wir sind es nicht mehr gewohnt, zu klagen. Diese Konfrontation mit Leid – zumindest meine Generation hat sehr wenig Erfahrung mit. Aber das ist etwas zutiefst Biblisches und zutiefst Menschliches. Das anzuerkennen, kann uns eine gewisse Freiheit geben. Auch das Gebet ist etwas, das wir anzubieten haben für unser Umfeld. Und dann gibt es die ethische Diskussion, zu der Christen etwas beitragen können.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Doktorarbeit aus theologischer Perspektive mit Viren. Was kann uns ein Virus aus theologischer Sicht mitteilen?

Das Virus an sich sagt erst mal nichts. Das Interessante ist, dass Viren ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems sind für Pflanzen, Tiere und für uns. Die wenigsten Viren machen uns tatsächlich krank. Wir haben Sequenzen von Viren in unserem eigenen Erbgut. Oft herrscht das Bild vom Virus als Krankheitserreger vor. Das ist ein sehr kurzsichtiger Gedanke. Fragen, die man theologisch diskutieren kann, berühren zum Beispiel „gut“ und „böse“. Gibt es da überhaupt eine Grenze? Sind Viren gut und böse? Hat Gott Viren geschaffen? Dann gibt es die Frage: Was sagt das über meine eigene Identität und mein Wesen aus, wenn ich teilweise aus Virusgenom bestehe? Bin ich Teil des Virus, ist das Virus Teil von mir? Und natürlich gibt es die Diskussion um die These des Atheisten und Physikers Richard Dawkins: Ist Religion ein Virus oder nicht?

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Mirjam Schilling, Jahrgang 1986, hat Molekulare Medizin in Freiburg studiert und im Fachbereich Virologie promoviert. Sie ist als Virologin an der Universität Oxford tätig. Berufsbegleitend hat sie Theologe studiert. Derzeit arbeitet sie an einem Promotionsprojekt zu theologischen Perspektiven auf Viren.

Die Fragen stellte Jonathan Steinert

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