Exodus in der Kirche: Die Einmann-Show ist ein Auslaufmodell

Die beiden Großkirchen haben im letzten Jahr 660.000 Mitglieder verloren: durch Exitus und durch Exodus. Exodus im Sinne von auswandern. Menschen emigrieren aus einer Körperschaft, die ihnen nichts (mehr) bedeutet. Oder sie wechseln zu einer freikirchlichen Gemeinde, die sie geistlich mehr fordert und fördert. Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von Jürgen Mette
Der Theologe Jürgen Mette leitete viele Jahre die Stiftung Marburger Medien. 2013 veröffentlichte er das Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte.

Was wären Analysen und Prognosen ohne den Verweis auf demografische Effekte, die jedes unerfreuliche Ergebnis elegant aufhübschen. Ob es um die Rente, die ärztliche Unterversorgung auf dem Land oder den Pflegenotstand geht, immer nimmt der Verweis auf die Demografie der bedrückenden Nachricht den Schrecken. Demografische Fakten sind unausweichlich, aber man kann sie schönreden und schlechtreden. 660.000 weniger Mitglieder der Kirchen in einem Jahr, das ist rein statistisch betrachtet ein schmerzlicher Verlust, der jedoch rein wirtschaftlich angesichts des florierenden Arbeitsmarktes durch die steigenden Kirchensteuereinnahmen, die an die Einkommensteuer und Lohnsteuer gekoppelt sind, ausgeglichen werden kann. Es tut also nicht wirklich weh. Und was nicht weh tut, bewirkt auch keine Veränderung. Freie Gemeinden müssen den Laden dicht machen, wenn die Gemeinde ihre Anziehungskraft verliert. Dann wird zuerst der Pastor entlassen, dann das Gemeindehaus verkauft und der treue Rest zum Appendix der nächsten Gemeinde mutiert.

Die beiden Volkskirchen arbeiten weitgehend nach dem Motto: „Selig sind die Beine, die am Altar stehen alleine!“ Der hauptamtliche Pfarrer oder die Pfarrerin zelebriert ein konstantes Programm namens „Wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit, AMEN!“ auch wenn nur 1 Prozent der Mitglieder am gemeindlichen Leben teilnehmen und höchstens 0,1 Prozent aktiv mitwirken. Mein Respekt für diesen treuen Versorgungsdienst. Arbeiten ohne ständige Fixierung auf das Gemeindewachstum. So etwas klappt nur mit der Kirchensteuerinfusion. Positiv betrachtet, eine Solidargemeinschaft, die auch die Miniatur von Kirche schätzt und flächendeckend präsent ist. Die Freikirchler sollten diese Grundversorgung seitens der Landeskirchen dankbar registrieren.

Erwartungen an Mitglieder höher schrauben

Das Modell Volkskirche wirkt vielerorts wie ein kränkelnder Patient, der auf der Intensivstation an der Infusion namens Kirchensteuer hängt. Ohne dieses komfortable System einer monetären Infusion wären die beiden Großkirchen längst nicht mehr liquide. Ich bin nicht für die Abschaffung der Kirchensteuer, es wird ja auch (meistens) viel Gutes damit getan, aber dieser seelenlose Finanztransfer schafft keine Bindung an die Ortsgemeinde. Dieser auf der Taufe beruhende und mit dem Augenblick der Steuerpflichtigkeit automatisch aktivierte Steuereinzug wird zwar gelegentlich aus der linken oder liberalen Ecke in Frage gestellt, aber dieser Deal zwischen Thron und Altar hält sich erstaunlich. Die meisten Kirchenmitglieder nehmen am Gemeindeleben vor Ort gar nicht teil, aber sie akzeptieren die Kirchensteuer, weil man Stress mit der frommen Oma vermeiden möchte und weil man auf die kirchlich-rituellen Serviceleistungen wie Trauung, Taufe, Konfirmation und Beerdigung nicht verzichten möchte oder bewusst seine Kinder in die Obhut eines kirchlichen Kindergartens geben möchte.

Liegt dieser Exodus möglicherweise daran, dass die Volkskirchen ihre Leute nicht mehr in die Pflicht nehmen? Außer Kirchensteuer zahlen, gibt es keine Verpflichtung mehr, nicht zur Teilnahme und Mitwirkung am gemeindlichen Leben, nicht zum öffentlichen Bekenntnis des Glaubens. Es wird grundsätzlich niemand ausgeschlossen. Wer gehen will, muss sich selbst abmelden. Vorher ist jeder Atheist, Gottesleugner, Bibelverweigerer, Esoteriker und jedes religiös unmusikalische Mitglied im volkskirchlichen Sinne noch ein Christ. Vielleicht sollten wir die Kirchengemeinden ermutigen, die Erwartungen an ihre Mitglieder höher zu schrauben, sie so zu prägen, dass ihnen die Mitarbeit eine Ehre ist. Wenn 20 Leute an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligt sind, haben 20 Leute keine Chance, Sonntagmorgen im Bett zu bleiben. Sie werden gebraucht: im Kirchenkaffee, in der Musik, im Empfangsdienst, in der Kinderbetreuung. Die Einmann-Show ist ein Auslaufmodell, die ohne die Infusion Kirchensteuer längst kollabiert wäre.

Trotz zurückgehender Mitgliedszahlen der beiden Volkskirchen und trotz der Stagnation der etablierten Freikirchen gilt uns die Verheißung, dass der HERR der Kirche sich seiner Herde selbst annehmen wird. Das ist keine Frage der Demografie. Und das brauchen freie und landeskirchliche Gemeinden gleichermaßen.

Von: Jürgen Mette

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