„Es war Zeit für diese Debatte”

Julia Klöckner ist seit März Präsidentin des Bundestages und schon wenige Tage später sorgte sie mit Kirchenkritik für Aufruhr. Im PRO-Interview erzählt die Katholikin, wie sie die Debatte erlebt hat und warum die Kirche nach wie vor ihre Heimat ist.
Von PRO

PRO: Frau Präsidentin, wissen Sie, welche der Fraktionen im Bundestag am häufigsten über andere lacht?

Julia Klöckner: Ja, das ist die AfD. Allerdings nicht aus Heiterkeit.

Die Stenographen des Bundestags unterscheiden zwischen Heiterkeit als Ausdruck positiver Stimmung und Lachen im Sinne von Spott. Jeder AfD-Abgeordnete hat 2024 im Durchschnitt viereinhalbmal gelacht. Und auch darüber hinaus polarisiert die Fraktion im Hohen Haus. Ist der Umgang mit der Partei für Sie persönlich eine Herausforderung?

Das kann ich nicht pauschal beantworten, denn alle Fraktionen bestehen aus Abgeordneten, also aus Menschen, die sehr unterschiedlich sind. Ich mache da als Bundestagspräsidentin keinen Unterschied. Es geht darum, ob sich Abgeordnete an die Regeln des Parlaments halten oder nicht. Dass ich die Inhalte der AfD nicht teile, sollte klar sein. Wir sollten aber aufpassen, dass wir uns nicht auf eine Gruppe einschießen, und alle anderen können machen, was sie wollen.

Foto: Annette Riedl/PRO
PRO-Redakteure im Gespräch mit Julia Klöckner

Der Verfassungsschutz hat die gesamte AfD, nicht nur einzelne Politiker, als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Als Präsidentin agieren sie überparteilich. Geht das überhaupt bei so einer Partei?

Wir müssen differenzieren. Das eine ist die Partei, das andere sind die gewählten Abgeordneten der Fraktion. Das Mandat bleibt vom Gutachten unberührt. Für mich als Bundestagspräsidentin gilt für den Umgang mit den Abgeordneten die Geschäftsordnung – und zwar für alle.

Sie wurden erstmals vor 23 Jahren in den Bundestag gewählt. Wie hat sich aus Ihrer Sicht in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Debattenkultur im Hohen Haus verändert?

Nicht nur im Bundestag nehmen wir eine zunehmende Polarisierung der Debatten wahr, auch sonst in der Öffentlichkeit und auch im Journalismus sehen wir Veränderungen: Viele Medien berichten heute schneller und zugespitzter, oft, um mehr Klicks zu erzielen. Auch das Internet verändert die Debattenkultur – Diskussionen aus dem Plenarsaal setzen sich online in schärferem Ton fort. Kompromisse werden häufig als faule Kompromisse abgewertet. Selbst minimale Meinungsunterschiede führen zu heftigen Auseinandersetzungen. Das schadet dem Austausch in der Sache.

Foto: Annette Riedl/PRO

Julia Klöckner

Die CDU-Politikerin Julia Klöckner ist seit März Präsidentin des Deutschen Bundestages und bekleidet damit das offiziell zweithöchste Amt im Staat. Von 2018 bis 2021 war sie Bundesministerin für Landwirtschaft und Ernährung und kandidierte zwei Mal für den Posten der Ministerpräsidentin in ihrem Heimatland Rheinland-Pfalz. Sie verlor zunächst knapp gegen Kurt Beck (SPD) und dann mit ebenfalls geringem Abstand gegen Malu Dreyer (SPD). Klöckner ist Katholikin und spricht auch in der Öffentlichkeit oft über ihren Glauben. Zuletzt entfachte sie an Ostern in der „Bild“-Zeitung eine Debatte darüber, wie und zu was sich die Kirche politisch äußern sollte.

Verändert das die Art, wie Politiker agieren?

Ja, absolut. Auch wir Politiker nutzen digitale Kanäle, um vor allem junge Menschen zu erreichen. In der Nutzung dieser Kanäle liegt aber auch eine Gefahr. Halbsätze können aus dem Kontext gerissen oder uminterpretiert werden und führen dann vielleicht zu Shitstorms. Mit künstlicher Intelligenz kommen neue Herausforderungen – Stichwort „fake news“. Es ist schwieriger geworden, einen Gedanken, seine Meinung in der Sache zu äußern, ohne dass daraufhin sofort eine zugespitzte Schlagzeile entsteht. Die Erwartungshaltung gegenüber Politikern ist widersprüchlich: Einerseits der Wunsch nach Authentizität, wenn aber ein Politiker authentisch ist, dann wird er dafür angegriffen.

Was können Sie als Präsidentin des Parlaments tun, um eine gesündere Debattenkultur zu ermöglichen?

Jeder Parlamentarier trägt dafür Verantwortung. Ich bin als Bundestagspräsidentin nicht die Erziehungsberechtigte der Abgeordneten. Aber ich glaube schon, dass wir als Parlament stilgebend sind. Wenn der Ton im Bundestag hart wird, kann das in die Gesellschaft ausstrahlen, auch hart miteinander umzugehen.

Apropos harte Töne: Sie haben der Kirche zu Ostern in der „Bild am Sonntag“ vorgeworfen, sie werde austauschbar, wenn sie tagespolitische Stellungnahmen abgebe wie eine NGO und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick habe. Die Debatte ist hochgekocht, die Medien berichteten wochenlang darüber. Haben Sie sich in dieser Zeit mal darüber geärgert, dass Sie dieses Fass aufgemacht haben?

Nein. Vielleicht gehört es sogar zu meinem Amt, hin und wieder auch eine Debatte anzustoßen – die muss nicht immer zum Wahlrecht sein. Es ist interessant, wer sich an der Debatte alles beteiligt hat, vor allem auch Stimmen, die sonst mit der Kirche wenig zu tun haben oder sich sogar über sie beschweren.

Viel Kritik an Ihrer Aussage kam aus den Reihen der SPD und der Grünen. Die Kirche müsse sich politisch äußern dürfen.

Selbstverständlich darf sie sich politisch äußern, etwas anderes habe ich nie gesagt! Aber Kirche muss über den Alltag und das Irdische hinausweisen. Ich bedaure, wenn sie sich zu Themen wie dem Tempolimit äußert, aber zu Fragen des Lebensschutzes leise bleibt. Und das sage ich nicht von außen in die Kirche hinein, sondern als gläubige Katholikin und Kirchenmitglied.

Foto: Annette Riedl/PRO
Klöckner: „Christen sollten Anwälte für das Leben sein. Da wünsche ich mir ein stärkeres Engagement der Kirchen.“

Der Rat der evangelischen Kirche schweigt mitnichten zum Thema Abtreibungen. Er hält eine Abschaffung des Abtreibungsverbots in Paragraf 218 ausdrücklich für möglich. Ganz im Gegensatz zur CDU.

Aus manchen evangelischen Strömungen dagegen gibt es Unterstützung für Paragraf 218. Mit der Bibel ist keine Politik zu machen, hat Reinhold Niebuhr (amerikanischer evangelischer Theologe, †1971; d. Red.) gesagt. Dennoch finde ich, Christen sollten Anwälte für das Leben sein. Da wünsche ich mir ein stärkeres Engagement der Kirchen.

Ist die Kirche Ihnen vielleicht gar nicht zu politisch, sondern zu wenig konservativ?

Ich stelle nur fest: Je tagespolitischer Kirche wird, desto mehr wird sie schließlich als Partei wahrgenommen – und Parteien stehen immer zur Wahl! Der Kern der Relevanz einer Kirche liegt nicht in ihrer allgemeinpolitischen Betätigung. Die Politik kann für die Kirche kein festeres Band sein, als der gemeinsame Glaube. Kirche darf niemanden im Streit um politische Auffassungen verlieren. Es gibt viele Parteien, aber für einen getauften Christen nur eine Kirche.

„Mein Amt verpflichtet mich zur Neutralität, aber nicht zur Gleichgültigkeit.“

Es war nicht das erste Mal, dass Sie der Kirche Politisierung vorgeworfen haben. 2018 sagten Sie der „Zeit“: „Bei manchen Kirchenvertretern verwundert mich, dass sie sich mehr mit Tagespolitik wie Windkraft oder Gentechnik beschäftigen als mit der klassischen Seelsorge und der Frage, warum die Kirchen so leer sind.“ Damals gab es keinen Skandal. Haben Sie unterschätzt, welches Gewicht Ihre Stimme als Bundestagspräsidentin jetzt hat?

Mein Amt verpflichtet mich zur Neutralität, aber nicht zur Gleichgültigkeit. Ich bin nicht nur ein Instrument, um eine Geschäftsordnung auszuführen. Wenn mir ein Journalist eine Frage stellt, dann antworte ich. Und wenn mein Standpunkt solche Wellen schlägt, dann ist das vielleicht auch ein Zeichen, dass es Zeit für diese Debatte war. Viele, die mich anhand der zugespitzten Schlagzeilen reflexhaft kritisiert haben, hatten das Interview offenbar nicht einmal gelesen. Die Diskussion hat sich völlig abgekoppelt von dem, was ich wirklich gesagt habe.

Sie haben auf dem Kirchentag Ihren verstorbenen Vater zitiert mit den Worten „Man kann niemals tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Das schien Sie sehr bewegt zu haben. Ist er ein Glaubensvorbild für Sie?

In meiner Familie wurde immer der Glaube gelebt. Es wurde vor dem Essen gebetet und wir gingen in den Gottesdienst. Ich bin groß geworden, wie das auf dem Dorf so ist: Man fährt als Kind mit dem Fahrrad durch die Gegend und alles, was damit erreichbar ist, nimmt man mit: Sportverein und Kirchenjugend gehören dazu. Ich hatte dort einen tollen Pfarrer, das war sehr prägend. Ich erinnere mich an Sternsingeraktionen, Ostereierfärben, eine gemeinsame Reise nach Kroatien, an Zugehörigkeitsgefühl und Glauben. Mein Leben hätte sicherlich einen anderen Weg genommen, wenn ich das nicht erlebt hätte. Kirche ist ein Stück Heimat, bis heute.

Sie sagten 2018 in einem Interview, das Sterben ihres Vaters habe Sie gelehrt, dass „Dein Wille geschehe“ nicht immer leicht zu sagen sei.

Es gibt im Leben immer wieder Situationen, in denen man mit Gott ringt. Wie kann Gott Leid zulassen? Ich versuche das in meinem eigenen Leben dialektisch zu sehen: Tiefen können die Grundlage für spätere Höhen sein. Ein gesundes Selbstbewusstsein entsteht nur dann, wenn es mit Selbstkritik einhergeht. Das Leben besteht aus Auf und Ab und es hat Grenzen. Wenn ich es schaffe, zu sagen „Dein Wille geschehe“, obwohl ich gerade etwas anderes will, dann zeigt sich doch oft mit etwas Abstand, dass dieses Vertrauen sich bewährt.

Haben Sie deshalb katholische Theologie studiert?

Ich wollte Religionslehrerin werden für das Gymnasium, auch weil ich selbst zwei richtig gute Lehrer in den Fächern Religion und Sozialkunde hatte. Wir haben im Religionsunterricht nicht einfach die Bibel gelesen, sondern es ging um Bioethik, Organspende, die Unversehrtheit des Körpers und vieles mehr. Das sind bis heute auch in der Politik wichtige Themen für mich: die Stammzelldiskussion, die Frage der Sterbehilfe, Palliativmedizin, Präimplantationsdiagnostik. Und über allem die Frage: Ist es gut, wenn ich all das tue, was die Wissenschaft ermöglicht? Wer ist die Autorität, an der ich mich orientiere? Weil mich Themen wie diese, politisch wie ethisch interessiert haben, wollte ich Politik und auch Religion studieren.

„Ich habe Messer und tote Ratten geschickt bekommen. Ein Reichsbürger war mal auf dem Weingut meines Bruders und hat meine Schwägerin bedroht. Aber ich sage Ihnen eines: Meinen Ärger bekommen diese Leute nicht.“

Sie haben sich am Ende für die Politik entschieden und nicht für die Religionspädagogik. Warum?

Erstmal habe ich mich für den Journalismus entschieden, habe ein Volontariat gemacht, war beim SWR und bei einem Verlag. Und dann kam Politik. Ich habe mich nicht gegen die Religion entschieden, sondern gegen die Arbeit als Lehrerin.

Dem „Stern“ sagten Sie jüngst, als Politikerin müsse man die Menschen lieben. Das klingt ja schon sehr biblisch. Geht das heute noch? Die Menschen lieben, die einen in der Öffentlichkeit ja auch hart angreifen?

Das hat mir mal ein ehemaliger Bundestagskandidat der CDU in meinem Wahlkreis mitgegeben, als ich erstmalig kandidierte. „Du musst die Menschen lieben.“ Ich fragte ihn damals: „Weniger geht nicht?“ Heute verstehe ich, was er meinte. Es geht um eine Grundhaltung, mit der man Menschen begegnet: offen – oder unterstelle ich gleich etwas Negatives? Gehe ich sofort in eine Abwehrhaltung oder frage ich erst einmal, woher jemand kommt? Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Darum geht es.

Der einstige rheinland-pfälzische SPD-Landesvorsitzende Roger Lewentz hat Sie mal als „Shitstorm auf Pumps“ bezeichnet. Jüngst berichteten Sie von Drohungen mit dem Wortlaut: „Das mit Walter Lübcke kriegen wir auch auf deiner Terrasse hin“, als Sie noch Landwirtschaftsministerin waren. Wie kann man da dem Gegenüber offen begegnen?

Ich habe viel erlebt. Ich habe Messer und tote Ratten geschickt bekommen. Ein Reichsbürger war mal auf dem Weingut meines Bruders und hat meine Schwägerin bedroht. Aber ich sage Ihnen eines: Meinen Ärger bekommen diese Leute nicht. Sie werden es nicht schaffen, meine Grundhaltung zu verändern. Sie sind nicht die Mehrheit.  

Frau Klöckner, wir danken für das Gespräch!

Von: Martin Schlorke/Anna Lutz

Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 4/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Abonnieren Sie PRO kostenlos hier.

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