Evangelikal – was ist das?

Über die Frage, was den Begriff "evangelikal" ausmacht, hat Moderator Jürgen Werth mit Gästen in der Sendung "Wartburg-Gespräche" diskutiert. Die Sendung wurde am vergangen Dienstag im "ERF" ausgestrahlt. Die US-amerikanische Sprach- und Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally riet dazu, den Begriff nicht zu verwerfen oder ihn der "religiösen Rechten" zu überlassen, sondern anzunehmen und ihn mit einer neuen, breiteren Bedeutung zu füllen.
Von PRO

Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten neben Pally der amtierende Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, der Theologe Michael Diener, der Journalist und Moderator Andreas Malessa und der Jugendevangelist Tobias Schöll.

Marcia Pally, die zur Zeit eine Gastprofessur im Rahmen eines Forschungsstipendiums an der Humboldt-Universität in Berlin inne hat, versteht Evangelikalismus als "einen Zugang zum Protestantismus." Dieser Zugang drücke sich etwa aus in dem Schwerpunkt einer persönlichen Beziehung zu Jesus und der Einladung an andere, eine solchen Beziehung anzustreben. So stünde für Evangelikale das Kreuz als Symbol für Errettung und Dienst.

Malessa sieht den Evangelikalismus als theologisch und politisch konservativen Flügel des Protestantismus. Innerhalb der evangelischen Kirchen seien es Menschen, die sich selber als wertkonservativ bezeichneten, die eine große Nähe zu einem praktizierten, gelebten Glauben, tätiger Nächstenliebe und großer Wertschätzung der Bibel hätten.

"Evangelikale haben eine schlechte Presse"

Michael Diener, ehrenamtlicher Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Deutschland (DEA), beschreibt Evangelikalismus mit drei Worten: "Auch – gut – evangelisch."  Wenn Menschen gut evangelisch seien, bedeute das, dass sie sich in ihrem Lebensalltag an die Grundprinzipien des evangelischen Glaubens hielten und den Gottesdienst besuchten. Im tiefsten Wortsinne würden sie die Hauptinhalte evangelischen Glaubens mit einer gewissen Überzeugungskraft vertreten. Nach Dieners Empfinden habe evangelikales Christsein eine schlechte Presse, weil es "nicht Mainstream" sei. Die Festlegung, die einen seien fromm und evangelisierten, die anderen seien liberal und veränderten die Welt, funktioniere so in Deutschland nicht mehr.

Tobias Schöll sieht Evangelikale als Christen, die versuchten, die Bibel als Maßstab zu nehmen, die missionarisch seien, was bedeute, dass man sich gleichsam sozial engagiere und evangelistisch aktiv sei. Evangelikale versuchten nach seiner Meinung, bewusst und aktiv die Gesellschaft mit zu prägen in Politik, Arbeitswelt, Bildung und privatem Umfeld.

Nach Meinung von Werth beschrieben die Medien Evangelikale in den USA als einen eher konservativen, politisch tendenziell rechts stehenden Strom der Bevölkerung. Laut Pally waren die Evangelikalen in den USA des 18. und 19. Jahrhunderts eine fortschrittliche Bewegung, die staatliche Ausbildung unterstütz hätten, sich gegen die Sklaverei und gegen die Ausrottung der Indianer engagierten. So seien Evangelikale auch an der Gründung vieler ziviler Verbände beteiligt gewesen, die nach dem Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville das Fundament der USA bildeten. Auch in Fragen der Aussenpolitik seien die Evangelikalen fortschrittlich gewesen. Erst im 20. Jahrhundert hätten sie in den USA eine Kehrtwende zum Traditionalismus vollzogen. Seit nunmehr sechs oder sieben Jahre beobachte man eine vielstimmige Bewegung, bei der viele die rechten Ränder verlassen hätten und jetzt Positionen vertreten, die man in Deutschland als fortschrittlich oder "links" bezeichnen würde.

Nach Auffassung Pallys seien "Evangelikale" früher ausschließlich durch ihre Positionen gegen Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe identifiziert worden. Für die "neuen Evangelikalen" seien hingegen wirtschaftliche Gerechtigkeit und Umweltschutz sehr wichtig.

Pally erklärte, dass sich viele Jugendliche mit dem Etikett "evangelikal" unwohl fühlten, da sie wirtschaftlichen und politischen Position der "religiösen Rechten" ablehnten. Die beste Antwort sei es, den Begriff nicht zu verwerfen oder ihn der religiösen Rechten zu überlassen, sondern anzunehmen und ihn mit einer neuen, breiteren Bedeutung zu füllen. (pro)

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