Religion trennt und verbindet Menschen

Bei der Mehrzahl der Deutschen spielt die religiöse Identität eine wichtige Rolle. Die gesellschaftlichen Auswirkungen davon sind widersprüchlich. Das zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Studie. Freikirchler und Muslime fallen dabei besonders auf.
Von Norbert Schäfer
Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig

57 Prozent der Deutschen und 50 Prozent der Schweizer ist ihre Religionszugehörigkeit wichtig. Das ist ein Ergebnis einer Studie des deutsch-schweizerischen Forschungsprojektes „Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potenziale“ (KONID).

„Religion ist auch in den komplexen Gesellschaften Deutschlands und der Schweiz für soziale Identitäten eine prägende und strukturierende Größe“, schreiben die Wissenschaftler in dem Bericht, der am Mittwoch in Leipzig vorgestellt wurde. Die Forscher waren der Frage nachgegangen, ob Religion den Zusammenhalt in demokratischen Gesellschaften trennt oder fördert.

„Konsens über den Wert der Religionsfreiheit“

Laut der Studie sprechen sich 66 Prozent der Befragten in Deutschland und 60 Prozent in der Schweiz mit ausgeprägter religiöser Identität für einen interreligiösen Dialog aus. Die Forscher erkennen darin einen „in beiden Ländern nahezu geschlossenen Konsens über den Wert der Religionsfreiheit“ und damit das Potenzial, dass religiöse Verschiedenheit verbindend wirkt und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. „Die gesellschaftliche Wirkung der sozialen Identität Religion ist ambivalent. Religion trennt – und verbindet“, heißt es in dem Bericht.

„Um positiv in die Gesellschaft hineinzuwirken haben die Kirchen durchaus gute Voraussetzungen. Sie können beispielsweise ihre fast einmalige zivilgesellschaftliche Präsenz in der Breite der Gesellschaft nutzen, um Kontakte herzustellen und Gesprächsforen nicht nur für religiöse Themen bereitzustellen“, erklärte der Religionssoziologe Gert Pickel auf Anfrage. Pickel leitet das Forschungsprojekt gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener von der Universität Luzern. „Probleme ergeben sich dann, wenn Kirchen zu sehr nach innen denken und die Abschottung ihrer Mitglieder gegenüber der Gesellschaft befördern. So ist es gerade die soziale Seite von Religion, die in der religiösen Identität zum Ausdruck kommt – und dies bietet hier gute Anschlussmöglichkeiten an zivilgesellschaftliche Debatten“, erklärte Pickel.

Die Forscher wollten auch wissen, ob Religion gesellschaftlich produktiv ist, und gelangten zu dem Ergebnis: Religiosität und Engagement bestärken sich wechselseitig. „Wer in Deutschland seine religiöse Identität als äußerst wichtig ansieht, ist wesentlich häufiger gesellschaftlich engagiert (59 Prozent) als jemand, dem diese soziale Identität völlig unwichtig ist (48 Prozent)“, heißt es im Forschungsbericht.

Freikirchler und Muslime stellen Religion im Zweifel über Verfassung

Zudem fragten die Forscher danach, wie die Befragten die Grenze zwischen demokratischem Gemeinwesen und religiöser Wahrheit ziehen. Sie fanden heraus, dass ein Teil der Freikirchler und Muslime „im Konfliktfall“ der Religion den Vorrang gegenüber der Verfassung einräumen würden. Diese Ansicht ist dem Bericht zufolge in Deutschland mit 30 Prozent bei den Freikirchlern und 25 Prozent bei Muslimen deutlicher ausgeprägt als in anderen Bevölkerungsgruppen.

Als problematisch erachten die Forscher dabei weniger die Religionszugehörigkeit selbst. Probleme sehen sie vielmehr in religiös-dogmatischen und autoritären Einstellungen, die die Haltung zur eigenen und zu anderen Religionen prägen.

„Zum einen bringt eine starke religiöse Identität in dogmatischen religiösen Gruppen Abgrenzungsprozesse und Konfliktpotentiale hervor, zum anderen wirkt sie brückenbildend und stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, erklärte Pickel.

Religion strukturiert Gesellschaft

Die Studie zeigt auch, dass die religiöse Identität speziell für Mitglieder von Freikirchen und für Muslime eine große Rolle spielt. In den beiden volks- beziehungsweise landeskirchlichen Traditionen des Christentums ist die Identifikation mit der Religion dagegen niedriger ausgeprägt. Hier zeigt sich verstärkt eine Polarisierung in Christen, denen ihre Religion wichtig bis sogar sehr wichtig ist, und eine fast gleich große Gruppe, für die ihre Religionsmitgliedschaft eher ein Randaspekt ist. Gerade letztere seien das Reservoir für weitere Kirchenaustritte. Die Untersuchung offenbart zudem, dass Freikirchler und Muslime in den beiden Ländern am häufigsten über Diskriminierungserfahrungen berichteten, die jedoch „insgesamt moderat“ ausfielen.

Überraschend für die Forscher sei der Befund gewesen, dass Religion in Deutschland wie in der Schweiz gesamtgesellschaftlich eine Größe ist, um die soziale Identität Einzelner nachhaltig zu strukturieren – obwohl die Entwicklung der sozialen Identität zunehmend komplexer werde.

Für den „KONID Survey 2019“ haben die Wischenschaftler eine repräsentative Umfrage in Deutschland und der Schweiz durchgeführt. Dabei wurden in den beiden Ländern jeweils 3.000 Personen über 16 Jahren zu Zivilgesellschaft, sozialen Identitäten, religiöser Identität und Religiosität befragt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Schweizer Nationalfonds haben das KONID-Projekt gefördert.

Von: Norbert Schäfer

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