„Erschreckende Preisgabe der christlichen Substanz“

Vor etwas mehr als 100 Jahren, am 1. August 1914, trat das Deutsche Kaiserreich mit der Kriegserklärung an Russland in den Ersten Weltkrieg ein. In einer Serie beleuchtet pro, wie sich Kirchen, christliche Organisationen und Personen im Weltkrieg verhalten haben.
Von PRO
Kirchenhistoriker Martin Greschat bei einem  Vortrag auf dem „Studientag Erster Weltkrieg“ an der Evangelischen Akademie Frankfurt
Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ riss Millionen Menschen in Tod und Elend. In den Kirchen der kriegführenden Staaten Europas, die geprägt waren durch den Nationalismus, und auch in den Vereinigten Staaten herrschte die Überzeugung vor, einen gerechten Verteidigungskrieg zu führen. Der Kichenhistoriker Martin Greschat hat mit dem Buch „Der Erste Weltkrieg und die Christenheit“ eine Gesamtschau der offiziellen und offiziösen Verlautbarungen der christlich-kirchlichen Repräsentanten vorgelegt. pro hat mit dem renommierten Kirchenhistoriker gesprochen.

pro: Herr Greschat, wie kam es dazu, dass der Nationalismus in den Kirchen Europas so stark war?

Greschat: Wenn man den Gesichtspunkt der Gemeinschaft, des Eintretens füreinander, das Hinwegsehen über Klassenschranken und insofern Gemeinschaft untereinander als ein wesentliches Element des Christentums ansieht, dann kann man sich durchaus vorstellen, dass es einen christlich geprägten Nationalismus gibt. Und der hat für die damaligen Menschen keineswegs Verlust oder Verleugnung der christlichen Botschaft bedeutet.

Das ist alles?

In der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es immer viele verschiedene Gründe. Der Nationalismus war insgesamt im ausgehenden 19. Jahrhundert in Europa stark. Er wurde es auch auf anderen Kontinenten, weil er eine Integrationsgröße bildete. Im Nationalismus konnten sich die unterschiedlichsten Vorstellungen, Sehnsüchte und Erwartungen einbringen.Sei es kulturell, sei es religiös oder sei es sozial. Unter dem Deckmantel oder dem Gesichtspunkt des Nationalen konnte das geschehen, was man überall ersehnte: einen Zusammenschluss der zutiefst gespaltenen Nationen, der zutiefst gespaltenen Gesellschaften in den einzelnen Völkern. Die Industrialisierung hatte in Europa zur sozialen Frage geführt. In Deutschland beispielsweise zu den Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten, Linkssozialisten und Konservativen. Wenn man nun die Chance hatte zu betonen: Wir sind doch alle Briten, wir sind doch alle Deutsche, oder Franzosen -– dann konnte man diese unterschiedlichen Motive zusammenschließen. Wenn dazu noch eine Bedrohung von außen kam, und alle hatten das Gefühl, „wir sind bedroht, wir werden angegriffen, wir müssen uns verteidigen“, dann konnte der Nationalismus eine solche dominierende Funktion gewinnen.

Gab es nicht so etwas wie ein kollektives schlechtes Gewissen?

Ein Verteidigungskrieg war nach allgemeiner christlicher Überzeugung ein gerechter Krieg. Überall strömten die Menschen in die Kirchen, ebenso in zusätzliche Versammlungen, Abendgottesdienste und Gebetsstunden. Viele Pfarrer sahen sich wieder gebraucht, fanden das großartig. Für die Menschen damals, für viele Pfarrer und Theologen, war es eben der Gesichtspunkt: Jetzt in der Zeit der Not müssen wir alle zusammenstehen, und dann wurde eben etwas gesprochen von christlicher Bruderliebe, Christentum der Liebe, von dem Verzicht auf eigene Durchsetzung und von Unterordnung unter die Obrigkeit. Alle diese Werte waren eben auch christlich besetzt.

Vermochte man nicht etwa nach Kriegsausbruch, wenigstens gegen die Fortsetzung des Massensterbens anzupredigen?

Nein, Sie können vielleicht etwas gegen den Krieg tun, bevor er ausgebrochen ist. Wenn er aber ausgebrochen ist, sind Sie in dem allgemeinen Strom und Duktus nicht mehr in der Lage, gegen diese Stimmung anzusteuern. Dann sind diejenigen, die das tun, sofort im Verdacht, dass sie auf der Seite der Gegner stehen. Sei es als Spione, sei es als geheime oder offene Mitarbeiter, sei es in irgendeiner anderen Weise. Es gab in England beispielsweise eine ziemlich starke Friedensbewegung. Diese englische Friedensbewegung ist im Jahr 1914 schon ganz stark geschrumpft. Und diejenigen, die bei ihrer Überzeugung geblieben sind, wurden von den Briten entweder ins Gefängnis gesteckt oder kamen in Arbeitslager. Jedenfalls wurden sie in der Bevölkerung zutiefst verachtet, weil sie sich weigerten, das Vaterland zu verteidigen, nur wegen irgendwelcher Ideologien und Vorstellungen. Wirksam, das muss man leider sagen, sind alle diese Gruppierungen nicht gewesen.

Bis 1914 hat es über Ländergrenzen hinweg Kontakte zwischen Kirchen und christlichen Organistationen gegeben. Beispielsweise noch im Juni 1914 waren 164 Vertreter aus Deutschland zu Gast bei einem internationalen Kongress der Heilsarmee in London. Konnten sich Christen nicht auch jenseits des Offiziellen miteinander verständigen?

Es gab vor dem Krieg intensive internationale Kontakte, auch auf der Ebene der Wissenschaft. Der Wissenschaftler und Theologe Adolf von Harnack beispielsweise hatte hevorragende Kontakte ins Ausland. Er war entsetzt darüber, dass die Franzosen, die Engländer, dann später die Amerikaner, diese Kontakte abgebrochen hatten. Harnack begriff nicht, dass seine Unterschrift unter das Manifest der 93

den preußischen Militarismus verteidigte und die deutsche Kultur. Das führte dazu, dass man im Ausland sagte: „Unser Lehrer, Adolf von Harnack, ist ja von einem völlig falschen Geist befallen.“ Harnack sagte: „Die anderen sind ja von einem völlig falschen Geist befallen, warum hören sie nicht, was ich sage? Warum verstehen sie mich nicht?“ Wenn ein Krieg angefangen hat, dann ist es wahnsinnig schwer, als Einzelner dagegen anzugehen. Man kann nicht hoffen, dass eine kleine Minderheit dann noch politische Erfolge erzielt.

Haben die christlichen Kirchen im Ersten Weltkrieg versagt?

Aufs Ganze gesehen muss man eine erschreckende Preisgabe der christlichen Substanz in den Voten der europäischen Kirchen während des Ersten Weltkrieges konstatieren. Mit der jeweiligen Inanspruchnahme Gottes für die Politik des eigenen Landes haben die Kirchen nicht unerheblich zur Radikalisierung des Krieges beigetragen. Bis hin zum Wunsch der Vernichtung des Gegners. Dieser Drang nach Vernichtung und Zerstörung entwickelte eine eigene Dynamik, die weiter ausgriff, als mancher Redner und Prediger sich vorgestellt haben mochte. Angefangen bei den Exzessen deutscher Soldaten im August 1914 in Belgien und Nordfrankreich, bis hin zu den Brutalitäten im Osten und Westen, den Massakern der Schlachtfelder und an der Zivilbevölkerung, belegte jeder Tag, wie wenig das Leben eines Menschen zählte und wie wenig das Christentum und die Kirchen dagegen ausrichteten. Sie wurden überall und in allen Konfessionen in diesen Strudel hineingerissen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Norbert Schäfer.Literatur: Greschat, Martin: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit : ein globaler Überblick, 2013, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 164 Seiten, ISBN 978-3-17-022653-1 Hintergrund: Einen Monat nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers und seiner Frau am 28. Juni 1914 in Sarajewo durch serbische Terroristen erklärte die habsburgische Monarchie mit der Zusicherung der Rückendeckung durch das Deutsche Kaiserreich am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg. Der österreichischen Kriegserklärung folgte die Generalmobilmachung im russischen Zarenreich. Durch die Mobilmachung der russischen Armee sah sich das Deutsche Kaiserreich nunmehr bedroht und erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg. Am 3. August folgte die Kriegserklärung des Deutschen Reiches gegen Frankreich, das seinerseits Russland Unterstützung zugesichert hatte. Noch am 3. August marschierten daraufhin deutsche Truppen im neutralen Belgien ein, um gemäß des sogenannten Schlieffen-Plans die französischen Verteidigungslinien zu umgehen. Der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien führte zur Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich. Weitere Kriegserklärungen europäischer Staaten, der Krieg der europäischen Nationen auch in deren Kolonien und der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika am 6. April 1917 mündeten in der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie einige Historiker den Ersten Weltkrieg bezeichnen.
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