Latasch zeigte sich schockiert über die öffentliche und weitgehend auch im Internet geführte Debatte zur Beschneidung. Er wies auf fremdenfeindliche Kommentare zum Thema hin, die sich gegen Muslime und Juden in Deutschland richteten, aber auch gegen ihn persönlich. "Das normale Maß" einer Diskussion sei "überschritten", erklärte er. Es sei "ungeheuerlich", eine Beschneidung als sexuelle Gewalt zu bezeichnen, wie dies derzeit geschehe. Bei einer jüdischen Beschneidung gebe es zuvor eine Anamnese, Schmerzmittel würden verwendet. Der Eingriff dauere ungefähr 12 Sekunden. Ein Verlust sexueller Leistungsfähigkeit durch eine Beschneidung sei nicht nachzuweisen. Die Komplikationsrate liege bei weit unter einem Prozent. Latasch räumte allerdings ein, dass Neugeborene Schmerzen fühlten und auch ein Schmerzgedächtnis hätten. Allerdings existiere kein Beweis dafür, dass der Eingriff zu einem Trauma führe.
Warnung vor "Beschneidungstourismus"
Der muslimische Medizinethiker Ilhan Ilkilic nannte das Beschneidungsritual zwischen dem 7. Lebenstag und der Geschlechtsreife unerlässlich und eine Grundpflicht muslimischer Eltern. Der Eingriff sei zwar irreversibel, wenn er aber fachgerecht durchgeführt werde, entstehe kein gesundheitlicher Schaden. Im Gegenteil sei er sogar wegen seines medizinisch präventiven Charakters empfohlen. Eine strafrechtliche Ahndung halte Muslime nicht vom Eingriff ab. Ilkilic warnte vor einem "Beschneidungstourismus", dessen Folge das Einbüßen medizinischer Qualitätsstandards wäre. Außerdem müssten Kinder mit Diskriminierungen und Ausgrenzungen rechnen, wenn sie nicht beschnitten seien.
Der Theologe Peter Dabrock rief dazu auf, den "Blick zu weiten". "Im Juristischen darf diese Debatte nicht stehen bleiben", erklärte er. Offensichtlich sorgten Religionsgemeinschaften, die ihren Glauben anders als die säkulare Mehrheit verstehen, zunehmend für "Sprengstoff" in der Gesellschaft. Die "Passt euch an"-Rufe führten zu Empörung unter Gläubigen, für die dies ein schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit und in das religiöse Erziehungsrecht darstelle. "Uns fehlt eine solide Grundlage medizinischer Daten", stellte Dabrock fest. Eine nicht von Interessen geleitete Datenlage sei nicht zu finden. Offensichtlich sei beiden Seiten am Kindeswohl gelegen: Den religiösen Eltern, die ihre Kinder entsprechend erziehen wollten und den Beschneidungsgegnern, die deren Recht auf körperliche Unversehrtheit forderten. Die Parteien definierten Kindeswohl lediglich unterschiedlich. Es müsse daher ein Kompromiss gefunden werden, der für beide akzeptabel sei. Dabrock schlug dazu die Fortbildung nichtmedizinischer Beschneider vor. Schmerztherapeutische Maßnahmen sollten obligatorisch werden, ebenso wie Klinikaufenthalte. Dabrock sprach sich für einen Gewissensvorbehalt für Ärzte aus, die den Eingriff nicht durchführen wollten und für ein Vetorecht älterer Jungen.
"Beschneidung ist rechtswidrig"
"Die frühkindliche Knabenbeschneidung ist rechtswidrig", erklärte hingegen der Jurist Reinhard Merkel. Es gebe kein Recht, dass dazu befuge, in die körperliche Freiheit eines anderen einzugreifen, außer Notrechte. Daher sei es "bizarr", wenn Religionsgemeinschaften ein solches Recht erhielten. Jede Art von Gewalt gegen den kindlichen Körper sei verboten und die Beschneidung ein gewaltsamer Akt. Merkel prangerte Versuche an, die Risiken des Eingriffs zu verharmlosen. Ohne Anästhesie sei die Beschneidung "qualvoll". Jüdische Beschneidungen in Deutschland würden größtenteils ohne eine solche Betäubung durchgeführt. "Grob unterschätzt" würden auch die Folgen des Eingriffs. Merkel sprach von "katastrophalen" Konsequenzen. Allein in den USA gebe es jährlich 117 Todesfälle durch Beschneidungen. Käme heute eine unbekannte Religionsgemeinschaft nach Deutschland und hätte die Bundesrepublik zuvor nicht von dieser Praxis gehört, würde die Beschneidung verboten, ist er sich sicher. Einen "rechtspolitischen Notstand" sieht er dennoch. Die Bundesrepublik müsse im Umgang mit jüdischen Belangen besondere Sensibilität walten lassen. So forderte er, bei Beschneidungen müsse sichergestellt sein, dass es eine Anästhesie gebe und dass diese auch ausreichend wirksam sei. Der Eingriff müsse durch geprüftes Fachpersonal in einer Klinik durchgeführt werden, und ihm müsse eine umfassende Aufklärung der Eltern vorausgehen. Er regte zudem eine Erforschung psychosexueller Folgen und eine Meldepflicht für schwere Komplikationen an.
Der Verfassungsrechtler Wolfram Höfling kam zu dem Schluss, dass die Beschneidung vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt sei. Der Staat komme erst ins Spiel, wenn Kindeswohl in Gefahr sei. Valide Ergebnisse, etwa zur Traumatisierung durch die Beschneidung, vermisse er. Ein Vergleich mit weiblicher Genitalverstümmelung sei ausgeschlossen. Deren Ziel sei die Diskriminierung und Demütigung des Kindes. Davon könne bei der Beschneidung bei Knaben nicht die Rede sein. Er betonte, das Erziehungsanliegen religiöser Eltern müsse ernst genommen werden. Daher sprach er sich für eine grundsätzliche Anerkennung, aber auch für die Respektierung des Widerstandes älterer Kinder aus. (pro)