Expertenbericht: Antisemitismus mitten unter uns

Bei 20 Prozent der deutschen Bevölkerung haben Experten antisemitische Tendenzen festgestellt. Am Montag stellten Wissenschaftler und Politiker aller Fraktionen einen "Antisemitismus-Bericht" vor. Demnach ist Judenfeindlichkeit in der Bundesrepublik nach wie vor an der Tagesordnung, besonders unter Rechtsextremisten.

Von PRO

Quer durch die gesellschaftlichen Schichten ziehe sich ein latenter Antisemitismus, also eine Judenfeindlichkeit, die sich weniger in Taten als in Grundeinstellungen ausdrücke. Peter Longerich, Professor an der Universität London, sprach von "weit verbreiteten Vorurteilen", "tief verwurzelten Klischees" und "schlichtem Unwissen", das zu allgemeiner Kritik an Juden führe. Es gebe sowohl traditionelle Ressentiments, als auch Klischeedenken mit Bezug auf den Holocaust und die Existenz des Staats Israel. Verbreitet sei etwa der Vorwurf, dass Juden Vorteile aus der Geschichte des Holocaust zögen. Longerich stellte auch fest, dass Antisemitismus gerade unter "heftigen Israelkritikern" weit verbreitet sei. Die Experten gaben an, undifferenzierte Israelkritik nehme in Deutschland enormen Raum ein. Rechne man diese zu den antisemitischen Tendenzen hinzu, müsse von über 40 Prozent statt von 20 gesprochen werden.

Das Netz trägt den Antisemitismus weiter

Das rechtsextremistische Lager sei noch immer der bedeutendste Träger antisemitischen Gedankenguts. 90 Prozent der entsprechenden Straftaten stammten aus diesem Personenkreis. Doch auch im Islamismus und Linksextremismus sei Antisemitismus verbreitet. So listen die Experten etwa für das Jahr 2010 insgesamt 1.268 antisemitische Straftaten und 37 Gewalttaten auf. 31 der letzteren stammen demnach aus dem "rechten" Lager, bei den Straftaten sind es 1.192. Über moderne Medien werde dieses Gedankengut weiter verbreitet. Julius Schoeps, Direktor des "Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien", betonte, antisemitische Tendenzen in dieser Größenordnung seien in der deutschen Gesellschaft nichts Neues. Mit dem Problem kämpfe die Bundesrepublik von jeher. Juliane Wetzel vom "Zentrum für Antisemitismusforschung" wünschte sich deshalb eine enge Zusammenarbeit staatlicher Organisationen, von Politik, Gesellschaft und den Kirchen, um den Kampf gegen Antisemitismus zu "verstetigen".

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) forderte, die "Zyklen medialer Konjunktur" zu durchbrechen. Antisemitismus sei ein dauerhaftes Problem, die Medien berichteten aber nur aus aktuellem Anlass über die Gefahr der Judenfeindlichkeit. Hans-Peter Uhl (CSU) sprach davon, "jede Form von Antisemitismus zu ächten", besonders vor dem Hintergrund der neuesten Forschungsergebnisse. Er wünschte sich aber auch Zurückhaltung: "Nicht jede Schmiererei ist immer gleich inhaltsstarker Antisemitismus." Gabriele Fograscher (SPD) sprach von einer "erschreckend" hohen Zahl der Straftaten. Diese müsse "uns Mahnung und Auftrag sein". Sie sieht "Handlungsbedarf" bei der Erarbeitung einer Abwehrstrategie und erklärte, der Expertenkreis Antisemitismus müsse vom Bundestag auch weiterhin personell und finanziell ausgestattet werden. Serkan Tören (FDP) wies darauf hin, dass immer weniger Menschen in Deutschland den Nationalsozialismus erlebt haben. Der demografische Wandel fördere zudem, dass gerade Migrantenkinder den Holocaust nicht mehr als Teil ihrer eigenen Geschichte begriffen. Gerade die Schulen seien daher herausgefordert, den Kindern diesen Teil der Historie nahe zu bringen.

"Keine Randerscheinung"

Katrin Göring-Eckardt (Bündnis ’90/Die Grünen) erklärte, 20 Prozent seien "keine Randerscheinung". Lehrpläne und Unterrichtsstunden müssten so gestaltet werden, dass sie langfristig Antisemitismus bekämpften. Auch die Gedenkstättenarbeit sei hier gefordert. Petra Pau (Die Linke) mahnte: "Es gibt keine politische und gesellschaftliche Strategie gegen Antisemitismus." Hier sei der Bundestag gefordert, "eine nachdenkliche und sachliche Debatte über den Expertenbericht" zu führen und "nicht aufeinander zu zeigen". Antisemitismus ziehe sich quer durch die Gesellschaft und damit auch durch die Parteien. Pau vermisse einen "öffentlichen Aufschrei" angesichts gegen Juden gerichteter Straftaten. In einem kommenden Bericht will sich das Expertengremium auch mit der Linkspartei auseinandersetzen. Erst im vergangenen Jahr waren einzelne Politiker der Linken wegen antisemitischer und israelfeindlicher Äußerungen in die Kritik geraten. (pro)

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