Vermischungskultur: Die Werte der Generation Online

Seit einigen Jahren verändert sich das Interessenspektrum der jungen Generation langsam, aber ständig. Sie zieht sich immer mehr von Themen und Diskussionen zurück, die sich mit der Gesellschaft, den politischen Möglichkeiten, der Wirtschaft, den sozialen Fragen oder kulturellen Themen beschäftigen, schreibt eine der Geschäftsführerinnen des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, diese Woche in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Das ist das Ergebnis von unterschiedlichen Experten, die sich mit der Generation der unter 30-Jährigen auseinandergesetzt haben.
Von PRO

Tiefer gehendes Interesse an Politik bekunden heute nur noch 9 Prozent der Jugendlichen bis 30 Jahre. Bei den Menschen über 30 zeige das Interessenspektrum hingegen kaum Veränderungen. Ähnlich sieht es mit dem Interesse an Umweltthemen aus: während Ende der neunziger Jahre in der Altersklasse bis 30 noch 83 Prozent zumindest begrenzt an Umwelt- und Naturschutzthemen interessiert waren, sind es heute nur noch 68 Prozent. Der engagierte Kern dieser Gruppe sank von 27 auf 16 Prozent, so die Experten des Allensbach-Institutes. Rückläufig war etwa auch das Interesse an Literatur und klassischer Musik. Die Meinungsforscher fanden heraus: Der Anteil derer, die gerne (auch) klassische Musik hören, ist innerhalb dieses Jahrzehnts in der Altersklasse unter 30 Jahren von 26 auf 15 Prozent gesunken.

Kommunikationstechnologie und Instant-Information

Vor allem ist es die Kommunikationstechnologie, die bei heutigen Jugendlichen starkes Interesse weckt. Computer, Internet, Handy, digitales Fernsehen und digitale Fototechnik bestimmen die Freizeitaktivitäten der Menschen unter 30. Köcher schreibt: „Fast alle Themen, die zum einen mit dem klassischen Bildungskanon und zum anderen mit der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden sind, finden heute weniger Aufmerksamkeit, während Informationen, die unmittelbar auf den eigenen Alltag übertragen werden können und zur Optimierung von Beruf, Kaufentscheidungen und Privatleben dienlich sind, stabiles oder sogar größeres Interesse finden“, so Köcher.

Laut Allensbach veränderten sich die Werte der jungen Menschen signifikant: „Erfolg im Beruf, ein hohes Einkommen, ein gepflegtes Aussehen, aber auch eine eigene Familie, Kinder zu haben, sind den jungen Menschen bis 30 Jahre heute wichtiger als vor einem Jahrzehnt, gesellschaftliche Ziele dagegen weniger wichtig.“ Dies betreffe auch soziale Gerechtigkeit, obwohl dieses Thema in letzter Zeit in der öffentlichen Diskussion eine regelrechte Renaissance erlebt habe, so die Forscherin.

Mit dem Nachlassen am Interesse für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen sinke auch das Informationsbedürfnis: Junge Menschen heute nähmen Abstand von einem „kontinuierlichem Informieren“. Der Anteil derer, die über das aktuelle Geschehen auf dem Laufenden sein wollen, sank allein in den letzten fünf Jahren von 45 auf 37 Prozent.

Große Veränderungen erlebte bekanntermaßen die Mediennutzung. Allein in der Zeit zwischen 2000 und 2002 wurde das Internet in der jungen Altersklasse vom Minderheiten- zum Massenmedium. Damals nutzten bereits 59 Prozent der Menschen bis 30, jedoch nur ein Drittel der Gesamtbevölkerung das Internet; heute sind bereits 86 Prozent der jungen Generation online, 60 Prozent der Bevölkerung.

„Fastfood-Information“?

Die Tageszeitungen hingegen hätten einen „erdrutschartigen“ Einriss bei den jugendlichen Lesern erfahren. Dies habe jedoch nicht erst Ende der neunziger Jahre mit dem Siegeszug des Internets, sondern bereits nach 1990 begonnen. Damals lasen noch 66 Prozent dieser Altersklasse regelmäßig eine Tageszeitung, 2000 waren es 53 Prozent, heute 41 Prozent. In der gesamten Bevölkerung liegt die Reichweite von Tageszeitungen immer noch bei rund 70 Prozent.

Dabei ersetzten Internet und Fernsehen bei den Jüngeren keineswegs die Zeitung, sondern sie seien eine ganz andere Art Nutzungsgewohnheit. Das Internet spiele als Informationsquelle über das aktuelle Geschehen in der jungen Generation nur eine geringe Rolle, so Allensbach. Im Durchschnitt informierten sich nur 15 Prozent dieser Altersklasse mit Hilfe des Internets über das aktuelle Geschehen. Stattdessen nutzten junge Menschen das Netz vor allem für Kommunikation und für die gezielte Information bei Bedarf. Köcher: „Man informiert sich dann, wenn man etwas Bestimmtes wissen will.“ Eine Folge davon sei auch, dass eine Gesellschaft, die teilweise auf kontinuierliche Information und Urteilsbildung verzichtet, „spontaner, in der Urteilsbildung beweglicher, sogar sprunghafter und anfälliger für Manipulation“ werde, so Köcher.

Die Generation des Postmaterialismus‘

Die Werte der jungen Generation haben sich gewandelt, fand auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin heraus. Selbstentfaltung, Lebensqualität, Emanzipation und gesellschaftliche Beteiligung stünden in der Priorität mittlerweile höher als sozialer Aufstieg oder wirtschaftliche Sicherheit. Die Soziologen schließen durch ihre Studien auf einen „Postmaterialismus“, der viel mehr Wert auf Lebensqualität und Selbstentfaltung als auf „Ruhe und Ordnung“ lege. Die meisten Postmaterialisten gebe es unter Selbständigen, Menschen mit Abitur, Anhängern von Bündnis 90/Die Grünen und in der jüngeren Generation, schreiben die Forscher.

Martin Kroh, Autor der Studie, die auf den Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) basieren, erklärt: „In den letzten 20 Jahren ist der Anteil der Menschen mit postmaterialistischen Werten unter den Westdeutschen von 38 auf 47 Prozent gestiegen. Besonders überrascht hat uns, dass sich in Ostdeutschland innerhalb von nur zehn Jahren der Anteil der Postmaterialisten von 22 Prozent auf 45 Prozent verdoppelt und damit fast das westdeutsche Niveau erreicht hat.“ Insgesamt scheint der Wertewandel in allen Gesellschaften in Deutschland gleich zu sein. Allerdings machten die Forscher einen Unterschied zwischen den parteipolitischen Präferenz aus: die Anhänger von Bündnis90/Die Grünen sind zu drei Vierteln Postmaterialisten, die Anhänger der Unionsparteien zu zwei Dritteln Materialisten.

„Kein Kulturverfall zu befürchten“

Auch der Zukunftswissenschaftler und Politikberater Horst Opaschowski setzte sich für seine Studie „Deutschland 2030“ mit der Zukunft der Jugendlichen auseinander. Immer mehr Menschen leben und wohnen allein, stellte er fest. Schon jetzt lebe in den Großstädten jeder Dritte allein. Im Jahr 2030 werde die Mehrheit der über 60-Jährigen nicht verheiratet, sondern ledig, verwitwet oder geschieden sein. Opaschowski, der seit 1975 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg ist, leitet seit 1979 das B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut. Seine 800 Seiten starke Studie, die demnächst erscheint, versucht hochzurechnen, wie die Menschen im Jahre 2030 leben werden.

Die Forschungsergebnisse von Allensbach überraschten ihn nicht, sagte der 67-Jährige in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, doch er hält der Erkenntnis vom Aufstieg der neuen Medien bei gleichzeitigem Einbruch im klassischen Bildungskanon unter Jugendlichen entgegen, dass es immer eine „Riesenkluft zwischen Interesse und Aktivität“ gebe: „Schon vor 30 Jahren legten die Deutschen großen Wert auf Theater und Volkshochschule, aber sie sind fast nie hingegangen. Oder denken Sie an die Umweltschutzdebatte. Natürlich sagt man, man ist umweltinteressiert. Aber wenn es wehtut, ändert man sein Verhalten nicht.“

Opaschowski fügt hinzu: „Mit der Unterscheidung E und U – Ernst und Unterhaltung – kommt man heute nicht mehr klar. Es gibt so etwas wie eine Vermischungskultur, eine Integrationskultur. Zum Beispiel die Tenöre, die singen heute in Fußballstadien. Die Popkonzerte finden mitunter in Kirchen statt.“ Die junge Generation habe in den vergangenen 30 Jahren geradezu eine kulturelle „Angebotsexplosion“ erlebt. Allerdings ist der Forscher überzeugt: „Web frisst nicht Fernsehen, wie man immer vorausgesagt hat. Das Fernsehen und auch das Radio leben weiter.“ Anlass für eine Diskussion um einen „Kulturverfall“ sieht er jedenfalls nicht. (PRO)

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