Flüchtlingshilfe: Als evangelikaler Pastor unter linksradikalen Veganern

Am Strand von Chios warten keine kalten Herzen, sondern warme Decken auf die durchgefrorenen Flüchtlinge. Pastor Alexander Hirsch hilft ihnen, inmitten von Aktivisten und Berufsdemonstranten. Am Anfang stand eine besondere Berufung. Aufgezeichnet von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Alexander Hirsch mit seiner Frau auf Chios

Klitschnass erreichen sie die griechische Insel Chios. Eigentlich sind die wackligen Schlauchboote für 20 Personen ausgelegt, besetzt sind sie mit mindestens 50 Flüchtlingen. In dieser Nacht im Januar 2016 sind drei schwangere Frauen dabei. Es herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Schon ab acht Grad kann der Körper lebensgefährlich unterkühlen. Wir stabilisieren das Schlauchboot. Manchmal springen die Insassen kurz vor dem Strand aus dem Boot auf, aus Freude, es endlich geschafft zu haben. Doch noch zehn Meter vor dem Strand kann das Wasser tief sein. Bis zum Schluss ist die Fahrt über das Mittelmeer lebensgefährlich.

Und jetzt auch noch das: Eine der schwangeren Frauen bekommt am Strand Wehen. Der Krankenwagen, den wir rufen, kommt nicht. Weil ein Kollege sie tags zuvor wegen einer Lappalie alarmiert hatte, nehmen die Rettungskräfte die Notrufe heute wohl nicht mehr ernst. Was tun? Ein Freiwilliger setzt die Frau kurzerhand in den Mietwagen, mit dem wir nachts an der Küste Patrouille fahren, und bringt sie ins Krankenhaus. Wer so etwas tut, kann wegen Schlepperei verurteilt werden. Doch manchmal muss man eben einfach handeln. Die Geburt ist gut verlaufen. Gott sei Dank.

Auch tagsüber behalten die Freiwilligen das Meer im Blick. Seit dem EU-Türkei-Deal kommen weniger Flüchtlinge nach Chios. Foto: Alexander Hirsch
Auch tagsüber behalten die Freiwilligen das Meer im Blick. Seit dem EU-Türkei-Deal kommen weniger Flüchtlinge nach Chios.

Kurz vor Weihnachten 2015 wäre mir im Traum nicht eingefallen, dass ich wenige Tage später Flüchtlingen auf Chios helfen würde. Ich las einen Artikel über zwei Marburger Studentinnen, die auf Lesbos halfen. Schöne Aktion, dachte ich, schnitt den Artikel aus und ging zur Tagesordnung über. Kurz darauf hörte ich einen Bericht der christlichen Aktivistin Christine Caine über ihren Einsatz gegen Menschenhandel in Griechenland. Für mich war das ein Wink vom Himmel. Mir kamen die Tränen. Ich wusste: Jetzt bist du dran, jetzt musst du handeln.

Ich besprach die Sache mit Gott im Gebet und mit meiner Frau. Mein Zeitfenster für einen Einsatz war begrenzt: Vom Abschluss der Weihnachtsfeierlichkeiten in der Gemeinde bis zum Start der Gebetswoche der Evangelischen Allianz Mitte Januar. Über die beiden Studentinnen aus dem Zeitungsartikel kam ich in Kontakt mit einer Facebook-Gruppe. Am Zweiten Weihnachtsfeiertag buchte ich den Flug, am 28. Dezember saß ich im Flieger und blieb bis zum 8. Januar auf Chios.

Flüchtlinge bezahlen mit dem Leben, ich mit 20 Euro

Ich reise über das türkische Çesme ein. Dort warten die Flüchtlinge auf ihre Weiterreise nach Europa. Sie hausen in einer verrotteten, halb fertig gebauten Ferienhaussiedlung, ohne Wasser, ohne Strom. Gestank von Urin und verbranntem Plas-tik liegt in der Luft. Kinder laufen barfuß über das Geröll. Von der Küste aus kann man Chios sehen. Manche Flüchtlinge bezahlen die Überfahrt mit ihrem Leben, ich mit einem 20-Euro-Schein.

Auf Chios angekommen, helfe ich vor allem im Kleiderlager beim Sortieren, später kommen Patrouillenfahrten hinzu. Mit kleinen Mietwagen fahren immer zwei Freiwillige pro Auto nachts den Küstenstreifen ab. Ab und zu muss man horchen: Ist jemand am Strand? Oder gar bereits auf der Landstraße? Im Kofferraum haben wir trockene Kleidung, sortiert nach Größen, Wärmedecken, Schlafsäcke, Müsliriegel, Wasserflaschen. Genug für 20 Männer, 20 Frauen und 15 Kinder.

In den Mietwagen ist das Allernötigste für die ankommenden Flüchtlinge verstaut Foto: Alexander Hirsch
In den Mietwagen ist das Allernötigste für die ankommenden Flüchtlinge verstaut

In manchen Nächten sind es bis zu 20 Schlauchboote mit jeweils mindes-tens 50 Personen. 1.000 Flüchtlinge pro Nacht – das bedeutet absoluter Krisenmodus. Wenn wir Freiwilligen die Ankommenden mit trockener Kleidung versorgt haben, rufen wir einen Polizeibus, der sie in ein Registrierungscamp fährt, eine nackte Fabrikhalle aus Beton. Dort warten sie oft bis zum nächsten Morgen, ohne etwas zu essen oder zu trinken.

„Eigentlich hielt ich mich für liberal-konservativ. Heute schwanke ich zwischen konservativ und „links-grün-versifft“, je nach Situation.“

Auf Chios habe ich einen Zorn entwickelt, den ich bisher noch nicht kannte. An einem Abend fahre ich wieder Patrouille. Als wir an einer Polizeistation vorbei kommen, stehen dort 20 Menschen in Rettungswesten vor der Glastür des hell erleuchteten Gebäudes. Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, triefend nass, bibbernd vor Kälte. Drinnen verhören Polizisten einige Männer, weil sie sie für Schlepper halten. Alle anderen müssen draußen warten. Nicht einmal Decken für die Kleinkinder geben sie heraus.

Irgendwann wird mir gestattet, dass ich Frauen und Kinder mit Kleidung versorgen darf – die Männer gehen leer aus. Mein Weltbild gerät ins Wanken. Eigentlich hielt ich mich für liberal-konservativ. Heute schwanke ich zwischen konservativ und „links-grün-versifft“, je nach Situation. Ich bin bürgerlich aufgewachsen und habe gelernt, dass die Polizei „dein Freund und Helfer“ ist. Und hier stehen nun Menschen in existenzieller Not, die Polizisten sehen das und kümmern sich einen Dreck. Mitten in der EU.

Ich bin immer noch wütend. Und ich will es bleiben, will weiter zornig über Ungerechtigkeit sein. Ich habe mich gefragt, ob solche Gefühle geistlich in Ordnung sind. Ja, das sind sie: „Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“, sagt Jesus in der Bergpredigt. So geht es mir. Ich habe zwar keinen Frieden mit der elenden Situation der Flüchtlinge, aber ich kann mein Bestes geben, damit sich etwas ändert.

Die Freiwilligen hier kommen aus aller Welt, meist aus dem linken Spektrum. Studenten, Schüler, Lebenskünstler, Berufsdemonstranten, Aktivisten, Lehrer, Rentner, seltener mal ein Pastor. Die Wirtsleute sind oft der Verzweiflung nahe, weil es so viele Veganer gibt – für die griechische Küche eine Herausforderung. Hier prallen Welten aufeinander.

Flüchtlingshelfer auf Chios Foto: Alexander Hirsch
Flüchtlingshelfer auf Chios

Zwei Israelis erzählen mir von bewusstseinserweiternden Pilzen, ich solle sie unbedingt mal probieren. Ich erzähle ihnen von Jesus. Ein Freund aus Berlin, ebenfalls Freiwilliger auf Chios, schimpft auf Facebook über diese „rechtsnationalen“ Aktivisten vom „Marsch für das Leben“, die in ihrem „religiösen Wahn“ durch Berlin marschierten. Als ich ihm schreibe, dass ich auch einer der Teilnehmer dieses Marsches sei, entwickelt sich eine gute und faire Diskussion.

Seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei kommen viel weniger Menschen auf Chios an. Das bedeutet: Die anderen machen die Drecksarbeit für uns. Mehr Menschen wählen die wesentlich tödlichere Mittelmeerroute über Sizilien. Menschenrechte haben nichts mit Nettsein zu tun. Es ist egal, ob die Menschen dankbar sind und ob sie nur bei Grün über die Straße gehen. Die Feuerwehr kommt auch nicht nur dann, wenn es bei netten Menschen brennt. Es kann nicht sein, dass Menschen vor Krieg fliehen und auf unsicheren Schlauchbooten durch die Eiseskälte schippern müssen.

Deutschland hat 2016 800.000 Menschen aufgenommen. Die befürchteten „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ gibt es nur im Kopp-Verlag und im Kopf von Donald Trump. Erstaufnahmeländer wie Pakistan und Jordanien sind am Anschlag. Da ist das Boot wirklich voll, bei uns nicht. Manchmal, wenn ich Christen schlecht über Flüchtlinge reden höre, bekomme ich Sehnsucht nach meinen linksradikalen Veganern auf Chios.

Auf dem Heimweg meiner ersten Reise betrachte ich das Meer. Ich kann es nicht mehr auf dieselbe Weise anschauen wie früher. Es ist hoher Seegang. Ich hoffe, dass keiner draußen ist. Die Leute um mich herum könnten genauso gut in einem Schlauchboot sitzen. Denn Flüchtlinge sind Menschen wie wir: Ärzte, Handwerker, Ganoven und Mütter. Ich kann frei von Chios nach Çesme fahren, weil ich eine Plastikkarte habe, auf der „Deutschland“ steht.

Andere zahlen für die Gegenrichtung im Schlauchboot bei Sturm 1.000 Euro. Ich muss einfach heulen. Die Krise ist nach wie vor nicht gelöst. Seit Wochen kommen wieder mehr Menschen auf Chios an. Sie erwartet ein ungewisses Schicksal in kalten Zelten. Ich fühle mich machtlos. Und doch: Jeder kann helfen, dass sich etwas ändert. Gerade wir Christen sollten für Herzenswärme sorgen.

Alexander Hirsch ist Pastor der Anskar-Kirche in Marburg. 2017 gründete er mit Freunden einen Verein, der die Flüchtlingshilfe auf Chios unterstützt (www.offenearme.de). Foto: Alexander Hirsch
Alexander Hirsch ist Pastor der Anskar-Kirche in Marburg. 2017 gründete er mit Freunden einen Verein, der die Flüchtlingshilfe auf Chios unterstützt (www.offenearme.de).

Von: Nicolai Franz

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