Skandal im Plärrbezirk

Öffentliche Empörung ist allgegenwärtig. Egal ob schlechte Karnevalswitze, Spekulationen über einen muslimischen Bundeskanzler, Rolexuhren an Politikerinnenhandgelenken oder Journalistengeburtstage mit falsch zusammengesetzter Gästeliste – jeder noch so kleine Anlass gereicht den Deutschen zum gemeinschaftlich zelebrierten Wutanfall. Woher kommt die Lust am Zetern? Und wohin führt sie?
Von Anna Lutz
Experten sind sich einig: Die Lust an der Wut wächst.

Als Annegret Kramp-Karrenbauer am 28. Februar gegen 17 Uhr auf die Bühne der Stockacher Narren trat, hat sie wohl kaum geahnt, dass dieser Abend ihr den Rest ihrer Karriere nachhängen wird. Die CDU-Vorsitzende kennt den Karneval. Seit Jahren tritt sie im heimischen Saarland als Putzfrau Gretel auf und nutzt das jecke Parkett, um die Zustände in der Berliner Politik zu durchleuchten, den Kollegen den ein oder anderen Seitenhieb mitzugeben und die Nähe zum kostümierten Volk zu demonstrieren. Bis zur diesjährigen Weiberfastnacht lief das gut für die mögliche künftige Kanzlerin. Wer den Karneval versteht, versteht auch die deutsche Seele, so dachten wohl auch Kramp-Karrenbauers Presseleute.

So trat sie wie viele andere Spitzenpolitiker in der sprichwörtlichen fünften Jahreszeit vor die Narrenzunft, kostümiert in schwarzem Samtkleid und mit rotem Barett. Sie stellte sich einem ausschließlich männlichen Narrengericht, das ihr unter anderem vorwarf, die CDU kastriert zu haben. Solcherlei Sexismus hält der Karneval aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich darüber zu beschweren. Auch nicht über die darauf folgende Vorstellung Kramp-Karrenbauerscher Stuhlproben oder der Bemerkung, das Publikum klatsche nur für die Politikerin, weil sich die anwesenden CDU-Jungmitglieder erhofften, sich noch mit ihrer Hilfe „hochschlafen“ zu können. Niemand warf ein Auge auf den Umgangston dieser Karnevalssitzung, das humoristische Niveau oder das fragwürdige sexistische Grundthema des Nachmittags. AKKs Aufgabe lautete: Ein Verteidigungsplädoyer halten, ihre Weiblichkeit verteidigen, ebenso wie ihre saarländische Herkunft. Und das tat sie ganz im Ton der politisch inkorrekten Karnevalistengilde.

So weit so gut, der Saal war verzückt, Kramp-Karrenbauer machte ihren Job auf der Bühne mit fastnächtlicher Leichtigkeit. Dann kam Minute zwanzig ihrer halbstündigen Rede und ihr Witz über die Latte-Macchiato-Fraktion in Berlin, die die Toiletten für das Dritte Geschlecht einführe und nicht mehr wisse, ob sie beim Wasserlassen stehen oder sitzen solle. Es ist einer der schlechteren Gags ihres Auftritts, er richtete sich gegen Männer, nicht gegen Intersexuelle, wie aus dem Zusammenhang leicht klar wird.

Ultimaten wegen eines Witzes

Das Stockacher Narrengericht sprach Kramp-Karrenbauer am Ende in zwei von drei Anklagepunkten schuldig. Die Öffentlichkeit verurteilte sie gleich ganz. Mit leichter Verzögerung drehte sich das Nachrichtenkarussell in der darauf folgenden Woche ganz und gar um Kramp-Karrenbauer. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil schimpfte sie „respektlos“, der FDP-Bundestagsabgeordnete Jens Brandenburg bezeichnete ihren Toiletten-Witz als „zum Fremdschämen“, Grünen-Chef Robert Habeck forderte eine Entschuldigung und Justizministerin Katarina Barley warf ihr vor, „billige Punkte“ mit Witzen über Minderheiten sammeln zu wollen – gemeint waren natürlich die Intersexuellen, nicht die Männer.

Es dauerte nicht lange, da ließen sich erste SPD-Abgeordnete dazu hinreißen zu verkünden, sie wollten Kramp-Karrenbauer nicht zur Kanzlerin wählen, träte Angela Merkel vorzeitig ab. Auch die Medien kommentierten fröhlich. Kaum eine deutsche Zeitung ließ ein gutes Haar an der Saarländerin. Ihre Zustimmungswerte stürzten im ZDF-Politbarometer auf einer Skala von -5 bis 5 von 1,4 auf 0,7. Ausgerechnet der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel behielt einen kühlen Kopf und fragte in die empörte Runde, ob sie denn nicht wisse, woher das Wort „Narrenfreiheit“ eigentlich komme. „Wenn wir jetzt anfangen, im Fasching jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, dann wäre vor zehn, zwanzig Jahren die Hälfte der Politiker in Haft genommen worden“, zitierte ihn die Zeitung Die Welt. Kramp-Karrenbauer selbst entschuldigte sich nicht, legte sogar noch einmal nach: Die Deutschen seien das verkrampfteste Volk der Welt, erklärte sie trotzig in ihrer Aschermittwochsrede.

Verkrampft, man mag es so nennen, wenn die Republik bei einem etwas schiefen Witz gegen Männer, bei dem auch Intersexuelle eine Nebenrolle spielen, „Skandal“ brüllt. Doch es steckt vielleicht noch viel mehr hinter dem, was derzeit landauf, landab zu beobachten ist: Die Deutschen erscheinen getrieben von einer eigenartigen Faszination des Unsagbaren. Sie suchen geradezu zwanghaft nach dem falschen Ton in der politischen Symphonie, nach dem Riss im PR-Gemälde öffentlicher Personen – und sei er noch so klein und unscheinbar. Beispiele dafür finden sich schon bei einem raschen Blick in die Tagespresse.

Wie ein Schattenkampf ohne Schiedsrichter

Ende Februar veröffentlichte die Evangelische Nachrichtenagentur idea ein Interview mit dem Unionsfraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus. Der Reporter stellte die durchaus gewitzte Frage, die später auch Überschrift des Interviews werden sollte: „Kann ein Muslim im Jahr 2030 für die CDU Bundeskanzler werden?“ Brinkhaus gibt die einzig mögliche Antwort: „Warum nicht, wenn er ein guter Politiker ist und er unsere Werte und politischen Ansichten vertritt.“ Eine Verneinung wäre nicht nur verfassungsrechtlich fragwürdig gewesen, sondern hätte auch alle engagierten Muslime in der eigenen Partei fürchterlich vor den Kopf gestoßen – und derer gibt es ebenso zahlreiche wie namhafte. Wieder mit einiger Verzögerung wird diese auf den ersten Blick harmlose Aussage Brinkhaus’ zum Streitthema Nummer eins in Deutschland.

Aber warum sehen heute so Nachrichten aus, die die Welt bewegen? Ein muslimischer Kanzlerkandidat ist nirgendwo zu sehen, Brinkhaus sprach aus, was er aussprechen musste. Die Debatte darum gleicht einem Schattenboxkampf ohne Schiedsrichter, dafür aber mit Schlagabtausch unter der Gürtellinie – zumindest in den sozialen Netzwerken. Auf Twitter forderten Kommentatoren, Brinkhaus wegen seiner Aussage als Gefährder einzustufen, seine Partei in „Islamisch Diktatorische Union“ umzubenennen, oder sie warfen dem Fraktionschef vor, er wolle das Grundgesetz gegen die Scharia eintauschen. Im Gegensatz zur Empörung über Kramp-Karrenbauer, die vor allem ins Zielfernrohr der feministischen Linken geraten war, kam die Kritik an Brinkhaus von rechts-konservativ bis nationalistisch. In ihrem Willen zur Skandalisierung sind sich die politischen Sphären offenbar ähnlich.

Das Satiremagazin Der Postillon machte sich einen Scherz daraus und titelte mit Bezug zu einem weiteren ebenso fragwürdigen Aufreger in zwei Hamburger Kindergärten: „SKANDAL! Muslimischer CDU-Kanzler auf Intersex-Toilette von kostümierten Indianern überfallen.“ In zwei von 900 Hamburger Kitas waren Indianerkostüme zu Fasching als unerwünscht benannt worden, weil sie Minderheiten diskriminieren könnten. Auch dieser Vorgang empörte die Öffentlichkeit tagelang und ließ viele über politische Korrektheit schimpfen. In der Tat, das Verbot ist absurd. Doch glauben wir wirklich daran, dass das Cowboy-und-Indianer-Spiel in Deutschland bald verboten sein wird? Und selbst wenn, ist uns ein Kinderspiel tatsächlich diese Form des Bluthochdrucks wert? Gibt es mit Blick auf die Europa-, oder anstehende Landtagswahlen nicht Wichtigeres zu besprechen?

Experten sind sich einig: Skandalisierung liegt im Trend. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht in diesem Zusammenhang von einer „Empörungsdemokratie“. Auf der einen Seite sehnten sich die Bürger dieser Gesellschaft nach einer öffentlichen Figur, die sie verehren könnten, andererseits seien sie getrieben von dem Wunsch, Vorbilder zu entzaubern. Weil sich heute jeder via Smartphone, Tablet oder Laptop live in die Debatte einschalten kann, sei letzteres viel eher möglich als noch vor zwanzig Jahren. Stimmt das, hat es Folgen. Und die sind sichtbar: Unruhe und Entgleisungen auf Publikumsseite. Unsicherheit, Nervosität und der Wunsch nach Ruhe auf Seite der ständig Beobachteten: Politiker und andere Prominente.

Heiliger Zorn?
Ein Blick in die Bibel

Aus Stricken knüpft sich Jesus eine Geißel, vertreibt damit alle Händler im Tempel. Die Tische stößt er um, die Kassen der Geldwechsler kippt er aus, und am Ende sagt er, die Menschen hätten aus dem heiligen Ort eine „Räuberhöhle“ gemacht. Deftige Worte, harte Taten. Manche Christen meinen: Wenn sogar Jesus dermaßen gewütet hat, dürfen wir das auch. Ist damit alles gesagt? Mitnichten. Durch das Neue Testament weht ein ganz anderer Geist, eine Gegenkultur zur Empörungssucht unserer Zeit. „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“, predigt derselbe Jesus, der die Händler mit der Peitsche aus dem Tempel fegte. Sanftmut und Selbstbeherrschung sind bei Paulus „Früchte des Heiligen Geistes“ – und das Gegenteil der „Werke des Fleisches“ wie Jähzorn und Missgunst. Frommes Duckmäusertum ist damit nicht gemeint: Im selben Brief kritisiert Paulus die Galater mit sehr ernsten Worten, weil sie das Prinzip der Gnade in Frage stellten und sich mit jüdischen Speisevorschriften selbst erlösen wollten. Natürlich ist es nicht immer eindeutig, welche Themen so zentral sind, dass sie für peitschenschwingende Empörung taugen. Immer gilt jedoch, wenigstens kurz innezuhalten, anstatt sich dem ersten Erregungsimpuls hinzugeben. Gelassenheit tut gut. „Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn“, schreibt Jakobus. Ins Internetzeitalter übersetzt: Zuerst denken, dann twittern.

 

Die Grenzenlosigkeit der öffentlichen Debatte liegt laut Pörksen auch daran, dass alte Wächter versagen. Früher agierten Medienmacher als sogenannte „Gatekeeper“. Sie hatten das Monopol über die Meinung. Was zum Skandal wurde, bestimmten sie durch Abdrucke und Sendezeiten. In seinem jüngsten Buch „Die große Gereiztheit“ stellt Pörksen fest, was heute anders ist: „Alles kann nun unmittelbar sichtbar werden; was gesagt wird, lässt sich – eben ohne massenmediale Vorfilterung – kommentieren und kritisieren. Die Deutungsmacht der Wenigen wird damit zum erbittert ausgefochtenen Meinungskampf der Vielen.“ Soll heißen: Im Zeitalter von Facebook und Twitter ist jeder Sender und Empfänger. Grenzen gibt es so gut wie keine mehr und auch niemanden mit Deutungshoheit. Medien verlieren an Einfluss. Anarchie macht sich breit. Und die Medien werden zu Getriebenen der öffentlichen Meinung, denn nun sind sie es, die auf Twitter- und Facebook-Einträge reagieren müssen und daraus Artikel generieren, damit ihnen im Wettbewerb der Journalisten kein Trend entgeht.

Damit einher geht laut dem Wissenschaftler, dass auch die abseitigsten Meinungen schnell öffentlich werden können und sogar Unterstützer finden, während sie vor einigen Jahren noch gar keine Plattform im Diskurs hatten. Sagbar ist plötzlich fast alles. Und für fast jede Meinung finden sich im Netz Unterstützer. Wer sich empören will, empört sich, findet Anhänger und wieder andere empören sich über die Empörung. Der Skandal ist überall und holt auch die Journalisten selbst ein. Längst werden sie genauso wie die Politik von Millionen Augenpaaren in der Republik kritisch beäugt, durchleuchtet und hinterfragt.

Kürzlich war es die private Geburtstagsfeier eines Journalisten, bei der die empörte Twittergemeinschaft wieder zuschlug. Matthias Matussek hatte am 9. März zu seinem Fünfundsechzigsten geladen. Einst war er gefeierter Reporter, später Kulturchef des Spiegel, bevor er bis 2015 als Kolumnist für Die Welt arbeitete. Matussek hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Seine konservativen Positionen wandelten sich in rechte und populistische Parolen. Voriges Jahr kletterte er auf einer Merkel-muss-weg-Demo am Hamburger Hauptbahnhof auf zwei Bierkisten und rief mit erhobener Faust zum „Widerstand“ auf.

Auf Matusseks Party trafen sich trotzdem die Freunde von früher. Weggefährten wie die Spiegel-Redakteure Jan Fleischhauer und Alexander Smoltczyk waren gekommen, TV-Moderator Reinhold Beckmann trug ein Lied mit Gitarre vor, das er im Anschluss deshalb als „vergiftet“ bezeichnete, weil er Matussek damit für seine politische Entwicklung in jüngster Zeit kritisieren wollte. Bei letzterem schien die Botschaft nicht ganz angekommen zu sein, als Matussek wie so oft, noch in der Nacht unzählige Partyfotos auf Facebook veröffentlichte und Beckmanns Auftritt als „glänzendes Ständchen“ bezeichnete. Die Fotos zeigen Matussek nicht nur mit mehr oder minder lustigen Geschenken wie einem Donald-Trump-Brettspiel und einer grünen Dackelkrawatte im Stile von AfD-Chef Alexander Gauland, sondern auch mit neuen Freunden zweifelhafter Gesinnung: Michael Klonovsky, früherer Focus-Journalist und heutiger Redenschreiber von Gauland, feierte ebenso mit wie Mario Müller von der völkisch geprägten „Identitären Bewegung“.

Durch die Veröffentlichung der Fotos wurde aus der Privatfeier ein Politikum. Unter dem Hashtag #mitRechtenfeiern ergossen sich auf Twitter Zorn und Unverständnis darüber, dass respektierte Medienschaffende wie Fleischhauer und Beckmann mit ihrem Erscheinen angeblich zur Rechtfertigung rechten Gedankenguts beitrügen. Über die Tatsache, dass die allermeisten Gäste gänzlich unverdächtig waren und den Identitären Müller kaum einer kannte, sahen die Empörten großzügig hinweg. Umso stärker missfiel ihnen, dass auch die ehemalige CDU-Politikerin Erika Steinbach und der Chefredakteur der Jungen Freiheit, Dieter Stein, mitfeierten – Menschen, die sicher ins rechtskonservative Spektrum gehören, aber kein Fall für den Verfassungsschutz sind. Das genügte, um die Meidung einer solchen Feiergesellschaft zum selbstverständlichen Akt der politischen Hygiene zu erklären.

Der ZDFneo-Moderator Jan Böhmermann verlangte von der Chefredaktion des Spiegels in einem stattlichen Fragenkatalog Auskunft darüber, ob sie vorab Kenntnis von der Geburtstagsteilnahme ihrer Mitarbeiter gehabt habe, inwiefern das Erscheinen bei der Feier mit den „journalistischen, ethischen und professionellen Standards“ des Spiegels vereinbar sei, ob es bereits ähnliche Privatveranstaltungen gab oder künftig welche geplant seien. Böhmermann hält es also für selbstverständlich, dass sich Spiegelredakteure vor dem Besuch von Geburtstagsfeiern – wohlgemerkt von langjährigen Mitarbeitern des Hauses – bei ihren Chefs erkundigen, ob sie das denn auch dürfen. In der realen Welt mag das piefig bis verstörend wirken, in Böhmermanns Twitterblase mit seinen 2,06 Millionen Followern nicht.

Die Spiegel-Chefredaktion reagierte erwartbar: Das Thema sei intern diskutiert worden, außerdem würden sich selbstverständlich alle Spiegelmitarbeiter von rechtsextremem Gedankengut distanzieren. Die wütende Twittergemeinde reagierte verständnislos: Offenbar ist es für sie undenkbar, wie man sich von Gedankengut distanzieren kann, ohne Freundschaften aufzukündigen.

„Ich finde die Aufregung absurd“, sagte Jan Fleischhauer eine Woche nach der Party gegenüber pro. Er wolle immer noch selbst entscheiden, welche Geburtstagsfeiern er besuche. Für Fleischhauer ist die Attacke aus dem Netz keine Petitesse. Das Vorgehen erinnere ihn an die RAF-bewegten Jahre der 1970er, als sich schon verdächtig gemacht habe, wer einen Kommunisten auch nur kannte. „Leute mit Geschichtsbewusstsein, die nicht irgendwelche Fernsehclowns sind, können so etwas nicht wiederhaben wollen. Aber dafür ist Böhmermann zu simpel.“ Es ist kein Zufall, dass Fleischhauer vom linken, aber alles andere als geschichtsvergessenen Journalisten Jakob Augstein Zuspruch bekam. Augstein nannte ZDF-Moderator Böhmermann ein „Grillwürstchen“.

Der Skandal ist überall

Auch der politischen Gegenseite schlägt der Zorn des Netzes entgegen. Besonders hart trifft es regelmäßig die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, vor allem wegen ihrer Haltung zu Israel und zum Islam. Ihre Eltern sind Palästinenser, sie selbst kam in West-Berlin auf die Welt. Unter Frank-Walter Steinmeier war sie von 2014 bis 2016 die erste Muslimin, die zur stellvertretenden Sprecherin des Auswärtigen Amtes berufen wurde. Heute ist sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. Im Oktober 2018 postete ein Facebooknutzer ein Pressefoto von Chebli. Darauf hatte er eine Rolexuhr identifiziert, Modell „Datejust 36“, Preis: 7.300 Euro. „Alles was man zum Zustand der deutschen Sozialdemokratie 2018 wissen muss^^“ (sic!), kommentierte der Mann. In den Sozialen Medien folgten Spott und Häme für die Politikerin, die bekannt dafür ist, Designerkleidung zu tragen, und überall perfekt gestylt auftritt. Tenor: Wer Luxusuhren trägt, hat den Bezug zu den Menschen verloren, die die SPD vertreten wolle.

Rolex, Sawsan Chebli und SPD – passt das zusammen? Das Netz fand: Nein. Foto: Facebook/Screenshot pro
Rolex, Sawsan Chebli und SPD – passt das zusammen? Das Netz fand: Nein.

Dass Chebli sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet hat und es ihre Entscheidung ist, wofür sie ihr Geld ausgibt, schien kaum jemanden zu interessieren. Dem Entrüstungssturm hielt Chebli entgegen: „Wer von Euch Hatern hat mit 12 Geschwistern in 2 Zimmern gewohnt, auf dem Boden geschlafen&gegessen, am Wochenende Holz gehackt, weil Kohle zu teuer war? Wer musste Monate für Holzbuntstifte warten? Mir sagt keiner, was Armut ist. #Rolex“ (sic!).

Filterblasen sorgen dafür, dass dieser Empörungsmechanismus vor allem dann greift, wenn die eigene Meinung bestätigt wird. Die Algorithmen von Facebook und Twitter gewährleis­ten, dass der Nutzer zusehends abgeschirmt wird von Meinungen, die nicht der eigenen entsprechen. Welchem Twitterer mit welchen politischen Haltungen man folgt, bei wem man einen „Like“ hinterlässt, auf welche Links man klickt: Soziale Medien lernen ihre Nutzer stündlich besser kennen und bauen ihnen einen Raum, in den vor allem die Inhalte gelangen, die ihnen ein wohliges Gefühl der Selbstbestätigung geben. Das ist anders als bei journalistischen Medien. Wer morgens seine Zeitung oder eine Nachrichtenseite liest, mag sich über viele Artikel freuen, aber mit hoher Sicherheit wird er auch Texte finden, über die er nur den Kopf schütteln kann.

Twittergurus, -sekten und -päpste

Solch ein Meinungspluralismus ist den Filterblasen bei Twitter fremd. Bisweilen nimmt diese Einfalt religiöse, wenn nicht sektiererische Züge an. Twittergemeinden haben ihre Gurus und Päpste, ihre Glaubenssätze und Dogmen. Ein zu geringes Maß an Selbstsicherheit und moralischem Überlegenheitsgefühl wertet die Gemeinde als Schwäche und Mangel an Glauben. Was zählt, sind nicht die nachdenklichen Zwischentöne, sondern der bissigste, der lustigste, der zynischste Tweet. Wer das am besten macht, den ermutigen die Glaubensgeschwis­ter mit einem Herzchen oder einem Retweet. Ihren politischen Glauben bekennen Twitterer unisono, während sie auf anders denkende Freunde zunehmend gereizt reagieren.

Twitter ist ein extrem schnelles und weltumspannendes Medium. Aber es ist auch ein Instrument der Spaltung, der Polarisierung und Radikalisierung. Irrlehrer werden dank Blocklisten ganz gemieden, und wer sich mit ihnen blicken lässt oder ein Like an der falschen Stelle hinterlässt, kommt ins Gerede. Wer sich beim falschen Thema im Ton vergreift, muss nicht nur um Freundschaften, sondern sogar um den Job bangen. Dabei geben sich die politischen und religiösen Lager nichts.

Die Vermutung liegt nahe, dass der politische Twitter-Puritanismus irgendwann auch Auswirkungen hat auf das echte Leben. „Hypermoral“ nennt der Philosoph Alexander Grau diese Form der Ideologisierung aller Lebensbereiche. Ziel sei nicht mehr die sachliche Debatte, „sondern da geht es nur noch um letzten Endes weltanschauliche Positionierung und darum, den eigenen weltanschaulichen Hintergrund möglichst moralisch hochgekocht zu legitimieren“, sagte er dem Deutschlandfunk.

Und noch etwas kommt hinzu: Nichts bleibt in einer Welt der unzähligen Sender geheim. Nicht der Witz über Toiletten für das Dritte Geschlecht von AKK. Nicht die Rolex am Handgelenk, nicht der kleinste Versprecher oder Stolperer. Schwächen kann sich heute kein Politiker mehr leisten. Als Hillary Clinton im Wahlkampf gegen Donald Trump einen Schwächeanfall erlitt, war das Video, das zeigte, wie sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, rasch in jedem Haushalt.

Pörksen vergleicht das mit der Amtszeit Franklin D. Roosevelts, des amerikanischen Präsidenten von 1933 bis 1945. Was viele nicht wissen: Der geachtete Politiker war in Folge einer Polio-Erkrankung gehbehindert. Er war auf Krücken, ja sogar einen Rollstuhl angewiesen. Doch es gelang ihm, das während seiner Amtszeit weitestgehend zu verheimlichen. Nur drei Fotografien und ein kurzer Film zeigen ihn im Rollstuhl. Heute wäre das undenkbar. Überall lauert die Smartphonekamera, deren Aufnahmen innerhalb von Sekunden ins öffentliche Netz transportiert werden können.

Authentizität wird zur Mangelware

Vertuschung ist kaum noch möglich. Alles ist öffentlich. Privatheit existiert nicht mehr. Das hat Vorteile: Bürger können von Politikern kaum noch getäuscht werden. Doch es sorgt auch dafür, dass der Druck auf letztere steigt. Noch einmal Pörksen: „Was wäre eigentlich, wenn wir auf YouTube ein verwackeltes Handyvideo anschauen könnten, das Willy Brandt zeigt, wie er in einem Hotel in Warschau, dirigiert von einem Imageberater, vor dem Spiegel seines Hotelzimmers wieder und wieder den Kniefall probt? Hätte seine Geste noch diese so unendlich traurig scheinende Würde, könnte sie überhaupt noch wirken?“ Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist an dieser neuen Öffentlichkeit gescheitert. Ebenso wie CSU-Hoffnung Karl-Theodor zu Guttenberg oder Bundespräsident Christian Wulff.

Wen wundert es da, dass Politiker zunehmend versuchen, sich aus der gnadenlosen Netz-Öffentlichkeit zurückzuziehen, wie jüngst Grünen-Chef Robert Habeck? Im Januar verkündete dieser nach einem missglückten Tweet seinerseits und der Veröffentlichung privater Daten durch Dritte seinen Abschied von Twitter. Schnell stellte die Öffentlichkeit die Frage: Darf ein Politiker das heutzutage noch? Daran zeigt sich: In der Empörungsdemokratie erwartet der Bürger absolute Transparenz von seiner Obrigkeit. Verweigert diese sie, reagiert er – na klar – empört.

Politiker selbst wappnen sich durch Zurückhaltung. In einer Welt, in der jeder Stolperer, jeder Blick, jeder blöde Witz zum Skandal gereicht, begibt man sich nur perfektioniert in den öffentlichen Raum. Die Folge: Ehrlichkeit und Authentizität werden zur Mangelware. Provokante Interviews bekommen Journalisten heute nur noch selten. Vorbei sind die Zeiten, in denen ein Kanzler Gerhard Schröder sich dazu hinreißen ließe, Wladimir Putin vor laufenden Kameras als „lupenreinen Demokraten“ zu bezeichnen oder in denen ein zu vereidigender Minister Joschka Fischer im hessischen Landtag mit Turnschuhen auftritt.

Heute ist jedes öffentliche Wort glattgebügelt und tausendmal geübt, die Anzüge sitzen, die Schuhe sind geputzt. Außer im Karneval vielleicht. Doch auch das hat nun wohl ebenfalls sein Ende gefunden.

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 2/2019 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können die pro hier bestellen.

Von: Anna Lutz und Nicolai Franz

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